Project Gutenberg's Ueber Goethes Hermann und Dorothea, by Victor Hehn This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Ueber Goethes Hermann und Dorothea Author: Victor Hehn Commentator: Albert Leitzmann Theodor Schiemann Release Date: May 7, 2007 [EBook #21349] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UEBER GOETHES HERMANN UND DOROTHEA *** Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was produced from scanned images of public domain material from the Google Print project.) Ueber Goethes Hermann und Dorothea. Von _Viktor Hehn._ Aus dessen Nachlaß herausgegeben von Albert Leitzmann und Theodor Schiemann. Stuttgart 1893. _Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung_ Nachfolger. Alle Rechte vorbehalten. Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart. Vorwort. Viktor Hehns litterarische Thätigkeit ist durch seine ungerechte Verbannung nach Tula im Jahre 1851 gewaltsam durchbrochen worden. Er hatte bis dahin unermüdlich gesammelt, und mit wahrhaft bewunderungswürdigem Fleiß nicht nur die lange Reihe seiner Reisetagebücher zu stilistischer Vollendung ausgearbeitet, sondern auch in seinen Kollegienheften eine deutsche Litteraturgeschichte entworfen, die überall auf eigene Studien gegründet, die klassische Periode unsrer Litteratur, speziell Schiller und Goethe, soweit es der damalige Stand der Wissenschaft erlaubte, erschöpfend behandelte. Schon damals war ihm Goethe der Meister, zu dem er aufschaute und die später in seinen Gedanken über Goethe niedergelegten Anschauungen und Urteile lassen sich im Keim bereits in jenen für seine Schüler an der Universität bestimmten Vorlesungen wiederfinden. Nur daß sie in Zweck und Anlage eine andre Behandlung des Problems verlangten und teils zu ausführlichen Kommentaren einzelner Werke, und bestimmter zu einem Ganzen zusammengefaßter Dichtungen sich gestalteten, teils einen biographischen Charakter trugen. Daß Hehn in den vier Jahren seiner Dorpater Dozentenzeit neben seinen weitgreifenden linguistischen Studien, die damals auch die esthnische Sprache umfaßten, die Zeit fand, den ungeheuren Stoff nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch zu bewältigen, wird nur verständlich, wenn man weiß, daß er von jeher das litterarhistorische Gebiet mit besonderer Liebe gepflegt hat, und in seinen sorgfältig bewahrten Kollektaneen, die bis in den Anfang der dreißiger Jahre zurückreichten, Vorarbeiten besaß, die ihm nunmehr sehr zu statten kamen. Es kann als sicher angenommen werden, daß Hehn einzelne Abschnitte seiner Vorlesungen zu selbständigen Darstellungen zu erweitern gedachte. Ausgeführt hat er den Plan nur mit Hermann und Dorothea. Das Manuskript war fertiggestellt, auch die Vorrede bereits geschrieben, als seine Verhaftung erfolgte. Sämtliche Papiere Hehns wurden mit Beschlag belegt und nach Petersburg gebracht. Auch nach der »Begnadigung« im Mai 1855 wurden sie ihm nicht wiedererstattet, das geschah erst viel später. Hehn schreibt darüber im Dezember 1874 seinem älteren Bruder: »(Meine Papiere) werden endlich geordnet werden müssen, nachdem sie vor 23 Jahren in den Händen der heiligen Hermandad gewesen sind -- die sich in ihrer Liebenswürdigkeit die besten Stücke ausgewählt und zum Andenken behalten hat. Bisher war ich zu weichlich, daran zu rühren; nur daß von meinen Dorpater Kollegienheften einzelne Bogen, wahrscheinlich besonders anstößige, fehlen, habe ich konstatiert und mich giftig geärgert.« Zu einer vollständigen Ordnung der Papiere ist es nun überhaupt nicht gekommen. Es scheint, daß Hehn jenes von ihm als »weichlich« bezeichnete Gefühl, nicht überwinden konnte. Nur mit den Tagebüchern und den Heften seiner Lesefrüchte machte er eine Ausnahme. Die wurden fleißig durchackert, und es läßt sich noch heute an dem Unterschiede der Handschrift verfolgen, wo er für nötig hielt, Korrekturen anzubringen, oder etwa durch ein Fragezeichen seiner inzwischen anders gewordenen Ueberzeugung Ausdruck zu geben. »Hermann und Dorothea« gehört zu den nicht berührten Manuskripten und ist leider in der »dritten Abteilung« (so hieß die Geheimpolizei in Petersburg) ebenfalls beraubt worden. Glücklicherweise gestatten die zum Teil erhaltenen Konzepte des Buches die Lücken mit annähernder Sicherheit in Hehns Geiste zu schließen. Hehn war 37 Jahre alt, als er das Manuskript über Hermann und Dorothea fertigstellte. So wesentlich sich auch nachher sein politisches Urteil modifizierte und sein Wissen bereicherte, sein ästhetisches Urteil war um jene Zeit bereits dasselbe wie in späteren Jahren. Wo er, wie in den »Gedanken über Goethe« über das Goethesche Epos redet, finden wir keinen Widerspruch zu seinen mehr als ein Menschenalter früher formulierten Ausführungen. Es bietet dem Freunde Hehnscher Gedankenarbeit aber einen besonderen Reiz, zu verfolgen, wie in diesen Werken des kräftigsten Mannesalters eine Wärme der Empfindung überwiegt, die später oft durch eine kühle Ironie in Beurteilung von Menschen und Verhältnissen zurückgedrängt wurde. Findet das Hehnsche Buch die Beachtung und Anerkennung, die wir ihm wünschen, so soll es der Vorläufer anderer sein. Theodor Schiemann. Inhalt. Seite Einleitung 1-4 Hermann und Dorothea 5-26 Wahl des Stoffes. Warum kein politischer 26-51 Stoffquelle, Entstehung und Aufnahme 52-60 Ort und Zeit 60-65 Gang der Fabel 65-85 Charaktere 86-100 Sitten und Lebenssphäre 100-114 Diktion 114-129 Vers 129-139 Andre deutsche Epen (Luise von Voß, Messias von Klopstock) zur Vergleichung 139-146 Anmerkungen 147-164 Einleitung 148-150 Hermann und Dorothea 150-156 Wahl des Stoffes. Warum kein politischer 156-158 Stoffquelle, Entstehung und Aufnahme 158-159 Ort und Zeit 159 Gang der Fabel 159 Charaktere 160 Sitten und Lebenssphäre 160-161 Diktion 161-162 Vers 162-163 Andre deutsche Epen (Luise von Voß, Messias von Klopstock) zur Vergleichung 163-164 Einleitung. Wieder über Goethe! ruft vielleicht mancher und wirft das Buch ungeduldig beiseite. Aber was haben wir denn sonst noch Großes, was besitzen wir bis jetzt noch andres, nicht im Traum, sondern wahrhaft, als Goethe? Wie die Franzosen sich das Bild der Revolution, ihres Heroenzeitalters, in immer neuer Beleuchtung vorführen, so füllen wir Bibliotheken über die Literatur und vornehmlich über deren größte Gestalt, den einzigen wirklichen Dichter, der uns zu teil geworden. Jch bringe meinen Beitrag zu den vielen andern. Der fromme Beter, aus dem Tempel tretend, pflanzt dankbar auch sein Bäumchen, so daß im Lauf der Jahre ein immer herrlicherer Hain das Heiligtum umrauscht. Noch ist die Arbeit, Goethe in das Bewußtsein der Nation einzuführen, lange nicht vollendet. Wer die herrschende Bildung beobachtet hat, muß gestehen, daß die große Mehrzahl gar nicht ahnt, wieviel sie an Goethe besitzt. Seine Dichtungen sind berühmt und von allen gekannt, genossen und empfunden sind sie nur von wenigen. Sinn für Poesie ist überhaupt nicht weiter verbreitet als Talent z. B. für Mathematik. Die meisten haften an dem falschen Golde rhetorischen Schmuckes, werden kindisch gelockt von den Flittern der Diktion und, wenn es sich um Gestalten handelt, nur durch abstrakte Idealität berührt und fortgerissen. Selbst unter denen, die als Goethes Ausleger aufgetreten sind, haben sich nicht alle durch das Entzücken des poetischen Genusses und das Streben, auch andre daran teilnehmen zu lassen, zu ihrem Amte berufen geglaubt, sondern wurden vielmehr durch schulphilosophische Bedürfnisse, religiöse, politische, soziale Standpunkte, also mehr durch ein scholastisches und praktisches Interesse dazu geführt. Sie suchten an jenen Dichtungen die Gelegenheit, sie drängten sich den Inhalt schon mitbringend an sie heran, statt in unbefangener Hingabe die schöne Menschlichkeit und reine Darstellung auf sich wirken zu lassen und der Empfindung andrer näher zu bringen. So ist in den zahlreichen Schriften über Faust zwar jedes Wort, das in des Helden Monologen, in den Gesprächen mit Mephistopheles und Wagner ausgesprochen wird, zu einem heiligen Text geworden, zu dem die Noten und Exkurse sich häuften und welcher zu aller Art von Schriften und Verhandlungen Sprüche liefert, aber die wundervollen Szenen zwischen Faust und Gretchen, die Blüte des Werkes, wo die volle dichterische Schöpfungsmacht das ergreifendste individuelle Bild von Lieb und Leid des Menschenlebens vor uns hinwirft, bilden weiße Seiten, bei denen die geschäftige Interpretation schweigt. Wenn es Rötscher über sich vermag, bei Gretchens Gestalt und über sie hinweg an Unschuld, Fall und Erlösung des Menschengeschlechts, die durch sie dargestellt werden, zu denken, so müssen wir an seinem poetischen Sinne ebenso sehr zweifeln, als wenn Viehoff in seinem neusten Kommentar zu Goethes Gedichten die Schönheit derselben in Zäsur und Alliteration, iambischem und trochäischem Rhythmus, in das Vorherrschen dieses und jenes Vokals u. s. w. setzt. So findet Karl Grün die volle Bedeutung des Goetheschen Geistes in Wilhelm Meisters Wanderjahren, im zweiten Teil des Faust u. s. w., während z. B. Hermann und Dorothea von ihm kaum berührt wird. Auch ihm also liegt die soziale Wahrheit näher am Herzen als die poetische Kunst: er kann gleichgültig vorübergehen, wo die letztere unwiderstehlich fesselt; er kann liebevoll verweilen, wo sie erloschen ist. Sind so die Ausleger nicht immer das Organ reiner Freude an der Gegenwart der Poesie geworden, so findet man unter der großen Menge der Leser und Urteiler überwundene Meinungen und längst verlassene Standpunkte noch so sehr in vollem Bestand, daß es fortwährend not thut, die in engerem Kreise gewonnene ästhetische Einsicht von neuem vorzutragen. Der moralisch-didaktische Gesichtspunkt einem Dichterwerk gegenüber, die religiösen Abstraktionen, der Dualismus zwischen Sinnlichem und Uebersinnlichem, Leib und Seele, Irdischem und Himmlischem, der alle Kunst bis zur Wurzel zerstört, die Flucht aus der vollen Wirklichkeit der Natur und des Lebens, das Unvermögen, in der ersteren den innerlich bildenden Geist, in den Gestalten des letzteren die sie hervortreibende und beseelende Sittlichkeit zu empfinden -- dies alles ist in der großen Masse der Gebildeten noch so wenig erschüttert, daß es noch vieler und wiederholter Anwendung der Wahrheit auf einzelne Punkte bedarf, ehe sie sich des Sieges wird rühmen dürfen. Unter den Goetheschen Dichtungen hat übrigens Hermann und Dorothea verhältnismäßig nur wenig von sich reden gemacht. Voll klarer Einsicht in das Wesen des homerischen Epos ist die gleich nach Erscheinen des Goetheschen Werkes verfaßte Rezension von August Wilhelm Schlegel. Geistvolle Bemerkungen enthält ein Aufsatz über Hermann und Dorothea von Yxem, den wir, wie billig, für unsre Darstellung benutzt haben. Nur geringe Belehrung haben wir in Wilhelm von Humboldts Schrift über Hermann und Dorothea gefunden, die schon im Jahre 1799 als erster und einziger Teil der ästhetischen Versuche erschien. Die Darstellung hält sich in blut- und markloser Abstraktion, von deren Höhe das lebendige poetische Individuum ganz aus dem Gesicht verschwindet, und löst man den jedesmaligen Gedanken aus der gezwungenen Eleganz und eisigen Vornehmheit des Ausdrucks, so findet man ihn gewöhnlicher, als es den Anschein hatte. Wenn Schiller daher nach Lektüre der ihm übersandten Schrift von der kunstphilosophischen Theorie überhaupt nichts mehr wissen wollte, so wird diese Stelle seines Briefes zwar gewöhnlich als Geständnis der Umkehr, in der er sich vom Denker zum schaffenden Dichter gerade befand, gefaßt; vieles aber an jener Stimmung kommt gewiß auf Rechnung des gerade sehr unfruchtbaren Buches, aus dessen Veranlassung er sich äußert. Auch Goethe wandte sich bald von der Lektüre desselben unwillig ab, angeblich weil ihn der Tadel eines in dem Gedicht vorkommenden Motivs verdroß. Auch uns hat die ganze umfangreiche Abhandlung geringere Ausbeute geliefert als die wenigen Seiten, die der vortreffliche Hillebrand dem Gedichte widmet. Gervinus erwähnt dasselbe nur vorübergehend, weniger, wie wir glauben, aus Gründen seines Prinzips historischer Genesis, dem er selbst häufig genug untreu wird, als wegen der seiner Darstellung überhaupt zu Grunde liegenden Kälte gegen den Dichter des Humanismus. Hermann und Dorothea. Von allen Dichtungen Goethes ist keine, wenn wir den Werther ausnehmen, gleich anfangs von der Nation mit so allgemeinem Beifall aufgenommen worden, als Hermann und Dorothea. Der Faust, der jetzt vielleicht unter den Goetheschen Werken das populärste ist, auch im Auslande, gewann sein Ansehen erst allmählich und wohl erst in der späteren Gestalt, in der er zur Zeit der romantischen Schule im Jahre 1808 neuvermehrt in zweiter Auflage erschien. Hermann und Dorothea war dem Stoffe nach so deutsch und so menschlich ansprechend und zugleich eine so durchsichtige und vollendete Kunstgestalt, daß das Gedicht sowohl die Menge, die nur nach dem Stoffe urteilt, als den gebildeten Kunstsinn, dem nur die Form, die künstlerische Behandlung gilt, zur Bewunderung hinriß. Schiller erklärte, nachdem er Hermann und Dorothea gelesen, dies Gedicht für den Gipfel der Goetheschen, ja aller modernen Kunst. Wilhelm von Humboldt knüpfte in einem eigenen Buche, das bald nach Hermann und Dorothea unter dem Titel »Aesthetische Versuche« erschien, an dies Gedicht eine ausführliche Erörterung allgemeiner ästhetischer Prinzipien. Auch August Wilhelm Schlegel nannte in einer eigenen Beurteilung Hermann und Dorothea ein vollendetes Kunstwerk im großen Stil, ein Buch voll goldner Lehren der Weisheit und Tugend. Mit gleicher Bewunderung äußern sich neuere Kritiker. Hermann und Dorothea, sagt Hillebrand, der ganz kürzlich eine vortreffliche Geschichte der deutschen Nationalliteratur von Lessing bis auf die Gegenwart verfaßt hat, Hermann und Dorothea ist ein Bibelwerk deutscher Religion und Tugend. Und Gervinus meint, wenn jetzt ein alter Grieche wieder auferstünde, so wäre in der ganzen neueren Literatur Hermann und Dorothea das einzige Gedicht, das wir ihm ohne Verlegenheit anbieten dürften. Auch Rosenkranz hält wie Humboldt und Gervinus Hermann und Dorothea in künstlerischer Hinsicht für das vollendetste von Goethes Werken. Goethe selbst hatte eine besondere Vorliebe für dasselbe: er konnte es, wie er in den Tag- und Jahresheften erzählt, nie ohne Thränen der Rührung vorlesen. Ein ähnliches Urteil spricht unser eigenes Gefühl: wir haben alle das Gedicht, das uns hier beschäftigen soll, gelesen und genossen. Dennoch aber erhöht diesen Genuß Mitteilung und klares Bewußtsein seiner Quellen; die Wirkung, die ein schönes Gedicht auf uns macht, strebt von selbst nach einem angemessenen Ausdruck, und da ein wahrhaftes Kunstwerk, wie Hermann und Dorothea, immer halb unbewußt von dem künstlerischen Genius geschaffen ist, gleichsam eine Unendlichkeit von Absichten in sich birgt, so ist es zwar schwer, ein so beseeltes und ganz individuelles Gebilde treffend zu charakterisieren, gleichsam die Fäden seiner Textur aufzuwinden und den Eindruck, den es macht, kritisch in die einzelnen wirkenden Motive zu zerlegen; dennoch aber bietet es gerade durch seinen Reichtum der Auslegung und Betrachtung die verschiedensten Seiten dar und gibt der Aesthetik fruchtbare Gelegenheit, ihre allgemeinen Prinzipien daran zu messen. Hermann und Dorothea ist ein Epos oder, wie Jean Paul es noch näher bezeichnet, ein episches Idyll. Wir werden also, um dem Gedicht seine Stelle, gleichsam seine substanzielle Heimat anzuweisen, im folgenden uns ausführlich daran erinnern müssen, welches das Wesen und die Gesetze der epischen Dichtung überhaupt sind; wir werden dann zu Goethe zurückkehren und finden, daß er durch eine einzige Gunst der Natur ganz zum epischen Dichter geboren war und daß das Wesen seiner Dichtung mit dem Wesen der epischen Dichtung auf das glücklichste zusammenfällt. Wir werden darauf zusehen, ob die Zeit und Nation, in welche der Dichter fiel, dem Epos günstig war oder nicht, welches sein Verhältnis zu den großen politischen Begebenheiten von damals und zu der ihn umgebenden nationalen Welt war, ob es leicht war hier einen epischen Stoff zu finden und ob der Dichter eine glückliche Wahl dabei getroffen. Wir werden dann weiter die Begebenheit selbst, die der Dichter uns erzählend vorführt, die Personen und Charaktere, die er in Handlung setzt, sowie die ganze Art der Darstellung und Behandlung näher ins Auge fassen. Auch die Diktion, der sprachliche Ausdruck, der Versbau gehört zur Charakteristik des Gedichts, sowie zum Schluß die Begleichung mit den beiden epischen Vorgängern unsres Gedichts in der deutschen Literatur, ich meine mit Klopstocks Messias und Voßens Luise dazu dienen wird, die Eigentümlichkeit und den Wert unsres Gedichts ins Licht zu setzen. Dies also der Faden, an dem unsre Betrachtung fortlaufen wird. Die inneren Gesetze der epischen Poesie werden wir nirgends sicherer erkennen und in reinerer Gestalt wiederfinden können, als bei dem Vater aller epischen Poesie, dem alten Homer. Das glückliche Volk der Griechen war ja so künstlerisch und poetisch organisiert, daß bei ihnen die einzelnen Gattungen der poetischen Idee sich in naturgemäßer Stufenfolge eine aus der andern entwickeln und sich selbst ihre notwendige Form erschufen, so daß die inneren Momente des Begriffs nirgends so rein mit der Wirklichkeit, die Poetik mit der Geschichte der Poesie zusammenfällt. Goethe selbst hatte, indem er Hermann und Dorothea dichtete, den Homer als Vorbild vor Augen und so ruft er eben mit Bezug auf seinen Hermann: Denn Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön. Wir werden also, indem wir die Grundzüge der epischen Poesie entwerfen, dies immer im Hinblick auf Homer thun. Epos, Wort, Sage ist die Poesie im Kindheitsalter der Völker, in den Anfängen der Geschichte. Die epische Poesie blüht in jener Morgendämmerung, wo ein Volk schon aus der Wildheit und Stumpfheit des ersten Naturdaseins zum Geiste erwacht ist, wo aber die geistigen und sittlichen Mächte noch nicht als etwas Bewußtes, klar Erkanntes und als eine abgesonderte feste Gewalt dem Menschen gegenüberstehen, sondern dieser auf ganz naive Weise mit dem sittlichen Gebot noch eins ist. Es gibt in dieser Periode zwar schon ein Staatsleben, aber noch nicht in Form bestimmter Gesetze und fester Rechte, die die Freiheit des Einzelnen zügeln. Jeder trägt vielmehr die politische Sitte in seiner eignen Brust und, indem er ihr folgt, weiß er nicht, daß es anders sein könnte. Gesetz und Empfindung sind noch nicht geschieden und die Empfindung ist es eben, die den politischen Zustand geschaffen hat. So ist Agamemnon zwar König, aber diese Herrschaft beruht auf keinem geschriebenen Gesetze. Wenn er den besten Anteil von der Beute erhält, so versteht sich dies bei jedem von selbst. An welchem Punkte seine Macht aufhört und die der Aristokratie, der Geronten und Basileis beginnt und die letztere wieder durch die Volksversammlung beschränkt wird, dies ist nicht durch feste Satzung bestimmt, sondern durch das Allgemeingefühl der Einzelnen von selbst gegeben. Eine durch Reflexion bestimmte, durch Beratung zu stande gebrachte geschriebene promulgierte Verfassung gibt es nicht; die politische Ordnung hat keinen andern Boden als die unbefangene Gesinnung aller. Ebenso ist auch das Recht und die Rechtspflege nicht eine für sich bestehende Welt; die Bestimmungen derselben sind schwankend; es hat keine andre bindende Form, als die ihm durch das unmittelbare Volksleben, durch das Rechtsgefühl und den Billigkeitssinn gegeben wird. Hat einer z. B. einen Mord begangen, was bei dem frischen Dasein der homerischen Menschen nichts Seltenes ist, so sucht er die Familie des Getöteten durch eine Buße zu versöhnen oder er verläßt fliehend die Heimat: eins oder das andre macht ihm die Sitte zur Pflicht. Streiten zwei um ein Gewicht Goldes, so bildet das Volk im Freien einen Kreis, die Greise als Richter sitzen auf erhöhten steinernen Stufen, das Szepter als Zeichen richterlichen Ansehens und erfahrener Weisheit in der Hand: hin und her wird gestritten, das Volk fällt von beiden Seiten schreiend ein, die Herolde gebieten Ruhe; endlich geben die Greise nach eigenem Sinne und unmittelbarem Wahrheitsgefühl die Entscheidung. So ist auch das Kriegswesen der homerischen Zeit ohne äußerlich zwingende Norm und gestaltet sich aus dem Grunde des in allen Teilnehmern lebenden kriegerischen Sinnes. Keine Disziplin braucht wie in späteren Zeiten die widerstrebende Willkür der Individuen zu zügeln; wenn sich die Reihen fest zusammenschließen, wenn ein Kämpfer dem andern hilft, wenn um den Leichnam des Gefallenen die Ueberlebenden rettend und schirmend sich scharen, so geschieht dies nicht nach Befehl, sondern durch eine innere Nötigung, die jeden von selbst drängt. So handelt in diesem epischen Zeitalter das Individuum ganz naiv und unbewußt nach dem Zuge seiner Menschlichkeit; es ist von dem Volksgeist in allem, was es thut und fühlt, bestimmt und in den allgemeinen Mächten, die das Leben und die Sitte bilden, völlig enthalten. Es sind mit einem Worte objektive, substanzielle Menschen. So wie nun in einer späteren Periode der Geschichte die Trennung des Subjekts von der Substanz vor sich geht, treten wir aus der spezifisch epischen Welt heraus. Das Gemüt und die Gesinnung des Einzelnen sind nicht mehr im Einklang mit dem Geltenden: was früher bei seinem Thun eine innere Notwendigkeit war, das steht ihm jetzt gegenüber als ein moralisches Gebot; es gibt feste Rechte und Gesetze, die sich dem Gefühl des Einzelnen als Schranke entgegensetzen; der Staat tritt auf als eine bestimmte Verfassung mit besondern Satzungen, geschaffen durch Gesetzgeber; letzterer freilich faßt auch nur die geltende nationale Empfindung in Sätze und Formeln, dennoch ist schon diese Form des geschriebenen Gesetzes die erste Stufe der Reflexion; das poetische Gesamtleben der episch-heroischen Zeit wird zu einer prosaischen Ordnung der Dinge. Wird nun das in sich gebrochene Gemüt, das aufgehört hat ein totales zu sein, in sich selbst zurückgetrieben, um dort in subjektiven Empfindungen und Betrachtungen zu weilen, so gibt diese Beschäftigung des Subjekts mit sich selbst der lyrischen Poesie Entstehung; drängt es umgekehrt den Zwiespalt mit der bestehenden Welt nach außen und sucht praktisch und handelnd sein Inneres in der objektiven Welt geltend zu machen, so führt dieser Kampf individueller Zwecke und Charaktere mit den allgemeinen objektiven Mächten zur dramatischen Poesie. Wie aber in der Periode des Epos die Kräfte des Menschen überhaupt noch in Einheit sind, so ist auch sein sinnliches Dasein noch nicht von dem geistigen unterdrückt. Die homerischen Helden sind ganze volle, zugleich herrlich sinnliche und edel geistige Menschen, stehen im engen Verkehr mit der äußern Natur, und die physischen Bedürfnisse und deren Befriedigung gelten ihnen eben so sehr, als wir sie zu verhüllen streben. Essen und Trinken ist in ihrem Lebenslauf keine Nebensache, und die äußeren Verrichtungen, die dazu nötig sind, stehen nicht unter ihrer Würde. Der Held schlachtet selbst seinen Ochsen und zerlegt und reinigt ihn und brät das Fleisch; der Sessel, auf dem er sitzt, das Bett, in dem er schläft, die Matten, Segel und Ruderbänke des schnellen hohlen Schiffes, mit dem er übers Meer gekommen, sein Helm, sein Schild, sein Panzer und der Speer, mit dem er sich zur Schlacht wappnet, der Wagen, mit dem er über die troischen Gefilde eilt, die Zügel, die Pferde -- alles dies gehört wesentlich zum Kreise, in dem seine Persönlichkeit gegenwärtig ist. Und indem er in diese sinnlichen Beschäftigungen und physischen Bedürfnisse sein ganzes Ich hineinlegt, werden diese Verrichtungen selbst geadelt und gleichsam menschlicher. Für uns arbeiten Maschinen und Fabriken; wir beteiligen uns an den sinnlichen Geschäften nur halb, unser edleres Selbst ist nicht dabei zugegen; Diener thun es für uns hinter unserm Rücken; Handwerker verfertigen unser Gerät; die Speisen kommen uns künstlich bereitet schon zu und diejenige Klasse, die sich mit jenen Verrichtungen abgibt, hat dafür den geistigen Adel eingebüßt, den die homerischen Menschen bei all ihrem Thun bewahren. So macht es jetzt einen rührenden Eindruck auf uns, wenn Penelope, die Fürstin von Ithaka, und Helena, die Gattin des Königssohnes Paris, selbst ihr Gewand weben, daß Nausikaa selbst am Meeresufer mit ihren Mägden ihre Kleider wäscht und trocknet. Wenn von dem einen Helden gerühmt wird, daß die Beredsamkeit von seinen Lippen geflossen wie süßer Honig (ein sehr geistiges Lob), so preist der Dichter dafür andre wegen ihrer mächtigen Stimme, wegen der Schnelligkeit ihrer Füße und der Kraft, mit der sie große Steine aufheben und fortschleudern, also wegen sinnlicher Eigenschaften. Das Ansehen des Königs stützt sich auf die Gewalt des Heldenkörpers, durch die der Herrscher dem Volk überlegen ist. Der Kampf selbst ist ein körperlicher: Mann trifft auf Mann. Voll schöner symbolischer Gebräuche ist die Kriegführung, die Bestattung, der Opferdienst, öffentlich ist die Volksversammlung, sie bewegt sich in lauter sichtbaren und hörbaren Formen. So gilt das Recht der Sinnlichkeit unverkürzt und das Sittliche und Physische verschmelzen mit gleicher Macht zum Bilde einer totalen, in sich einigen und ungebrochenen Menschennatur. Auf diesem Boden also entsteht das Epos und damit ergeben sich alle Eigenschaften dieser poetischen Gattung von selbst. Wenn der Held abends von seinen Thaten ruht, wenn nach beendigtem Mahle das Verlangen nach Speise und Trank gestillt ist, dann tritt der Rhapsode auf und sein Lied ist eine ideale Reproduktion des Erlebten und Vollführten, Erzählung geschehener Thaten und Begebenheiten, Erinnerung an eine nähere und fernere Vergangenheit. Solche Gesänge tönen bei jedem Fest, unter jedem Dache, überhaupt wenn die Mußezeit eingetreten ist. Sie sind nicht willkürlichen und individuellen Inhalts; nicht der Einzelne hat sie mit diesem bestimmten Geiste gefüllt und in dieser bestimmten Form gestaltet; er ist ein Organ, gleichsam der Mund des Volkes, das lautwerdende Allgemeingefühl. Das Nibelungenlied, sagt Grimm, hat sich selbst gedichtet. So haben diese Rhapsodieen einen inneren Zug zusammenzufließen; zugleich bildet sich die anfangs schwankende Sage durch vielseitigen Austausch zu einer festen Gestalt. Das so entstehende epische Gedicht wird in einer Periode, wo überhaupt mehr die allgemeinen Lebensgesetze gelten als das Individuum, das ganze nationale Leben umfassend spiegeln; es wird ein Abbild der Thaten und Gesinnungen des Volkes überhaupt. Das Volk selbst dichtet das wahre Epos und spricht sich darin mit allen seinen Eigentümlichkeiten aus. Das epische Gedicht erzählt uns daher keine vereinzelte That, sondern die Bewegung, die Züge und Kämpfe nationaler Massen: in ihm herrscht nicht eine einzelne Empfindung oder Leidenschaft oder eine begrenzte Herzens- und Lebenssituation wie im lyrischen Gedicht oder im Drama, sondern es umschließt die volle Totalität einer Nation und einer Zeit. Dadurch nur wird auch das Epos zum Hauptbuche, zur allgemeinen Quelle der Erziehung und Bildung oder, wie Hegel treffend sagt, zur Bibel des Volkes. So blieb Homer für immer der heilige Lehrer der Griechen, dessen Aussprüche wie Entscheidungen eines Gottes galten, auf den sich jeder berief, der das Fundament wurde, auf welches sich die gesamte poetische, religiöse und sittliche Bildung der Griechen auferbaute. Homer schuf nach Herodot den Griechen ihre Götter, die Tragiker entnahmen ihm die Fabel ihrer Stücke, die Philosophen maßen ihre Ansichten an ihm; Grenzstreitigkeiten wurden nach seinen Aussprüchen geschlichtet; Lykurg legte ihn der altdorischen Ordnung, die er befestigte, zu Grunde; in Athen war Homer das Erziehungsbuch der Jugend. Eine ähnliche epische Bibel hat fast jede bedeutende Nation in einem gewissen Stadium ihrer Geschichte hervorgebracht: die Indier haben ihre großen Epen wie die Griechen ihren Homer; so erzeugten die Italiener gleichfalls am Anfangspunkt ihres nationalen Werdens ihren Dante, für dessen Erklärung sogar eigene Lehrstühle an den Universitäten errichtet wurden; so die Portugiesen ihren Camoens, der ebenfalls in einer Periode des Aufschwunges der portugiesischen Volksmacht lebte und diesen Aufschwung, nämlich die Entdeckungsfahrten nach Indien in seine Lusiaden aufnahm; und nicht anders wurde im deutschen Mittelalter Wolfram von Eschenbachs Parzival der treue und vollständige Spiegel des damals herrschenden mystischen Rittertums und wurde daher auch das am allgemeinsten verbreitete Buch, Genuß und Vorbild für alle. Manchen Bibeln fehlt die epische Form, z. B. dem alten Testament, wo auch niedergelegt ist, was das jüdische Volk an Sage und Geschichte, an Poesie und Nachdenken besaß, obgleich im Alten Testament das Religiöse zu sehr vorherrscht, als daß wir es für ein wirkliches Epos erklären könnten. Ebenso verhält es sich mit den religiösen Grundbüchern der Perser und Araber, dem Zendavesta und dem Koran. Eben aber weil das Epos auf diese Weise den ganzen geistigen Schatz eines Volkes in sich schließt, rührt es in seiner reinsten Gestalt auch nicht von einem einzelnen Dichter her, sondern ist aus Rhapsodieen, Volksgesängen, epischen Bruchstücken aller Art zusammengeflossen. Wie Homer sind auch die Nibelungen und Gudrun, auch das finnische Epos auf diese Weise entstanden. Hegel widersetzt sich zwar mit Nachdruck der Wolfschen Hypothese, wonach die Ilias und Odysse aus gesonderten Teilen erst später zusammengesetzt worden: aber er thut dies nicht aus Gründen historischer Kritik, sondern weil er mit Recht glaubte, die Einheit sei einem Gedicht unerläßlich und ein wahrhaftes Kunstwerk müsse ein geschlossenes Ganzes bilden. Allein die Einheit braucht deshalb nicht verloren zu gehen: es kommt durch die Gleichartigkeit des in der epischen Zeit alle Einzelnen beherrschenden Volksgeistes und seiner Sage in die getrennten Bruchstücke von selbst Einheit des Tones und lebendiger Zusammenhang; ferner ist ja das Epos in der Gestalt, wie es den späteren Geschlechtern überliefert wird, das Werk eines Ordners und Zusammensetzers (Diaskeuasten), der nach einem bestimmten Gedanken verfährt, welcher in den Bruchstücken selbst enthalten ist. So konnten die Ilias und Odyssee, obgleich sie nur eine Konkretion alter Heldengesänge und epischer Hymnen sind, dennoch den strengen Zusammenhang haben, dessen Fugen nur das geschärfte kritische Auge an manchen Stellen entdeckt. Umgekehrt fehlt es in manchen reflektierten späteren Epen, obgleich sie von einem Dichter herstammen, an der nötigen inneren Gleichartigkeit. Die Aeneis des Virgil z. B. besitzt die künstlerische Einheit nicht; die Geschichte von der Dido z. B. fällt aus dem epischen Ton heraus und ist eine ganz tragische Episode. Auch Klopstocks Messias ist, weil der Dichter ungefähr zwanzig Jahre daran arbeitete, sehr disparat in seinen einzelnen Teilen. Gerade wenn das Gedicht das unmittelbare Produkt des naiv dichtenden Volkes ist, wird es in sich zusammenstimmen, so lang es auch sei. Das echte Epos wird immer das Ansehen haben, als wenn das Volk selbst mit dunklem Triebe nach Selbstdarstellung es geschaffen: der Einzelne, der daran gearbeitet, verliert sich; das Nibelungenlied hat sich selbst gedichtet, es ist erwachsen. Daher sagt Jakob Grimm sehr wahr: es gibt gute und schlechte lyrische Gedichte, gute und schlechte Dramen, aber dem echten Epos steht nur ein falsches gegenüber. Dies ist der Mangel z. B. bei Virgil: er ist ein künstlicher gelehrter Dichter, der an die Wahrheit der Dinge, die er erzählt, selbst nicht glaubt; er ist in dem Bewußtsein der von ihm geschilderten Welt nicht befangen, schafft mit Absicht, ahmt nach und stutzt seine Rede mit rhetorischen Blumen auf. Nur in einer Hinsicht zeigt er sich als wahrhaft epischen Dichter: auch ihn nämlich durchdringt wie das ganze römische Volk das Bewußtsein der Herrlichkeit dieses Volkes, seine göttergleiche Größe, der Stolz und die Pracht der Weltherrschaft. An solchen Stellen ist auch er nur ein Ausdruck seines Volkes, die Begeisterung ist keine künstliche und die Worte strömen ihm zu, daher er auch fünf Jahrhunderte hindurch in allen Schulen bei den Römern der gefeierte Liebling blieb. Indem wir nun mit Recht das Epos für das poetische Totalbild eines Volkes und einer Zeit ansehen, ist dies nicht so zu verstehen, als solle das Gedicht ein ethnographisches Gemälde sein oder eine geordnete Schilderung der damals herrschenden Sitten, wie sie der Historiker unternimmt. Vielmehr fordert das Gesetz aller Poesie auch beim Epos, daß der allgemeine Geist sich zu einer bestimmten epischen Begebenheit zusammenziehe und sich individualisiere, und daß nicht das ganze Volk oder gar die Menschheit, sondern ein bestimmter Held Subjekt derselben sei. Das nationale Leben wird uns im Epos in einer einzelnen begrenzten That vorgeführt; es kommt durch eine bestimmte Situation, durch bestimmte Zwecke und Handlungen als ein konkretes Individualbild zur Anschauung. Einen Konflikt und eine Kollision verlangt auch das Epos, aber dieser Konflikt ist von dem dramatischen sehr verschieden. Im Drama stehen sittliche Mächte in Kollision; das Subjekt, das sich auf dem Punkte ihres Zusammenstoßes befindet, geht zu Grunde. Oder das Individuum macht sein individuelles Pathos, den inneren Drang seiner Leidenschaft der objektiven Ordnung der Dinge gegenüber geltend; es kreuzt mit seinen subjektiven Zwecken die des Schicksals und der sittlichen Notwendigkeit und macht untergehend die tragische Erfahrung seiner Endlichkeit. In der epischen Welt aber gibt es noch keinen so tiefen Zwiespalt; der Lauf des Schicksals tritt dem Streben des Einzelnen nicht entgegen, sondern hebt und fördert es. Die epische Kollision vernichtet daher den Frieden des Menschen nicht; ohne die harmonische Entfaltung des Volksganzen zu stören, bringt sie nur eine belebende Bewegung hervor. Eine passende epische Kollision ist daher der Krieg, in welchem die Nation ihre Kräfte übt und Wachstum und Entfaltung beschleunigt fühlt; nur darf der Krieg kein innerer, im Schoße des Volks selbst ausgebrochener sein, kein Dynastieenkampf wie bei Shakespeare, kein Bruderzwist um das Erbe des Thrones, denn dann stehen wir auf dem tiefen Boden der dramatischen Kollision. Auch Entdeckungszüge wie die der Portugiesen bei Camoens, eine Kreuzfahrt wie bei Tasso sind ein schöner epischer Stoff: auch dort türmen sich die Hindernisse, die Gefahren nur auf, um überwunden zu werden, und der Widerstand der Wirklichkeit dient nur dazu bei jedem Schritte sich dieser Wirklichkeit vollständiger und glücklicher zu bemächtigen. Auf diesem allgemeinen Boden epischer Kollision tritt nun die ganz individuelle epische Begebenheit auf, und in ihr bewegen sich die epischen Charaktere. Auch der Charakter des epischen Helden schwebt wie die Begebenheit in der Mitte zwischen der nationalen Basis und seiner individuellen Besonderheit. Er ist, was jeder sein kann, was jeder im Grunde ist: dies in ihm Waltende ist nichts andres als die allgemeine Lebensgrundlage, die alle trägt. Sein Streben ist kein Kampf, weder mit dem Schicksal noch mit der ihn umgebenden Volksnatur. Er will nicht die Welt umgestalten und etwas erst noch in seinen Gedanken Vorhandenes realisieren, sondern in der Realität selbst wirkend, folgt er dem Zuge der Dinge mehr in ein äußeres Geschehen verflochten als durch wirkliche That, die immer in dem Innern des Subjekts entspringend in der Welt der Objekte sich durchsetzt, die Natur nach Zwecken seiner Freiheit umformend. Im Epos ist daher kein verwickeltes psychologisches Getriebe, kein verstecktes Motiv; die Handlungen fließen aus dem Instinkt des Ganzen. Die erzählte Begebenheit strömt ruhig an uns vorüber; der äußere Vorgang, Umstände, Zufälle, Ereignisse, dasjenige, was dem Helden begegnet, nicht der Held selbst als eine innerlich von Absichten bewegte oder von streitenden Motiven aus dem Gleichgewicht gebrachte Persönlichkeit ist im Epos das Wesentliche. Danach lassen sich alle geschichtlichen Charaktere in epische und dramatische einteilen. Der epische Held ist nur eine Konzentration der Nation und der Zeit; was er will und fühlt, ist Wille und Gefühl aller. Er ist daher immer glücklich, er ist der Günstling des Geschickes und die Götter sind mit ihm. Die Macht der Umstände trägt ihn von Erfolg zu Erfolg, Hindernisse und Hemmungen weichen, sein eigenes Innere ist offen, harmonisch bewegt; keine individuelle Willkür reißt ihn los von der Lebensgemeinschaft mit allen übrigen, und, indem er ein umfassendes Werk mit Größe vollführt, ist diese Vollführung vielmehr das bewußtlose Werden der Dinge selbst. Bei den tragischen Charakteren, die der reine Gegensatz der epischen sind, ist die religiöse Harmonie zur Empörung geworden. In Zeitaltern vorgeschrittener Zivilisation isoliert sich der begabte weiter blickende Genius; er fühlt der stumpfen Masse gegenüber höhere Einsicht, überwiegende Kraft in sich; er bildet den ersten Strahl des kommenden Zeitalters; in dem Kampf gegen das Bestehende fällt er als Opfer; der zähen Gewohnheit, der Beschränktheit gegenüber verblüht er langsam; oder er überwindet den Widerstand, steigt zum höchsten Glanz empor und will die Welt nach seinen Zwecken zwingen. Aber da ereilt ihn nach dem tiefsinnigen Ausdruck der Alten der Neid der Götter, die nicht dulden können, daß ein Sterblicher sich mit ihnen messe und das Steuer der Weltregierung ihren Händen entreiße. Indem er sein individuelles Pathos zum alleinigen Gesetz macht, stört er den Gesamtkomplex der sittlichen Mächte, die in gegenseitiger Durchdringung das Leben bilden; seine Kraft und Größe nach einer Seite ist seine Schwäche nach der andern; die durchbrochene Ordnung stellt sich wieder her, die Massen reagieren gegen ihn und, wo er am höchsten stand, stürzt er am tiefsten; in dem Augenblick, wo seine Pläne dem Gelingen am nächsten waren, sinken sie in Staub. Die Götter, die den epischen Helden lieben, hassen und vernichten den tragischen. Prometheus ist der wahre Typus tragischer Helden. Cäsar, Xerxes, der in seinem Uebermut den Hellespont geißelte, Ajax, den Pallas ins Verderben stürzt, sind tragische Charaktere, die daher auch von den Dichtern, von Shakespeare, Aeschylus und Sophokles gewählt wurden. Manche Figuren der Weltgeschichte tragen, je nachdem sie aufgefaßt werden, mehr den tragischen oder den epischen Charakter, z. B. Napoleon. Im ersten Stadium seines Lebens, als Obergeneral in Italien und Aegypten ist er der epische Held, den die Schwinge des Jahrhunderts und die Strömung der Dinge glück- und sieggewährend trägt; seine Thaten sind ein sonnenbeglänztes Epos; allmählich isoliert er seine Zwecke; er verliert sich in eine immer kühnere und einsamere Höhe; die objektive Welt mit allen endlichen Bedingungen und Verhältnissen, die Völker mit ihrer nationalen Denkart werden ihm nur der gleichgültige Stoff, dem er die Form seines idealen Willens aufprägen will; da reagiert eben diese reale Welt, die sich von keinem Einzelnen aus dem Schwerpunkt rücken lassen will; die Katastrophe, d. h. das plötzliche Umschlagen erfolgt und den Vermessenen trifft ein erschütterndes Verderben. So ist auch bei Alexander dem Großen, bei Kolumbus eine doppelte Auffassung möglich: epische Helden sind beide, insofern sie nur Organ des Zeitgeistes sind; der eine öffnet den Orient, der andre den fernen Occident; beide sind von dem allgemeinen Streben der beengten Völker nach Erweiterung des Weltbewußtseins zu glücklichem Ziele getragen; in das Leben beider mischt sich aber bald das tragische Unglück, dem der eine in der Blüte der Jugend, der andre nach einer Kette von Kränkungen und Mißgeschicken verfällt. Die letzte Betrachtung, die wir dem Epos zu widmen haben, betrifft, nachdem wir die epische Substanz bezeichnet, die epische Haltung, die Weise der poetischen Behandlung im Epos. Diese wird die einfache Konsequenz von jener sein, und auch darin kann uns Homer das Muster sein. Da das Epos in jene frühe Zeit fällt, wo die fühlende Seele in unmittelbarer Einheit mit der Welt ist und der Wille noch keinen Kampf mit den Naturtrieben zu bestehen hat, so wird auch die ganze epische Darstellung von jenem heitern Frieden und jener ungetrübten Harmonie überall getragen sein. Da ferner der epische Dichter von einer vergangenen Zeit nur erzählt, da, was er vorträgt, nur durch den stillen Sinn des Ohres vernommen wird und nicht wie im Drama in unmittelbar ergreifende Gegenwart tritt, so wird der Gemütsanteil ein milderer, die Stimmung eine freiere und der Sänger gewinnt Raum zu plastischer Entfaltung aller Seiten und Umstände, zu ruhiger Entwicklung und ebenmäßiger Anerkennung auch des Kleinsten und Geringfügigsten. Im Drama ist der Charakter der Personen gleichsam nur von einer Seite beleuchtet, insofern sie nämlich durch eine vorherrschende Leidenschaft, durch eine besondere Stellung zum System des Ganzen in den tragischen Kollisionsfall verwickelt sind. Das Epos aber hat nicht einen besonderen Gesichtspunkt, es beleuchtet die Persönlichkeit von allen Seiten, in allen Beziehungen und stellt den ganzen Menschen mit verweilender Ausführlichkeit als eine Totalität von Neigungen, Eigentümlichkeiten und Interessen vor unser geistiges Auge. Das Drama eilt unruhig durch eine Reihe von immer heftigeren Dissonanzen seinem Ziele entgegen; von Steigerung zu Steigerung drängt es der Katastrophe zu; der Zuschauer, zwischen Furcht und Hoffnung bewegt, in sich selbst geteilt und aus dem Gleichgewicht harmonischen Selbstgefühls gerissen, findet keine Ruhe als in dem endlichen Ausgangspunkt, wo die gewaltsame Spannung sich in ideales Mitleid auflöst und die Harmonie des vollendeten Kunstbaues uns die innere Versöhnung wiedergibt. Umgekehrt bleiben wir dem epischen Erzähler gegenüber immer in der Freiheit des Gemütes und in der allseitigen Integrität unsrer Kräfte. Statt wie im Drama den Gehalt heftig zusammenzudrängen, entfaltet er vielmehr das ganze Leben, die ganze Breite menschlichen Wirkens und Daseins mit allen Nebenumständen, allen Nebenstimmungen in gleichmäßig heller Beleuchtung. Seine freundliche Ansicht der Dinge gewährt auch dem Unscheinbarsten ein Dasein im Ganzen und er verweilt gern dabei. Mit göttlicher Unparteilichkeit und Unbefangenheit gibt Homer jedem Gegenstande, dem größten wie dem kleinsten seinen Namen und sein Recht; nachgiebig und milde hebt er jede zur Seite sich anschließende Beziehung hervor, sie mag wichtig oder unwichtig sein, und sich ganz hinter der von ihm geschilderten Welt verbergend läßt er alles und jedes sich in seinen eigensten Tönen aussprechen und nach seiner eigensten Form und Stelle in das reiche und mannigfache Bild einfügen. In dem weiten Umfang seines anschauenden Geistes und in der gleichmäßigen Wärme seiner Teilnahme ist nichts als störend, überflüssig oder unbedeutend ausgeschlossen. Er berichtet uns nicht bloß, wie seine Helden hassen, lieben und kämpfen, sondern auch, wie sie die Sohlen anlegen und über das Unterkleid den Mantel werfen; er zählt uns alle Stücke der ehernen Rüstung auf von den Beinschienen bis zum Haarbusch des Helms, ebenso alle Polster und weicheren wollenen Teppiche des Bettes; er folgt der Mahlzeit in allen ihren Teilen, die Helden waschen sich die Hände, sie erhalten alle gleiche Portionen Fleisch zugeteilt, die Herolde mischen den Wein mit Wasser und gießen aus dem Mischkessel jedem Gaste das Getränk in den kleineren Becher u. s. w. Treten im entscheidenden Moment der Schlacht zwei Kämpfer einander gegenüber, schon ist die Lanze gehoben, so hat der Dichter doch noch Zeit und heitere Seelenruhe genug uns mit den bisherigen Schicksalen des einen oder des andern bekannt zu machen, wo er bisher gelebt, wer seine Mutter und sein Vater gewesen, ja wie dessen Vater geheißen und wo und wie alt er gestorben sei. Ganz von dieser epischen Ruhe sind auch Homers Dialoge, die Wechselreden der Helden und der Götter unter einander durchdrungen. Sie mögen in heftiger Leidenschaft mit einander streiten oder sie mögen Befehle geben und empfangen oder prahlend mit einander im Wortkampf wetteifern oder in Todesnot um Rettung flehen oder forschen oder erzählen, immer ist es der langsame, ruhig strömende Fluß, der nirgends anhält, aber auch nirgends mit stürmischer Gewalt fortdrängt. Ein gutes Beispiel epischen Verweilens bildet die Stelle, wo die Amme Eurykleia beim Fußwaschen plötzlich ihren Herren, den als Bettler zurückgekehrten Odysseus an der Narbe am Knie erkennt. Es ist der Moment höchster Spannung: dennoch erzählt der Dichter nun ausführlich, wie Odysseus in der Jugend zu dieser Narbe gekommen, bei einem Besuch bei Autolykus auf dem Parnaß; die Eberjagd, auf der der Eber ihm die Wunde beibrachte, wird mit allen Einzelheiten geschildert; die dabei vorkommenden Reden werden mitgeteilt; endlich wird mit den Worten: »diese Narbe also erkannte die alte Amme« wieder eingelenkt. Wiederum als Patroklus getötet worden und Achilles die Waffen ergriffen, schwärmt er voll Wut und Vernichtungseifer auf dem Schlachtfelde: da trifft er auf den Lykaon, den Sohn des Priamus; ein Augenblick genügte, um den Unglücklichen zu verderben. Aber der Dichter schiebt ruhig diesen Augenblick noch auf: er erzählt uns zuerst, wie Achilles schon früher einmal den Lykaon in dunkler Nacht in des Vaters Weingarten überfallen; der Jüngling schnitt sich da mit scharfem Messer von einem Feigenbaum junge Ruten; diese Ruten sollten zu Wegweisern dienen; doch überfiel ihn nun dort unversehens der göttliche Sohn des Peleus. Aber er schickte den Gefangenen auf einem Schiffe über das Meer und verkaufte ihn ins schöngebaute Lemnos. Käufer aber war Euneus, Sohn des Jason. Von dort kaufte ihn ein Freund los, viel Gold gebend, Eetion der Imbrier, und schickte ihn nach Troja zurück in die göttliche Arisbe. Von dort heimlich entfliehend kam er ins väterliche Haus zurück. Daselbst war er elf Tage, sich des Umgangs seiner Lieben freuend, nachdem er Lemnos verlassen, am zwölften aber traf er wieder auf den Achilles. Jetzt also stehen wir wieder bei dem Moment wie vor jener Einschaltung. Aber noch fällt der tödliche Streich nicht. Achilles ist verwundert den nach Lemnos Verkauften wieder auf dem Kampfplatz vor sich zu sehen und jetzt folgt ein lautes Selbstgespräch von zehn Versen, in welchen Achilles ausruft: Fürwahr ich glaube, die von mir getöteten Troer kehren aus der Unterwelt wieder zurück; so habe ich diesen doch in die heilige Lemnos verkauft, aber das graue salzige Meer hat ihn nicht zurückhalten können und viele kommen doch wider ihren Willen im Meere um; aber nun will ich sehen, ob er, wenn er meines Speeres Schärfe erfahren, auch von da zurückkehren wird oder ob ihn die Erde bändigen wird, die ja auch den Kräftigen bändigt. Jetzt beschreibt der Dichter, wie Lykaon im Gemüte nicht sterben gemocht, in welcher Stellung Achilles ihm gegenüber gestanden, wie Lykaon darauf bittend sich ihm genaht, und nun folgt in mehr als zwanzig Versen diese Bittrede, in der Lykaon wieder Zug für Zug erzählt, wie er in dem Obstgarten gefangen worden, für hundert Ochsen nach Lemnos verkauft sei, elf Tage zu Haus zugebracht u. s. w. Ich sehe, sagt er, daß meine Mutter mich nur zu kurzem Leben geboren hat, die Laothoe, die Tochter des greisen Altes, welcher über die kriegerischen Leleger herrscht in der hohen Pedasos am Flusse Satnioeis. Dieses Altes Tochter hatte Priamus wie viele andre: wir waren von der Mutter zwei Kinder, du wirst sie wohl beide töten, den einen hast du schon getötet, den göttergleichen Polydorus u. s. w. Hierauf antwortet Achilles seinerseits ausführlich in fast ebenso langer Rede, worin er den Tod des Patroklus anführt, und nun erfolgt die Tötung, deren nähere Umstände gleichfalls genau angegeben werden. Solche Beispiele des wahrhaft epischen Tones ließen sich aus Homer unzählige anführen. Der Dichter folgt aber in der Reihe der Zeitmomente nur dem Gesetz poetischer Anschaulichkeit und, wenn er manchmal das Ausgedehnte zusammenfaßt, so entfaltet er meistens das, was sich in der Wirklichkeit zusammendrängt, z. B. wenn sich eine spannende Lage, ein heftiges Gefühl in unsrer Brust oft nur in einem kurzen Ausruf oder in einem einzigen Wort Luft macht, zu voller Darlegung des darin liegenden mannigfaltigen Gehaltes. Der epische Dichter gleicht darin ganz dem bildenden Künstler: auch dieser hält einen im Zeitflusse vorübergehenden Moment fest und stellt ihn mit festen und vollen Marmorumrissen vor unsre Anschauung, so daß wir seinen ganzen Inhalt entfaltet und bleibend vor uns haben. Daher nun auch die Neigung des epischen Dichters zu Episoden. Im Drama duldet die Angst der Erwartung kein Abspringen, es folgt immer in strenger Linie Schlag auf Schlag dem Endziele, aber das Epos ist der wahre Boden der mannigfaltigsten Episoden. Der Dichter wie der Zuhörer folgen in ihrem inneren Frieden jedem Zuge der sich darbietenden Gelegenheit; wo ein Seitenpfad sich öffnet, wird er harmlos betreten. Homer macht nichts parteiisch, weil er das Recht eines jeden Dinges kennt und bereit ist es ihm zu geben. Seine Darstellung will weder loben noch tadeln, sondern nur sich selbst genugthun. Ganze Gesänge der Ilias, kann man sagen, sind nur Episoden, so der sehr schöne fünfte, der von der Tapferkeit und den Thaten des Diomedes handelt; in den Gesängen aber sind die unzähligen kleineren Digressionen wieder, so zu sagen, für sich bestehende Epen im kleinen, Teilgebilde, die ein eigentümliches Leben führen und nur locker und lose mit dem Hauptgange zusammenhängen; polypenartig wächst Epos aus Epos hervor. Jeder Punkt in dem großen Gebilde ist für sich belebt; jeder Satz hat seine eigne Seele und ist um seiner selbst willen da; und daher auch die lose Wort- und Satzverknüpfung überhaupt, die bis in die kleinste Form von dem epischen Prinzip durchdrungen ist. Auch die häufigen ausgeführten Gleichnisse, die alle epischen Dichter dem Homer nachgebildet haben, sind von diesem Geiste ruhigen Verweilens bei Nebenvorstellungen eingegeben: indem dem Dichter bei irgend einer Situation eine ähnliche aus einem andern Gebiete einfällt, verweilt er bei dieser zweiten, die unter der Hand zu einem eigenen Ganzen wird und ein selbständiges Interesse gewinnt, was sich auch in dem Uebergange aus dem abhängigen Nebensatze in einen Hauptsatz zeigt, der bei homerischen Gleichnissen so oft vorkommt. Dieselbe epische Ruhe zeigt sich bei den so häufigen Wiederholungen: wenn bei Homer ein Bote eine Meldung zu bringen hat, so wird er den Auftrag gewiß, so lang dieser sein mag, mit allen Nebenmotiven in denselben Worten wiederholen. Auch dies ist ja nur ein Zeichen jener göttlichen Geduld, die durch die ganze epische Welt waltet, jener zwar immer schaffenden und bildenden epischen Phantasie, die aber, eben weil sie solchen Reichtum im Schoße trägt, ganz wie die gebärende Natur selbst mit ihrem Erzeugen halb zurückhaltend zögert. Das Epos, sagt Herder einmal, muß langweilig sein: dies ist in dem Sinne wahr, als es allen dramatischen Drang, alle lyrische Erreglichkeit und Unruhe ausschließt. Aber das dadurch mangelnde lebhaftere Interesse ersetzt es durch die Sinnlichkeit, durch die Plastizität, durch das helle Licht und den ununterbrochenen greifbaren Umriß, womit es den anschauenden Sinn entzückt. Wir haben uns scheinbar von Goethe und unserm Gedicht weit entfernt, aber in der That dadurch die wichtigsten Anhaltspunkte zu seiner Beurteilung und Charakterisierung gewonnen. Goethe war seiner ganzen Naturanlage nach nicht bloß ein Dichter, sondern im besondern ein epischer Dichter nach den Merkmalen, die wir oben angegeben haben. Sein ganzes Leben ist ein großes episches Gedicht und verfloß in innerer und äußrer Harmonie unter dem stillen Bilden der Lebensschicksale. Eine Altersstufe löste mit unmerklichem Werden die andre ab und jede trug im vollen Walten des Naturgesetzes die ihr eigentümlichen Blüten und Früchte. Der Strom seines Lebens stockte und wirbelte nie, von feindlichen Hindernissen gehemmt; in sanften Windungen umging er den Fuß entgegentretender Felsberge. Goethe war immer glücklich und jedes Mißgeschick verwebte er ausgleichend in den großen Zusammenklang seines Lebens und der Natur. Wohl hatte auch er innere Kämpfe zu bestehen, Kämpfe voll tiefer Spaltung und Verfinsterung der Seele, denn er war ja ein Dichter, aber immer stimmte die reiche Heilkraft seiner Natur das gebrochene Gemüt wieder zur heitern Versöhnung mit der Welt und mit sich selbst. Immer in kindlichem Zusammenhang mit der Ordnung der Natur und in ihren stillen gesetzmäßigen Gang einstimmend konnte er daher zu der Tragödie, die die Kämpfe des Subjekts mit den objektiven Mächten oder den Konflikt der letzteren unter sich poetisch darstellt, sich nicht bestimmt fühlen. Ich fühle deutlich, schreibt er an Schiller, daß der bloße Versuch eine wahre Traggödie zu schreiben mich innerlich zerstören würde. In der epischen Welt dagegen, die von jenem Leiden der subjektiven Freiheit nicht berührt wird, fand er den Frieden wieder, den die Natur und das rein und einfach Schöne gewährt. Von Shakespeare entfernte er sich, je länger er lebte, immer mehr; zu Homer fühlte er sich immer mehr gezogen; er dachte in Sizilien lange über den Plan zu einem Drama Nausikaa nach, er begann in späterer Zeit ein Heldengedicht, die Achilleis: in beiden wollte er mit Homer wetteifern. Das Epische liegt teils vor dem Tragischen, d. h. wo dieses in der ungetrübten Brust noch nicht hervorgebrochen ist, teils in der Höhe über demselben, wo nach Ueberwindung aller Qualen und Widersprüche der endlichen Welt die bewußtvolle Versöhnung und Seligkeit wieder eingetreten ist. Goethe nun stand in dieser Region echter in sich beruhigter Menschlichkeit. Die höchste Bildung war ihm die reinste Menschlichkeit; Schönheit und Sittlichkeit, ebenso Glück und Sittlichkeit war ihm eins. Der Zustand, wo die Pflicht mit der Neigung, der moralische Wille mit dem natürlichen Triebe nicht zusammenstimmt, wo wir also nicht in vollem ungeteiltem Besitz unsrer selbst sind, war ihm unerträglich. Er folgte dem schönen Zuge seiner Natur, aber nicht der gemeinen und häßlichen, sondern der edeln und geläuterten. Dies ist ganz jene Geistesstufe, die wir oben als die dem Epos und dem epischen Dichter eigentümliche gefunden haben. Goethes besonderes Erbteil war eine mächtige Energie der Phantasie und die volle Gabe der Anschauung. Dadurch blieb er in einem Zeitalter des kalten und trocknen Verstandes ein ewiger Jüngling. Mit klarem Blick schaute und beobachtete er die Dinge um sich her, trübte ihr Anschauen nie durch Haß und eigne Einmischung, ließ sie unbefangen auf sich wirken und stellte sie mit idealer Kunstläuterung dann in ihrer innersten Wahrheit wieder dar. Wahrheit und Natur sind daher die Hauptmerkmale aller Goetheschen Dichtung. Die objektive Treue, mit der das Menschenleben und die Natur sich in seiner Dichtung spiegelt, die plastische Sinnlichkeit, mit der alle Darstellungen seiner Hand im heitern Sonnenlicht nachbildender Kunst uns entgegentreten, läßt sich nur mit der Plastik und Objektivität des Homer vergleichen. Merck, der ältere Freund Goethes, erriet diese Gabe des Dichters schon frühe und äußert in einem Briefe, Goethes unverrückbare Richtung sei die, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben, während die andern nur die Imagination zu verwirklichen suchten. Auch Schiller bemerkt über Goethe, bei keinem modernen Dichter finde sich so die volle sinnliche Wahrheit der Dinge als bei ihm. Goethe hielt sich ganz an die lebendige Gegenwart der ihn umgebenden Dinge und fand in ihr den Gehalt der Ewigkeit: Willst du ins Unendliche schreiten, Geh nur im Endlichen nach allen Seiten! Das Uebersinnliche galt ihm nur, insofern es sich im Sinnlichen offenbart; er schaute das Allgemeine im Besondern an; so war er Realist und Idealist zugleich. Nach fernen Idealen jagen war ihm zuwider; sentimentale Sehnsucht, wenn sie ihn beschlich, legte er in ein lyrisches Lied nieder, das ihn wieder heilte und befreite, und bog sie zur erfüllten Gegenwart um. Daher kam es nun auch, daß Goethe wie später Schiller, der Mann der Freiheit, der Dramatiker, von Kant, daß so der epische Goethe von Spinoza mächtig angezogen ward. Goethe liebte und studierte diesen Denker, besonders seine Ethik eifrig, mit dem er in ursprünglicher Wahlverwandtschaft stand. Die alles ausgleichende Ruhe Spinozas, die Goethe selbst an ihm preist, war nur das Widerspiel seiner eigenen Sinnes- und Darstellungsweise. Was er selbst längst gefühlt, davon fand er die bewußte Erkenntnis bei Spinoza: die Gegenwart des Unendlichen im Endlichen, die Unabtrennbarkeit der Idee von der Erscheinung, die erhabene sittliche Ruhe und Versöhnung, die pantheistische Nähe Gottes in allem. Auch Spinoza wie Goethe sah in der Welt, in den Dingen, die uns umgeben, in jedem Augenblick, der uns geschenkt ist, überall die Immanenz, d. h. das bleibende Inwohnen eines ewigen Gehaltes und eine große Harmonie, in der das All zusammenklingt. Jene episch-plastische Richtung, die der Dichter durch seine eigene Natur und durch Spinoza erhalten hatte, kam zur völligen Reife in dem plastischen Italien. Die Natur- und Kunstwelt Italiens gab ihm die durchsichtige Klarheit, die vollendete Form, die objektive Bestimmtheit und den milden Frieden, der seine Werke von da an auszeichnet. Die bildende Kunst, weil sie so reine Anschauung ist, die Natur, weil sie ohne Willkür ihr stilles, aber tiefes Leben vollendet, waren von jetzt an für immer Gegenstände seiner Liebe und Betrachtung. Noch aus Rom schreibt Goethe, er glaube nun doch wohl einzusehen, daß er mehr zur Poesie als zur bildenden Kunst geboren sei, woraus also folgt, daß es eine Zeit gegeben, wo er sich zum Bildhauer bestimmt glaubte. Naturwissenschaft, Beschäftigung mit der eigentlichen Kunst hat er sein ganzes übriges Leben lang nicht aufgegeben. Die Dichtwerke, die er aus Italien mitbrachte, Iphigenie, Tasso, Wilhelm Meister, tragen den reinen epischen Kunstcharakter deutlich an sich. Zwar bewegt sich die Iphigenie aus dem innerlichen Boden seiner Seelenvorgänge, aber in der ganzen Form herrscht die Gleichmäßigkeit, Stille und der sanfte Fluß des Epos. Wahl des Stoffes. Warum kein politischer. In Goethe selbst lagen alle Bedingungen zum epischen Dichter: desto schwieriger war es mitten in der Prosa einer alternden Welt einen Stoff zu finden, der der epischen Darstellung fähig war. Treten wir den damaligen Zeiten und Volksverhältnissen näher, um zu sehen, welcher Art dieser Stoff nur sein konnte. Man hat es in neuerer Zeit Goethe oft zum Vorwurf gemacht, daß er so egoistisch sich abgeschlossen und nichts für sein Volk gethan. Er mit seiner mächtigen Rede hätte die schlummernde Nation zur Freiheit wecken, zu Thaten begeistern und zur politischen Größe führen sollen. Aber statt dem unterdrückten Recht seine hilfreiche Stimme zu leihen, suchte er Selbstgenuß in der schönen Kunst; ohne Herz für die Leiden des Vaterlandes, das in den Fesseln feudaler Barbarei oder moderner Polizeigewalt lag und in unzählige Herrschaften zerstückt das Schlachtfeld Europas bildete, vergnügte er sich als Höfling in Weimar und weder die Thaten Friedrichs des Großen noch die Unmacht des heiligen römischen Reichs deutscher Nation erregten ihn zu Begeisterung oder Unwillen. Besonders gegen das große Weltereignis, das am Ende des Jahrhunderts von Frankreich aus seine Donner über den Weltteil rollen ließ, hätte er nicht mit solcher Abneigung sich verschließen sollen: denn wo ließ sich ein mächtigerer Stoff für Epos oder Tragödie finden und wodurch konnte ein wahrhafter Dichter würdiger zu großen Gesängen gestimmt werden und tiefer alle Herzen der Zeitgenossen und der nachkommenden Geschlechter zu bewegen hoffen? Es war besonders Ludwig Börne, ein gewiß ebenbürtiger Gegner, der diese Vorwürfe häufte. Lessing sagt in einem Briefe, er laufe Gefahr ärgerlich zu werden und mit Goethen trotz dem Genie, worauf dieser so poche, anzubinden. Ein halbes Jahrhundert später erfüllte ein Geistesverwandter Lessings die Drohung gegen den unterdes mächtig gewordenen Dichter. In immer erneuerten hingeworfenen Bemerkungen kommt er auf Goethe zurück, den er von Anbeginn gehaßt zu haben gesteht, und schleudert aus der Glut seines edeln Herzens, in der sich sein Märtyrerleben verzehrte, leuchtende Brandkugeln in Goethes Kunstanlagen. Goethe, ruft er aus, hätte ein Herkules sein können, sein Vaterland von großem Unrate zu befreien; aber er holte sich bloß die goldenen Aepfel der Hesperiden, die er für sich behielt, und dann setzte er sich zu den Füßen der Omphale und blieb da sitzen. Wie ganz anders lebten und wirkten die großen Dichter und Redner Italiens, Frankreichs und Englands! Und nun führt er das Beispiel Dantes, Alfieris, Montesquieus, Voltaires, Rousseaus, Miltons u. s. w. an. Die furchtlose unbestechliche Richterin, sagt er ein andermal, wird Goethe fragen: Dir ward ein hoher Geist, hast du je die Niedrigkeit beschämt? Der Himmel gab dir eine Feuerzunge, hast du je das Recht verteidigt? Du hattest ein gutes Schwert, aber du warst immer nur dein eigener Wächter! Wenn Gottes Donner rollen und niederschmettern das Gequieke der Menschlein da unten, dann horcht ein edles Herz und jauchzt und betet an und, wer angstvoll ist, hört und ist still und betet; der Dämische aber verstopft sich die Ohren und hört nicht und betet nicht und betet nicht an. Schiller während der heißen Tage der französischen Revolution schrieb in der Ankündigung der Horen: Vorzüglich aber und unbedingt wird sich die Zeitschrift alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht. So sprach und dachte auch Goethe, er, der angstvoller als eine Maus beim leisesten Geräusche sich in die Erde hineinwühlt und Luft, Licht, Freiheit, ja des Lebens Breite, wonach sich selbst die totgeschaffenen Steine sehnen, alles, alles hingibt, um nur in seinem Loche ungestört am gestohlenen Speckfaden knuppern zu können. Als ich heute gegen Weimar zu fuhr, schreibt er in einem Briefe, und es vor mir lag mit seinen roten Dächern im Wintersonnenschein kalt und freundlich, und ich dachte, daß Goethe darin schon länger als fünfzig Jahre wohne, daß er es nie verlassen, da überfiel mich wieder der Groll gegen diesen zahmen, geduldigen, zahnlosen Genius. Wie ein Adler erschien er mir, der sich unter der Dachtraufe eines Schneiders angenistet. Und ein solcher Mensch sollte doch ein fleischfressendes Tier sein und nicht wie ein Spatz Gerste essen, auch nicht aus der schönsten Hand. Und zu Goethes Tag- und Jahresheften von 1790 ruft er: Was? Goethe, ein reichbegabter Mensch, ein Dichter, damals in den schönsten Jahren des Lebens, wo der Jüngling neben dem Manne steht, wo der Baum der Erkenntnis zugleich mit Blüten und mit Früchten prangt, er war im Kriegsrate, er war im Lager der Titanen, da, wo vor vierzig Jahren der zwar freche, doch erhabene Kampf der Könige und Völker begann, und zu nichts begeisterte ihn dies Schauspiel, zu keiner Liebe, zu keinem Hasse, zu keinem Gebete, zu keiner Verwünschung, zu gar nichts trieb es ihn an als zu einigen Stachelgedichten, so wertlos nach seiner eigenen Schätzung, daß er sie nicht einmal aufbewahrte, sie dem Leser mitzuteilen? Und als die prächtigsten Regimenter, die schönsten Offiziere an ihm vorüberzogen, da gleich der jungen blassen Frau eines alten Mannes bot sich seinem Beobachtungsgeiste kein anderer, kein besserer Stoff dar als die vergleichende Anatomie? Und als er in Venedig am Ufer des Meeres lustwandelte, Venedig, ein gebautes Märchen aus Tausend und einer Nacht, wo alles tönt und funkelt, Natur und Kunst, Mensch und Staat, Vergangenheit und Gegenwart, Freiheit und Herrschaft, wo selbst Tyrannei und Mord nur wie Ketten in einer schauerlichen Ballade klirren, die Seufzerbrücke, die zehn Männer, es sind Szenen aus dem fabelhaften Tartarus, Venedig, wohin ich sehnsuchtsvolle Blicke wende, doch nicht wage ihm nahe zu kommen, denn die Schlange österreichischer Polizei liegt davor gelagert und schreckt mich mit giftigen Augen zurück, dort, die Sonne war untergegangen, das Abendrot überflutete Meer und Land und die Purpurwellen des Lichts schlugen über den felsigen Mann und verklärten den ewig Grauen und vielleicht kam Werthers Geist über ihn und dann fühlte er, daß er noch ein Herz habe, daß es eine Menschheit gebe um ihn, einen Gott über ihm, und dann erschrak er wohl über den Schlag seines Herzens, entsetzte sich über den Geist seiner gestorbenen Jugend, die Haare standen ihm zu Berge und da in seiner Todesangst,«nach gewohnter Weise, um alle Betrachtungen loszuwerden«, verkroch er sich in einen geborstenen Schafschädel und hielt sich da versteckt, bis wieder Nacht und Kühle über sein Herz gekommen! Und den Mann soll ich verehren? den soll ich lieben? u. s. w. Um diese Vorwürfe zu würdigen, ist es nötig, das Jahrhundert, in dem Goethe lebte, und die Nation, die ihn hervorgebracht hatte, kurz zu zeichnen. Das achtzehnte Jahrhundert verfolgte bei den drei Hauptvölkern Europas eine ganz verschiedene Richtung: es war in England industriell, in Frankreich emanzipativ, in Deutschland ästhetisch. Das achtzehnte Jahrhundert erhob England zu der kolossalen Industrie, die jetzt das Staunen der Welt bildet; damals begann von geringen Anfängen die Baumwollenproduktion, die der Töpferwaren, die Stahl- und Eisenbearbeitung und stieg mit rapidem Wachstum zu ihrer jetzigen Höhe auf. In den industriellen Bezirken wurden kleine Flecken, ärmliche Fischerdörfer in wenigen Jahren mächtige Fabrikstädte; ganze Grafschaften verwandelten sich in unermeßliche rauchumhüllte Werkstätten. Industrielle Genies traten auf, die durch Erfindungen aller Art, durch unermüdliche Beharrlichkeit den wichtigsten Zweigen in der Stille einen raschen Schwung gaben. Ein verbessertes Verfahren drängte das andre, eine Maschine die andre. In gleichem Verhältnis mit der Entwicklung der Industrie stieg die der See- und Kolonialmacht Englands. England eroberte Ostindien, das große anglo-indische Reich ward gegründet und den Franzosen, Spaniern, zuletzt auch den Holländern alle ihre Kolonien entrissen. Der nordamerikanische Freiheitskrieg zwar schien dies Wachstum unterbrechen zu wollen, eine der wichtigsten Kolonien hatte sich losgerissen und Frankreich gewann wieder Vorteile. Aber die langwierigen Kämpfe mit der französischen Revolution und mit Napoleon machten England zur Herrscherin in allen Meeren; wenn man Kuba ausnimmt, welches Spanien verblieb, und Java, welches die Holländer retteten, so gingen alle bedeutenden und reichen Niederlassungen in allen Teilen der Welt und alle wichtigen Seestationen in Englands Hände über; es faßte Fuß im mittelländischen Meer, riß den levantischen Handel an sich und öffnete sich Mittel- und Südamerika, indem es den Abfall der spanischen Dependenzen begünstigte. So machte das achtzehnte Jahrhundert England in größerem Maßstabe zu dem, was im siebzehnten Jahrhundert Holland gewesen war. Eine ganz andre Mission hatte das Jahrhundert in Frankreich zu erfüllen. Hier war politische und religiöse Emanzipation der Punkt, dem alle nationalen Kräfte zuströmten. Nach der formellen Klassik unter Ludwig dem Vierzehnten wurde unter dem Regenten und unter Ludwig dem Fünfzehnten Kritik und Skepsis in allen Gebieten herrschend. Was schon Cartesius an die Spitze gestellt hatte »=de omnibus dubitandum est=«, was darauf Pierre Bayle mit durchdringendem Scharfsinn, obgleich noch schüchtern begonnen hatte, das wurde jetzt von Voltaire, Rousseau und den Encyklopädisten umfassend ins Werk gesetzt. Es war das Jahrhundert der Aufklärung, das überall mit der Leuchte der Humanität und Philosophie die Gespenster des Aberglaubens zu bannen und die Fesseln barbarischer Traditionen zu brechen suchte. Unter der Fahne der Ideen Vernunft, Natur, Menschheit, Freiheit, mit den Waffen des Spottes, der Beredtsamkeit und der Kritik ward ein siegreicher Kampf mit den Dogmen und der Hierarchie der Kirche und den politischen Einrichtungen geführt. Der Deismus, der in England keine nationalen Wurzeln gehabt hatte und bald abgestorben war, ward in Frankreich zur populären Sache des Jahrhunderts erhoben. Montesquieu, der schon in seinen =lettres persanes= die Kirche empfindlich getroffen hatte, lenkte durch seinen esprit des lois die Blicke der Nation aus den Staat; Rousseau untersuchte in seinem =contrat social= das Fundament der politischen Gesellschaft; Voltaire, der Alleinherrscher seiner Zeit, lag sein langes Leben hindurch mit den Ungeheuern der Finsternis im Kampf, die er spielend erlegte; die Encyklopädisten unterwarfen alles Gegebene den dekomponierenden Operationen ihres Verstandes; Beaumarchais untergrub durch seine Komödie »die Hochzeit des Figaro« den Adel: so nahm in allem das Subjekt die Autonomie in Anspruch und nichts galt mehr, als was sich vor Vernunft und Menschengefühl rechtfertigen konnte. Während in England zugleich mit dem Industrialismus und wachsendem Volkswohlstand der finstere Methodismus sich verbreitete, die Hochkirche erstarrte, die Oligarchie und Kastensonderung sich befestigte, der Staat ein irrationales Gewächs blieb und in Gebräuchen, Meinungen und Sitten das Mittelalter und die Scholastik ihre Herrschaft behaupteten, brach Frankreich die Bastille und die Adelsschlösser nieder, hob in der Nacht des 4. August alle feudalen Vorrechte auf, impfte durch Jefferson Amerika seine Demokratie ein, rief die Schwarzen von St. Domingo zur Freiheit auf und durchzog mit Ideen und Kriegsheeren den Weltteil. Ganz anders gestaltete sich die Aufgabe, an deren Lösung Deutschland in diesem Jahrhundert arbeitete. Sie war weder kommerziell wie in England, noch progressistisch wie in Frankreich, sondern ästhetisch und metaphysisch; die innere Freiheit und Schönheit des Gemütes war das Ziel, das den Besten der in äußeren geistlosen Formen erstorbenen Nation vorschwebte. Auf das rege nationale Leben im Reformationszeitalter war geistige Erstarrung gefolgt. Die Universitäten, von denen im sechzehnten Jahrhundert zum Teil die frische Bewegung ausgegangen war, waren jetzt die Stätten, wo das Geistesdunkel am sorgfältigsten gepflegt wurde. Toter Formalismus und barbarische Scholastik umschnürten dort die lebendige Wissenschaft, die zum gemeinen Handwerk herabgesunken war und den strebenden Geist, wo er nur seine Flügel zu regen suchte, mit geistlosem Mechanismus niederdrückte und in die Formel der Orthodoxie zurückdrängte. Die Schultraditionen wurden auf den Universitäten mit pedantischer Despotie aufrechterhalten; von den Kathedern ertönte mit steifer Ernsthaftigkeit die dürre und geistlose, mitunter durch Zoten gewürzte Paragraphen- und Zitatenweisheit. Der enge Geist der Korporation schloß die Universitäten gegen das Volk und das Leben ab. Dieser Geist zeigte sich in der lächerlichen Steifheit und Würde der gravitätischen Universitätslehrer, unter denen der Brotneid herrschte (in der That kämpften sie oft mit dem Hunger), sowie in der empörenden Roheit und dem Pennalismus des Burschenlebens, das sich ohne idealen Schwung in brutalen Lizenzen dem bürgerlichen Leben ebenso abgeschlossen gegenüberstellte. Ueberall war statt der Volkssprache das echte Organ der Scholastik, das Latein, in Gebrauch. Leibniz sagt: =in Germania inter alias causas ideo fixior est scholastica philosophia, quod sero et ne nunc quidem satis germanice philosophari coeptum est=. Das Latein bildete die dicke Mauer zwischen dem Volk und den Gelehrten: jenes erfuhr nichts von den gelehrten Spitzfindigkeiten und konnte ihnen also weder Spott noch gesunden Menschenverstand entgegensetzen; diese raubten sich dadurch selbst den freien Blick ins Leben und bauten, wie Schlosser sich ausdrückt, im Dunkeln ihre Kartenhäuser, die nur Träumer bewohnen konnten. Selbst die literarischen Journale, doch für das lebendige Bedürfnis des Tages und für Kenntnisnahme aller berechnet, erschienen in lateinischer Sprache, welche Sitte sich bis tief ins achtzehnte Jahrhundert erhielt: während in Frankreich und England die einheimischen Sprachen schon eine klassische wissenschaftliche Prosa aufzuweisen hatten, während z. B. in Paris das =journal des sçavans= in französischer Sprache erschien, gab es in Leipzig eine lateinische Literaturzeitung unter dem Namen =acta eruditorum=, in Hamburg eine andre =nova literaria Germaniae= u. s. w. Das =journal des sçavans= wurde in Deutschland durch den Professor Nitzsch ins Lateinische übersetzt und noch in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sah sich der Philosoph Wolff genötigt, mit seiner deutsch geschriebenen Logik ein Gleiches zu thun, um sie seinen gelehrten Amtsbrüdern zugänglich zu machen. Als es Thomasius im Jahre 1688 in Halle wagte, seine Vorlesungen in deutscher Sprache anzukündigen, war der Skandal ungeheuer und von allen Seiten traf Verhetzung und Verachtung den kühnen Verletzer der Zunftgesetze: man erklärte seinen Schritt mit schadenfrohem Dünkel aus seiner Unwissenheit im Latein. Diejenige Wissenschaft aber, die durch den traurigsten Einfluß das Leben und alle übrigen Wissenschaften lähmte, war die Theologie. Die frische religiöse Polemik der Reformationszeit hatte die starren Formen einer blinden und fanatischen Orthodoxie als Niederschlag zurückgelassen. Eigensinnige Theologen stritten über Nebenpunkte des fertigen dogmatischen Systems mit einer Heftigkeit und Hartnäckigkeit, neben welcher jede andre wahrhaft fruchtbare Geistesarbeit erstickt ward. In uniformer Rechtgläubigkeit wurde von allen Kathedern gelehrt und von allen Kanzeln gepredigt. Jeder etwas freier denkende Kopf ward durch Verfolgung zum Verstummen gezwungen und, wenn er Widerstand leistete, das weltliche Schwert zu Hilfe gerufen. Der gegenseitige Haß der Lutheraner und Reformierten war fast ärger als ihr gemeinsamer gegen die katholische Kirche, und an den protestantischen Höfen hatten die Oberhofprediger dieselbe einflußreiche und intrigante Rolle, wie die Beichtväter an den katholischen. Dieser trocknen Schultheologie gegenüber konnte die katholische Kirche wenigstens aus dem reichen Schatz ihrer alten Mystik, Kunst und Liturgie schöpfen und an Fanatismus gaben die lutherischen Zeloten und Kanzelpolemiker den Jesuiten und römischen Pfaffen der schlimmsten Zeiten nichts nach. Fast derselbe blinde Positivismus wie in der Theologie herrschte auch in der Jurisprudenz. Was dort die Formel des Symbols, war hier die Formel des römischen Rechts. Das lebendige, mit dem Volksbewußtsein verschlungene Recht war ebenso zur Buchstabenweisheit einer abgeschlossenen Zunft geworden. Man wird von Schauder ergriffen, wenn man einen Blick in die damalige Kriminalistik wirft. Nicht bloß zogen sich die Prozesse durch alle Windungen des Formalismus mit endloser Langsamkeit in die Länge, sondern ohne Ahnung von dem innern Seelenleben des Verbrechers, von den Motiven und Gemütsleiden, die zu dem Verbrechen geführt, von den sozialen und politischen Schäden, deren Symptom es war, wurden mit Anwendung der Folter Geständnisse erpreßt und schaudervoll grausame Hinrichtungen verfügt. Die Juristenfakultäten, denen die Akten zur Begutachtung übersandt wurden, wetteiferten in unmenschlichen Entscheidungen. Die monströseste Geburt aber, die die positive Jurisprudenz und die positive Theologie in gemeinsamer Umarmung erzeugten, waren die entsetzlichen Hexenprozesse, die im siebzehnten Jahrhundert in ganz Deutschland häufig waren und sich bis ins achtzehnte Jahrhundert erhalten: theologische Finsternis und juristische Barbarei wirkten in ihnen zusammen. Die Philosophie war noch immer die kümmerliche, gedrückte =ancilla theologiae=; bald mit dem Fluch belegt, bald zu formellen Geschäften benutzt, nahm sie im Verbande der Wissenschaften ungefähr die Stelle ein, wie die Juden im politischen Verbande. Leibniz wandte sich in seiner großartigen, vielseitigen Wirksamkeit mehr an die Höfe und das Ausland und bediente sich bei seinen Schriften des Lateinischen und Französischen; rücksichtsvoll, schonend, ängstlich wie er war, flößte er dem breit herrschenden Dogmatismus keine Besorgnis ein. Erst um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts begann die Leibnizsche Philosophie unter der systematisch verständigen Gestalt, die ihr Christian Wolff gegeben hatte, die übrigen Wissenschaften zu rationalisieren. Unter den Händen der Philologie jener Zeiten verwandelten sich die Schätze des Altertums in totes Gestein und bildeten ein Gewicht mehr, den Geist herabzudrücken. Weit entfernt, durch das ideale Menschentum, das aus den Schriften und Kunstwerken der Griechen redet, erfrischend und begeisternd die erstarrten Pulse der Nation zu lösen, hatten die Philologen kaum eine Ahnung von dem wahren Leben jener Völker, die der Gegenstand ihrer gelehrten Bemühungen waren. Erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts wurde durch Heyne in Göttingen die trockne grammatisch-kommentatorische Zitatengelehrsamkeit, deren Hauptquartier besonders Sachsen war, von der ästhetischen Richtung gemildert; erst Friedrich August Wolf emanzipierte die Philologie als eigne Wissenschaft aus der niedern Stellung eines theologisch-pädagogischen Mittels; bis auf Buttmann wurden die grammatischen Regeln nicht aus den Klassikern, sondern meistens aus dem Neuen Testament abstrahiert. Die Wurzel dieses überall sichtbaren unfreien Geistes lag in dem traurigen Zustand der Pädagogik und der Schule. Hier waltete, wie in der äußern Disziplin der Bakel, so im Unterricht der Zwang kirchlicher Autorität und die Tyrannei der Methode. Statt die Jugend in naturgemäßer Selbstentwicklung zu fördern und zur Menschlichkeit zu bilden, waren die gelehrten Schulen nur darauf aus, durch unfruchtbare Pedanterie alle genialen Regungen in ihr zu töten; lateinisch sprechen, lateinische Verse machen, war der Triumph der Schulbildung. Die Naturwissenschaft, noch in der Kindheit begriffen, ward bei jedem Schritt von der Kirche und deren Dogmen behindert. Ueberhaupt war das Gefühl für die Natur und die Hingebung an sie durch den supranaturalen Wunderglauben erstickt; der Standpunkt, sie zu betrachten, war der mechanische und der teleologische. Die Theologie, die überall den Mittelpunkt bildete, hatte ja den ganzen Inbegriff der natürlichen und menschlichen Dinge als weltlich und _also_ nichtig von der Teilnahme ausgeschlossen, die Erforschung derselben fast als Sünde gestempelt: wie konnte die Naturforschung, ja die Wissenschaft überhaupt gedeihen, solange der theologische Standpunkt die Gemüter beherrschte? Gehen wir von der Wissenschaft zum Leben und zur Sitte über, so finden wir hier alles in gleicher Unnatur befangen und von toten konventionellen Formen eingeschnürt. Den geselligen Umgang hemmten willkürliche Anstandsgesetze, weitläufige Umschweife und Titulaturen, Heuchelei und schamlose Servilität. Das Ihr in der Anrede ward zum künstlichen Er, das Er zum völlig abgeschmackten Sie. Nirgends trat der Mensch selbst hervor, nirgends sprach der Mensch zum Menschen. Die freie soziale Bildung, die in Frankreich längst aufgeblüht war und sich ihre eignen Regeln geschaffen hatte, kam nach Deutschland nicht in ihrem humanen Prinzip, sondern in ihren Regeln hinüber, die nun einen lächerlich-unwahren Zwang ausübten. Eine prüde Moral hielt die beiden Geschlechter ferne voneinander; die Stände waren durch strenge Schranken geschieden und jede Extravaganz der Leidenschaft oder der Begeisterung über die Linien der Satzung und des Herkommens fand an der Menge eine lieblose und verdammungssüchtige Richterin. Da auf solche Art das Leben in jeder Richtung in Formalismus erstarrt war und das Herz der Nation unter einer dicken Eisrinde stillstand, so konnte auch die Poesie ohne Wurzeln in der nationalen Wirklichkeit nur ein dürftiges, künstliches Dasein fristen. Da sie aus dem Quell des lebendigen Menschengefühls nicht zu schöpfen fand, fiel sie bald in geistlose Leere, bald in unerträglichen metaphorischen Bilderprunk; sie war in Form und Ausdruck wie im Inhalt unwahr und konventionell. Obgleich Opitz kaiserlicher Rat gewesen war, stand das Geschäft des Dichters immer noch in schlimmem Ruf und Bürger empfahl sich bei den Göttinger Professoren schlecht durch sein Versemachen. Aus jenem Formenzwange nun, aus der Selbstentfremdung in dürren objektiven Satzungen die Nation zu Wahrheit und Natur zurückzuführen, dem Gemüte, der innerlichen Welt des Subjekts ihr Recht wiederzuerobern, die falschen Konvenienzen zu brechen, die dumpfen Kerker der Pedanterie und Scholastik dem Licht zu öffnen, dies war die Arbeit und die Aufgabe des achtzehnten Jahrhunderts, und auf diesem Punkt ist es, wo Goethe durch seine Dichtungen den unvergänglichen Lorbeer gewann. Alle politischen Fragen lagen bei dieser naturalistisch-ästhetischen Emanzipation außer dem Gesichtskreise. Der Kampf richtet sich gegen die Schranken, die die freie Subjektivität einengen: das Individuum soll mit den tiefen Rätseln und Mysterien seines Inneren, mit der ganzen Unendlichkeit seiner Empfindung das arme Schema der fertigen äußeren Gattungen durchbrechen, es soll zugleich in schöner Selbstbildung die Welt anerkennen und mit der positiven Vernunft ihrer Einrichtungen sich erfüllen; die abstrakten Sätze des hochmütigen, in Kirche und Wissenschaft verhärteten Verstandes sollen sich in dem Lebensstrom der totalen allumfassenden Natur auflösen; die Sitte soll wieder die Wahrheit ursprünglichen Menschengefühls aussprechen und durch schöne Kultur die elende, heuchlerische Moral ersetzen. Wie seit den Zeiten der Reformation über zwei Jahrhunderte lang die Theologie das Szepter geführt und das theologische Interesse den Mittelpunkt gebildet hatte, so setzte diese neue Zeit über den Trümmern der theologischen Welt die Schönheit als Herrscherin ein. Winckelmann führte zuerst die Nation in die Heiligtümer der alten Kunst ein, wo die Versöhnung der Natur und des Geistes sichtbar vollzogen war; in den marmornen Darstellungen griechischer Götter, die die Theologen als Teufelswerke und Götzenbilder der Heiden gebrandmarkt hatten, gingen ihm Ideale der Schönheit und echten Menschlichkeit auf, die er in seiner Kunstgeschichte mit naiver Begeisterung beschrieb. Lessings Bestimmung war es, die Schule, diesen Alp, der auf Deutschland drückte, wegzuwälzen. Mit gewandter Unruhe in alle Gebiete der Wissenschaft und Kunst bald kritisch, bald produktiv Streifzüge machend, störte er überall die hochmütige Sicherheit des gelehrten Besitzstandes und legte Feuer an die morschen hölzernen Burgen, in denen dieser verschanzt saß. Indem er die Stellen bezeichnete, wo die wahre Quelle der Poesie, des echten religiösen Gefühls sprudelte, warf er die Gedichte und orthodoxen Lehren seiner Zeit als leere Hülsen fort. Wie Winckelmann, der Kunstbegeisterte, aus dem alten Luthertum austrat, so wußte auch Lessing nicht bloß in seinen Schriften die umfassendste Gelehrsamkeit in die Form der leichteren dialogischen Prosa zu bringen, sondern warf auch in seinem Leben allen pedantischen Zwang ab. Nathan der Weise, sein letztes Werk, befreite ganz im Sinne des Jahrhunderts die Idee der Menschenliebe und Menschenachtung aus den positiven Religionen, die auf den Haß und die alleinige Formel gebaut waren. Gleicherweise ist auch in Herders langer Schriftstellerlaufbahn die primitive Menschennatur der überall durchklingende Grundton. Auch er suchte das starre Eis der leblos gewordenen Formen durch den warmen Hauch des Gemütes zu schmelzen; in die dürre altlutherische Orthodoxie führte er die belebenden Mächte der Dichtung und Sage, der Liebe und Phantasie, die Mystik, Vision und orientalische Bilderwelt, in die Theorie der Dichtkunst die Natur, die Genialität, das Volkslied, die Unmittelbarkeit der künstlerischen Produktion, die nationelle und historische Charakterbestimmtheit ein. So knüpfte sich an ihn der Anbruch jener Epoche, die stürmend und drängend den inneren Genius aus den Fesseln jeglicher Unnatur zu befreien trachtete. Goethe war das poetische Genie, das diese Befreiung in positiven Dichterthaten vollzog; er wollte nach seinen eignen Worten den Menschen das Gefühl eines edeln und wahren Daseins zum Bewußtsein bringen. Schon in seinen Jugendliedern, die auf die kalte, moralisierende, gemachte Lyrik unmittelbar folgen, trifft die wahrste, naivste, seelenvollste Melodie unser Ohr; im Werther werden alle Leiden und Seligkeiten eines einseitigen Gemütslebens, das mit sich und der Welt in grausamem Bruch ist, vor uns erschlossen; im Tasso ist gleichfalls die innere Welt der Dichterbrust in ihrem thränenvollen Kampf mit der herben Realität, mit der sie eigenwillig und übergreifend sich noch nicht in Einklang gesetzt hat, vor unser Auge gezaubert; der Faust ist das tiefsinnige Drama von dem Ich, das auf sich selbst gestützt an sich verzweifelt, schmerzvoll ringt, in Genuß und Erkenntnis vergeblich sich zu genügen strebt und endlich in freier Wirksamkeit und Thätigkeit den Frieden gewinnt; in der Iphigenie stehen wir auf dem Boden des schon gewonnenen Sieges und die Schönheit einer edeln Seele ist Herrin über die blinde Verworrenheit der Leidenschaft und über Fluch und Frevel grauenvoller Vergangenheit; in den römischen Elegieen ist in dem süßen Genuß befriedigter Liebe, in der unbefangenen Grazie reinen menschlichen Empfindens alle negative, naturfeindliche Moral auch selbst als Feindin aus dem Bewußtsein geschwunden und nur die hineinblickenden Zeugen einer großen untergegangenen Welt mischen Tropfen der Wehmut in den Kelch heiterer Freude, diese mehr lindernd als trübend. So bilden in Goethes Dichtungen überall innere Seelenstimmungen das Thema und in tausend variierenden Modulationen singt er von den Leiden und der Heilung der Brust. Die innere Unendlichkeit des Subjekts hat sich aufgethan und es läutert sich zu Schönheit und Adel. Daher das weibliche Ideal Goethe am herrlichsten gelungen ist, denn des Weibes Bestimmung ist, sich mit der Welt ins Gleichgewicht zu setzen, nicht mit ihr heroisch zu kämpfen. Mit der Politik, wo im Lärm der Leidenschaft und That die innere Musik der Seele verhallt und die stille Entwicklung natürlichen Werdens durch die Empörung des Eigenwillens unterbrochen wird, mit dieser konnte Goethe und das ganze ihn umgebende Geschlecht nichts zu schaffen haben wollen. Wo Goethe ein politisches Thema zu behandeln unternimmt, z. B. im Götz, im Egmont, da verwandelt es sich unter seiner Hand in ein Gemälde innerer Seelenzustände. So bekämpft und verhöhnt auch Lessing die Aristokratie hochgelehrter Perückenhäupter, nirgends die politische Aristokratie, den Sultanismus, die Favoritenherrschaft seiner Zeit. Auch er war ein Literat, kein Publizist. Die Männer des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich kamen in die Bastille, sie mußten ihre Bücher in Holland drucken lassen und diese wurden von Staatswegen öffentlich verbrannt: die gleichzeitigen deutschen Reformatoren blieben in Frieden mit der Zensur, denn ihre Bücher waren auf Befreiung des inneren Menschen und des Privatlebens, nicht auf bürgerliche Emanzipation gerichtet; was sie zerstören wollten, war die Satzung in Kunst, Moral und Sitte; was sie erobern wollten, war die Welt im theologischen Sinne des Wortes. Selbst Schiller, den man als den historischen Dramatiker zu bezeichnen pflegt, hielt sich unter den Kantschen Werken am meisten an die Kritik der Urteilskraft, wo der Kampf der Freiheit in der Schönheit sich versöhnt, und entfaltet in seinen Dramen mehr Neigung zu psychologischen Schilderungen und zum Pathos des Individuums, als Talent für Zeichnung der ehernen Züge der Zeitphysiognomie im großen. Mit Recht sagt Gustav Pfizer über den Wallenstein: Wallenstein macht doch nicht den Eindruck, daß von dem Schicksal des darin auftretenden Helden die Wendung des welthistorischen Krieges und das Schicksal Deutschlands großenteils abhänge; Wallenstein selbst interessiert uns nur als Individuum, als psychologischer, nicht als historischer Held; Deutschland, das blutende, zerrissene und einer noch grausenvolleren Zukunft entgegenschauende Deutschland jener Zeit ist weder in den Piccolomini, noch in Wallensteins Tod vertreten. Auch in der Maria Stuart ist es nicht der Konflikt zwischen dem Staatsinteresse Englands und den Forderungen der Menschlichkeit, nicht der Konflikt zwischen Katholizismus und Protestantismus, auch nicht der zwischen dem sächsischen und dem schottisch-französischen Volksstamm, es ist nicht dieser politische Konflikt, der die Seele des Stücks ausmacht, sondern weibliche Eifersucht führt die tragische Katastrophe herbei und wir befinden uns ganz in dem privaten Gebiet individueller Charakterentwicklung. Ganz in dem Sinne jener Literaturepoche ist es, wenn Schiller in der Ankündigung der Horen sagt, es sei Bedürfnis, durch ein allgemeines höheres Interesse an dem, was rein menschlich ist, die Gemüter wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. Daß auch in den Briefen über ästhetische Erziehung Schiller nicht die ästhetische Kultur zu einem geschichtlichen Durchgangspunkt machen wollte, durch welchen die Völker in den verschiedenen Perioden der Weltgeschichte gehen müssen, um für die politische Freiheit reif zu werden, daß also der ganze Gegensatz für Schiller nicht, wie Gervinus will, ein empirischer Einteilungsgrund des historischen Materials ist, sondern die ästhetische Erziehung nur eine sittlich-schöne Wiedergeburt bezweckt, welche, wird sie jemals vollendet, die politische Wiedergeburt ersetzte und sie enthielte, dies hat Guhrauer vortrefflich gegen Gervinus und dessen einseitige Betonung des historisch-politischen Elementes auseinandergesetzt. Nichts natürlicher also, als daß Goethe, der Dichter des achtzehnten Jahrhunderts (denn das war er, obgleich sein Leben auch das erste Drittel des neunzehnten umfaßte), von dem politischen Geiste unberührt blieb, der jenseit des Rheins so furchtbare Ereignisse ins Leben rief. Das deutsche Publikum war allen politischen Gegenständen gegenüber apathisch, es bewegte sich in ganz anderen Sphären; so auch die Dichter. Ich selbst und mein engerer Kreis, erzählt Goethe von seiner Jugend, befaßten uns nicht mit Zeitungen und Neuigkeiten; uns war darum zu thun, den Menschen kennen zu lernen; die Menschen überhaupt ließen wir gern gewähren. Die Revolution fand zwar anfangs in Klopstock einen enthusiastischen Anhänger, aber wie alles bei diesem Dichter war auch diese Bewunderung eine abstrakte; die Freiheit, die ihm vorschwebte, war eine Seifenblase, die sehr bald zerplatzte; als die Revolution sich auf konkretem Boden nach den Bedingungen der Wirklichkeit gestaltete, als sie wie jedes Ideal in die historischen Verhältnisse eingehend durch diese sich durchkämpfen mußte, da hatte er nicht Sinn für wirkliche Politik genug, um sie in diesem Kampf zu begleiten; er ward der Idee bei der ersten unvollkommenen Gestalt, die sie annahm, untreu und schmähte sie nun mit derselben Grandiloquenz, mit der er sie früher gepriesen hatte. Im allgemeinen, muß man bekennen, liegt in der deutschen Natur wenig politischer Sinn. Wir sind ein Volk der Familie, des Privatlebens, des Gemütes, und dieser Zug geht durch die ganze Geschichte Deutschlands. Der Feudalstaat des Mittelalters, dieses germanische Produkt, ruht auf der Treue, der Liebe, dem Gemüte, der Hingabe des einzelnen an den einzelnen. Der Vasall folgt dem Lehnsherren, der selbst wieder Vasall eines Höheren ist: er ergibt sich dem Dienst einer Persönlichkeit, nicht einem allgemeinen Gedanken. Privatbeziehungen, privatrechtliche Verhältnisse bilden zusammengerechnet den mittelalterlichen Staat. Alles zerfällt in eine bunte Mannigfaltigkeit besonderer Existenzen. Jeder Stand hat seine Rechte und Vorrechte, eine Freiheit steht neben der andern. Eine allgemeine ordnende Vernunft, ein auf dem gleichen humanen Anspruch aller einzelnen ruhendes Gesetz gibt es nicht. Der Baron, der oben auf dem Felsen haust, wird anders gerichtet als der Leibeigene, der unten an die Scholle gebannt ist, beide anders als der Bürger der Reichsstadt; in der Stadt hat jede Zunft ihre Gerechtigkeit, ihr Herkommen, ihren Schutzpatron; dieses Kloster hat Immunitäten, die jenem fehlen; der einzelne steuert nicht dem Staate, sondern demjenigen, dem er pflichtig ist; er gehört in Gesichtskreis und Sitte nicht dem Vaterlande, denn ein solches gibt es nicht, sondern dem Gau, in dem er geboren ist, und auch nicht dem Gau, sondern der Stadt, deren Bürger er ist, und auch nicht dieser, sondern der Zunft, zu der er gehört. Der Feudalstaat ist eigentlich gar kein Staat, weil ihm die Form der Allgemeinheit fehlt und in ihm alles privatrechtlich und lokal ist. Der Sinn für das Lokale und im engsten Sinne Heimische ist in der deutschen Natur vorherrschend. Deutschland hat keine großen Städte erzeugt, wo der Weltverkehr sich drängt, wo das Leben sich zu großen Verhältnissen aufhäuft und in raschem Umschwung fortbraust: höchstens kommen solche Städte und auch die größeren Staaten da vor, wo im Osten das deutsche Blut schon durch Vermischung alteriert ist. In den kleinen Städten unter engen lokalen Verhältnissen hat sich die eigentümliche deutsche bürgerliche Sittlichkeit ausgebildet. Arbeitsam und fleißig mehrt der deutsche Bürger in ruhigem Tagewerk seine Habe, lebt dem kleinen Amte und Gewerbe, erfüllt geduldig seine Pflichten und Gewohnheit und Geduld, diese echt deutschen Genien, führen ihn täglich auf demselben Pfade hin und zurück. Einem hereinbrechenden Landesunglück, dem Kriege, der Feuersbrunst setzt er den passiven Widerstand seines Fleißes, seiner heimischen Anhänglichkeit entgegen: die böse Zeit geht vorüber und mit den alten Gesinnungen richtet sich das alte Leben wieder ein. Individuelle Existenzen und beschränkte Sphären gliedern die Stadt in ihrem Innern, das Staatsganze liegt außer der Reflexion des echten deutschen Bürgers; Verordnungen, höhere Befehle nimmt er mit angeborner Scheu vor der Obrigkeit entgegen; in ferner Glorie schwebt der Fürst vor seiner Phantasie und tief rührt es ihn, wenn dieser durch persönliches Erscheinen, durch Herablassung oder auch nur durch erzählte Anekdoten humanen Benehmens seinem treuen Gemüte näher gerückt wird. Vor einem Kaiser oder König gestanden, ein Wort aus ihrem Munde vernommen zu haben ist eine Ehre, die durch Tradition von Großmutter auf Enkel vererbt wird; wer bei der Durchreise des Prinzen durch die halbgeöffnete Thür hat lauschen können, weiß nachher seinen horchenden Freunden von der wunderbaren Einfachheit oder dem wunderbaren Ueberfluß der fürstlichen Tafel, Garderobe u. s. w. zu erzählen. Dem deutschen Bürger in seiner stillen Privatexistenz verwandelt sich alles Politische in ein Persönliches, eine Anekdote. In dem Wochenblatt nimmt er besonders diejenigen Stellen mit Interesse auf, die von merkwürdigen Naturspielen, sonderbaren Prozessen und Testamenten und dergleichen handeln. Höchstens abends mit dem Nachbar beim Kruge Bier liebt er es, zu kannegießern und aus gemütlichem Hafen sich erzählen zu lassen, wie weit hinten in der Türkei die Völker aufeinander schlagen. Er phantasiert lieber über die Politik des Auslands, als er in den einheimischen Angelegenheiten einen Schritt thut und, wenn bei andern Nationen morgens im Kaffeehause aus den Zeitungsblättern die Stimmung sich bildet, aus der die Thaten des Tages hervorgehen, so politisiert der deutsche Bürger abends nach vollbrachtem Tagewerk zur Erholung auf Museen, Ressourcen, Kasinos und legt sich dann zu Bett, um alle Träume und Großthaten zu verschlafen. Er baut sich in seiner Häuslichkeit, in seinem Familienleben seine eigene kleine Welt, die mit Wall und Graben umzogen ist und von der aus er das übrige große Welt- und Völkerleben als ein Fremdes und Feindliches sich gegenüberliegen sieht; er ist in seinem Hause nach Goethes Ausdruck wie im Schiff auf dem Meere. Der Romane lebt in der Gesellschaft, im politischen Gewühl, auf der Straße und flieht seine vier Wände als drückend und beengend und den Aufenthalt in ihnen als that- und gedankenlos; der Deutsche atmet auf, wenn er seine Schwelle wieder betritt, die sein Heiligtum von der harten Außenwelt scheidet. Dort trägt alles das Gepräge gemütlicher Innigkeit, behaglicher Ruhe, des Langsamen, Gewohnten und Ererbten von dem Schlafrock und der Pfeife bis zu den blankgescheuerten Thürgriffen, dem Familiensalzfaß, dem einförmigen Tiktak der Wanduhr, die noch vom Großvater stammt, der alten Bibel, auf deren erstem Blatt der Geburtstag von Vater, Mutter, sämtlichen Kindern und beiden Großeltern steht, der Wochenordnung, wonach der Montag diese, der Sonnabend jene bestimmte Speise bringt u. s. w. In der deutschen Ehe, der deutschen bürgerlichen Häuslichkeit und lokalen Genügsamkeit waltet Treue und Gemüt, in der Thätigkeit der mehr politischen Völker Verstand und Wille. Mit dem Familienprinzip hängt die aristokratische Ueber- und Unterordnung, die gleichfalls dem deutschen Stamme eigen ist, eng zusammen. Das Adelsgefühl ruht auf dem Gefühl der unverletzten Heiligkeit der Familie, die sich bis auf Voreltern und Enkel erstreckt und alle Glieder derselben, ja das Stammschloß, die Bilder, Sammlungen und Diener zu einem gemütlichen Ganzen vereinigt. Tritt der Deutsche aus der Familie heraus, so empfängt ihn nicht die Welt oder der Staat, sondern der Stand; die Erweiterung des Familiengeistes ist der Standesgeist. Daher in Deutschland Rangstufen, Kastenabsonderungen, Absonderung der höheren und der niederen Klassen, die in romanischen Ländern, wo alle durch eine gewisse Gleichheit des Benehmens, der Empfindung und der Sprache verbunden sind, nicht vorkommt. Abneigung und Scheu trennt in Deutschland den Zivilisten vom Militär, den Edelmann vom Bürger, diesen vom Bauer, den Kaufmann vom Gelehrten; auch hier also das vorherrschende Prinzip die Privatexistenz. Alle diese Züge sind seit Goethes Zeit durch die fortgehende Geschichte gemildert worden; in den größeren Städten hat sich das Leben dem der übrigen europäischen Länder ähnlich gestaltet und die Eisenbahnen werden dazu beitragen, die nationellen Schranken und die partikulären Lebenskreise zu erweitern. Goethe selbst aber und sein Jahrhundert hatten keinen Beruf, weder politisch zu wirken noch eine politische Wirksamkeit, die nicht vorhanden war, poetisch darzustellen. Die französische Revolution war etwas Fremdes, von dem deutschen Gefühl nicht Geteiltes; sie fand in der Masse kein Echo und konnte also auch nicht Stoff eines Epos sein. Aber noch war jenes stille und sittliche deutsche Familien- und Bürgerleben vorhanden, dort war ein echt nationaler Kern gegeben; noch bestand jene zwar beschränkte, aber in sich volle und tiefe Empfindung, die allmählich von den Wogen der anbrechenden politischen Aera verschlungen und in dem Mechanismus und der Berechnung der Fabrikindustrie erstickt werden sollte. Hermann und Dorothea ist das Epos von der deutschen Bürgertugend, das Epos von der Familie und dem Privatbesitz, dieser Substanz des deutschen Geistes. Es ist darum ein episches Idyll, wie es Jean Paul benannte, ein bürgerliches Epos nach Humboldts Bezeichnung, kein heroisches und historisches. Idyllisch ist es, weil das einfach Menschliche, die überall wiederkehrende, auf dem Menschengefühl selbst ruhende Sitte, die stillen Verhältnisse, mit denen die ewig gleiche Natur selbst den Menschen umgibt, heiter und warm uns aus dem Gedichte entgegenwehen. In einer Zeit der Reflexion und der Zerfallenheit machen diese Darstellungen und Zustände nach Hegels Bemerkung dasjenige in uns lebendig, was zum unvergänglichen Reiz in den ursprünglich menschlichen Verhältnissen der Odyssee und der patriarchalischen Gemälde des Alten Testaments gehört, das Freien am Brunnen, das Leben mit den Herden, Zorn und Segen des Vaters, das Keimen der Familie aus der Familie u. s. w. Erhöht wird der Reiz dieser Schilderung noch durch den Umstand, daß wir das idyllische Privatleben gleichsam noch am Rande des Abgrunds in den letzten Momenten vor seinem Untergange fassen: schon kündigt sich das politische Zeitalter dumpfgrollend im Hintergrunde an; schon steht der festgestalteten Lebensordnung unsrer Familie die wilde Auflösung des Zuges der Vertriebenen gegenüber und, wie ferne Gebirge vom Horizont in ein friedliches Thal hinübersehen, so hallen die gewaltigen Ideen und wilden Männer und furchtbaren Ereignisse der Revolution aus gedämpfter Ferne bis in unsre idyllische Welt, die durch den Kontrast nur noch inniger an unser Herz tritt. Hierin könnte man Hermann und Dorothea mit Virgils Eklogen vergleichen, wo gleichfalls ländliche Gemälde auf den schrecklichen Hintergrund der römischen Revolutionsgeschichte aufgetragen werden, nur daß bei Virgil die innere Wahrheit der Darstellung fehlt, die an Hermann und Dorothea entzückt. Das Bewußtsein eines glücklichen Privatlebens dem Schwanken politischer Umwälzungen gegenüber wird in dem Gedichte selbst an mehreren Stellen deutlich ausgesprochen. So sagt die Mutter zu Hermann: Denn es ist deine Bestimmung, so wacker und brav du auch sonst bist, Wohl zu verwahren das Haus und stille das Feld zu besorgen. Und der Pfarrer verteidigt in einer herrlichen Schilderung das verharrende, immer wiederkehrende Leben des ruhigen Bürgers: Aber jener ist auch mir wert, der ruhige Bürger, u. s. w. Und den gleichen Gedanken als den Sinn und das Resultat des ganzen Gedichtes spricht Hermann am Schlusse aus: Desto fester sei bei der allgemeinen Erschüttrung, Dorothea, der Bund! u. s. w. Hermann und Dorothea ist so wenig ein politisches Gedicht, daß es vielmehr in seiner innersten Substanz antipolitisch ist, daß es uns als ein unverdorbenes Vermächtnis aus jener stillen Zeit überliefert ist, die den Stürmen der politischen Epoche vorausging. Es ist aus der inneren Tiefe der deutschen Nationalität hervorgehoben, die überall nur die zweite Rolle spielen wird, wo die Aufgabe aus der Stille der Natur in den Kampf des Willens, aus der Familie in den Staat sich versetzt. Karl Grün wendet Goethes Abkehr von der Politik positiv und will darthun, die Erringung abstrakter politischer Rechte sei Goethe zu wenig gewesen und er habe weiterblickend jenes ganze Streben als zu eng und leer verschmäht. Allein Goethe ruht nicht auf der überwundenen politischen Bewegung, nicht auf deren Konsequenzen, sondern auf der Zeit vor der Revolution, wo jene Bewegung noch gar nicht hervorgebrochen war. Der Kommunismus setzt die Tendenzen des Liberalismus als durchgeführt voraus; das System politischer Gleichheit, die gleiche Geltung abstrakter Persönlichkeit ist ihm nur nicht genug: er will jedem einzelnen auch gleiches Wohlsein, gleiche Möglichkeit humaner Bildung, wahrhaften Anteil an den materiellen und geistigen Gütern des Lebens verbürgen und den Individualismus in einem sozialen Organismus zugleich binden und befreien. Nun strebt zwar auch die deutsche Dichtung nach dem Besitz humaner Schönheit, aber ohne dem Leben die vorgefundene, durch Naturkräfte ihm gegebene Gestalt nehmen zu wollen. Im Gegenteil, die Idee der Natur ist es, die jenes ganze Geschlecht, an dessen Spitze Goethe steht, bei seinem Abfall wie bei seinem Schaffen leitet. Der Frieden der Natur, ihre stille Entwicklung, ihr Gewährenlassen wird das Vorbild auch im Menschenleben: Was die Pflanze willenlos ist, sei du es wollend, das ist's. Die Liebe wird wieder in ihr Recht eingesetzt, ebenso die dunkle mächtige Naturkraft des Genies, die Familie, die Tradition, die Sage, die Poesie. Der Mensch fühlt sich mitbegriffen in dem großen schaffenden All, ordnet sich ihm unter und wird in offener Hingabe, im Drang der Umstände und Bedingungen zum Gleichgewicht schöner Bildung getragen. Aller starren Satzungen, durch welche die Menschenwillkür der Natur entgegentritt, allem leblosen Dünkel des Verstandes, den abstrakt formalistischen Diktaten der Kirche entzieht sich das Subjekt durch Wiederherstellung lauteren Menschengefühls in sich. Alle Unruhe der kämpfenden Geschichte, jeder Anspruch, empörerisch Leben und Gesellschaft umzugestalten, wird von Goethe als dem Werden und Wachsen der Natur entgegengesetzt verabscheut. Die ausbrechenden politischen Stürme sind daher störend, sie drängen nach Goethes eigenem Ausdruck ruhige Bildung zurück. Der Sozialismus betrachtet nun zwar sein Objekt, den Menschen, auch nicht als abstraktes Rechtsindividuum, sondern als lebendiges Ganzes, dem in allen Bedürfnissen und in seiner vollen Bestimmung Rechnung getragen werden soll; er will ihn kein Opfer werden lassen weder der negativen Moralität noch den Scheinbildern religiöser Transscendenz; hier in dem Rhodos dieser reichen Gegenwart soll er genießen und sich bilden und der Fülle der Welt sich bemächtigen. Aber der Sozialismus will mit dem autonomischen Prinzip der Revolution eingreifen und gestalten und das Recht des Individuums auf allseitige Existenz in Vollzug setzen. Der Sozialismus verwirklicht ein philosophisches Ideal, er ist revolutionär und so dem naturphilosophischen Humanismus Goethes gerade entgegengesetzt. Goethe steht außer der Geschichte, der Kommunismus fußt auf ihr, indem er ihre bisherigen Resultate bekämpft. Goethe läßt bei seiner Humanisierung des Individuums den Staat außer Augen, der Kommunismus will gerade die leere Form des Staates erfüllen. Goethe ist unpolitisch, der Kommunismus ist ultrapolitisch. Und welche Verwandtschaft hätte die affirmierende Anerkennung des Privateigentums in Hermann und Dorothea, welches Gedicht Karl Grün auch weislich übergeht, mit den Tendenzen des Kommunismus? Gewiß finden wir gerade hier den echten Goethe reiner als in manchen Grillen der Wanderjahre, die der Greis geschrieben. Auch Dahlmann bespricht in seiner Geschichte der französischen Revolution das Verhältnis des kritischen Geistes in Frankreich zu der deutschen Literaturperiode des achtzehnten Jahrhunderts. Nachdem er Montesquieu, Rousseau und Voltaire genannt, fährt er fort: Faßt man diese drei hervorragenden Köpfe zusammen und fügt noch als vierten Mann den genialen Diderot hinzu, der noch mehr ätzende Elemente im Geiste trug, so erkennt man recht deutlich, daß der vierzehnte Ludwig bei weitem höhere Güter als bloß industrielle antastete, damals als er seine fleißigen Reformierten ausstieß; denn er schnitt mit ihnen das Asyl für eine unabwendbare Entwicklung der menschlichen Geisteskräfte ab, welche sich in dieser bedächtig prüfenden Glaubensform unschädlich hätte ablagern können; der Protestantismus ist ja nun einmal begnügt, wo man ihn auch allenfalls bloß duldet, der Katholizismus dagegen will die Alleinherrschaft führen und Ludwigs Dragoner verhalfen ihm dazu; aber herrscht denn am Ende eine Kirche wirklich, von welcher sich die ersten Köpfe der Nation mit Trotz und Geringschätzung abwenden? Ganz anders stand auch diese Sache im deutschen Reiche; denn in demselben achtzehnten Jahrhundert trug der deutsche Reichsboden vier großbegabte Männer, welche ihr gediegenes Wesen aufrichtig hinstellen durften, wie es war, unbekümmert darum, wie es zu den Glaubenssatzungen stehe, welchen der westfälische Frieden Schutz verleiht: Winckelmann, Lessing, Goethe und Schiller; Pflanzen dieser edeln Gattung konnten nur auf einem Boden gedeihen und ihre unsterblichen Früchte zeitigen, auf welchem der Protestantismus ein Recht des Daseins hat und sich zugleich mit dem Katholizismus friedlich eingewöhnen und ausgleichen soll, da denn der unwiderstehliche Wert solcher höheren Naturen den seichten Verketzerungstrieb nach beiden Seiten zu Boden wirft; was diese deutschen Männer nicht ohne heißen Kampf zwar, aber ohne Verbitterung ihres lichten Innern überwanden, die Hindernisse, welche dumpfer Glaubenseifer einer edeln Geistesbildung entgegensetzt, an diesen Klippen scheiterten jene starken Geister Frankreichs und es schlug hier die verwandte Richtung in den Witz des Grimmes und eine giftige Leichtfertigkeit um, weil sie keinen erlaubten Boden fand. -- Hier haben wir die beliebte deutsche Weise, religiöse Kategorieen überall zum Mittelpunkt von allem zu machen und sie auf Gebiete zu übertragen, wo in ihnen die Bewegung gar nicht liegt. Dahlmann teilt also die vulgäre Meinung protestantischer Theologen, Frankreich sei deshalb in die Revolution gefallen, weil der Protestantismus dort nicht hatte durchgesetzt werden können, womit die ebenso verbreitete katholische Ansicht, die Revolution sei nur die natürliche Konsequenz des in der Reformation enthaltenen Aufruhrprinzipes, in direktem Widerspruch steht. Nun ist es aber reine Täuschung, das Luthertum oder den Calvinismus des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts für eine liberale Lehre zu halten, die einen unschädlichen Abzugskanal für den Vorwitz und das Neuerungsgelüst der Menschen gebildet hätte. Der Protestantismus setzte Autorität gegen Autorität, den geschriebenen Buchstaben gegen die Tradition; die lutherische Dogmatik ist in keinem Punkte freisinniger, in mehr als einem naturwidriger als die katholische; nicht die Autonomie der Vernunft, deren Verstocktheit und Blindheit die Reformatoren nicht genug einschärfen können, sondern der Glaube und die Schrift ist die Losung des Kampfes. Den Scheiterhaufen der Inquisition steht die Verbrennung Servets gegenüber, die von Melanchthon öffentlich gebilligt wurde. Mußte Galilei im Kerker widerrufen, so mußte der Philosoph Wolff auf Anklagen der Pietisten Halle und Preußen binnen vierundzwanzig Stunden verlassen bei Strafe des Stranges. Ludwig der Vierzehnte trieb die Reformierten durch Dragoner zum Lande hinaus, aber das erzprotestantische England verfolgte die Katholiken auf nicht minder empörende Weise und emanzipierte sie erst vierzig Jahre nach der französischen Revolution und auch da nur teilweise. Erst als durch das mannigfaltigste Zusammenwirken der verschiedensten Ursachen, besonders durch den Einfluß der Naturwissenschaften die Glaubensfinsternis gebrochen ward, begann der Protestantismus die Geistesfreiheit, die außer ihm gewonnen worden, für sein Prinzip zu erklären und auch das in ganz allgemeiner theoretischer Weise, da er gleichzeitig =in praxi= der Aufklärung jeden Schritt streitig machte. Winckelmann freilich fand in der hellenischen Kunst die selige Anschauung einer mit dem Geiste versöhnten schönen Sinnlichkeit; aber ist dies protestantisch, da doch der spezifische Charakter des Protestantismus gerade in der Sittenstrenge liegt, die er gegen die Sinnenfreundlichkeit des Katholizismus geltend machte? Mit keiner Epoche hat das Aufblühen der Poesie in Deutschland eine tiefere Aehnlichkeit als mit dem Humanismus Italiens im fünfzehnten Jahrhundert, der ganz so auf allmählicher Ueberwindung der Asketik des Mittelalters ruht, wie der deutsche auf Ueberwindung der lutherischen Theologie. Gerade gegen jenen Schönheitskultus in Italien aber war die Reformation gerichtet. Freilich ist die genannte Blütezeit Italiens doch in mancher Beziehung reicher als die drei Jahrhunderte später erfolgende deutsche, reicher um das mannigfache historische Leben, das gleichzeitig in Italien nicht fehlt. Stellt sich dem wunderbaren Genius Rafaels der ihm so nahe verwandte Goethes gegenüber, so suchen wir in Deutschland vergeblich nach einem Macchiavelli. Daß die politische und die humane Bildung getrennt sein können, sehen wir nicht nur in Deutschland, sondern auch in England. Nirgends ist das reine Menschengefühl weniger entwickelt als in England, diesem angeblich hoch-zivilisierten Musterlande unsrer Doktrinärs, nirgends die Liberalität der Lebensansicht durch eine dickere Mauer theologischer Satzung und konventioneller Moral behindert: Heuchelei und Prüderie, Nutzen und Selbstsucht, Pharisäismus, Barbarei in der Kunst, öffentliche Herrschaft der Formel bilden eine trübe Atmosphäre der Unfreiheit, die auf dem englischen Leben und Denken lastet. Jene ideale Bildung des inneren Menschen, die Deutschland im achtzehnten Jahrhundert erreichte, ist bis auf den heutigen Tag in dem puritanischen England nicht erreicht und es kann zu ihr nicht anders gelangen, als durch politische Unglückstage. Auch in Frankreich war unter all den mannigfachen Bestrebungen nach dem Licht die Kunst und die Läuterung der Kunstempfindung nicht mitbegriffen. Dennoch bildet Frankreich für die ästhetische Verjüngung Deutschlands im achtzehnten Jahrhundert die Voraussetzung. Lessing bekämpfte Voltaires Poetik, aber den Mut zu allen seinen kritischen Thaten gab ihm nur die breite Basis der Aufklärung, die Voltaire über den ganzen Weltteil gelegt. Auch die geniale Auflehnung in Goethe und seinen Genossen ist ohne den unmittelbar vorausgegangenen Kampf der kritischen Geister Frankreichs, der in einer positivistisch erstarrten Welt Luft und Licht schaffte, nicht denkbar. Für einen Geschichtschreiber wie Dahlmann ist es nun gewiß ein unglücklicher Gedanke, nach Wegen zu spähen, wie das von ihm geschilderte Ereignis hätte vermieden werden können, und friedliche Archäologen, Literaten und Dichter wie Winckelmann, Lessing, Goethe und Schiller höher zu schätzen, als historische Männer wie Voltaire und Rousseau. Nach dem Maß der Geschicke des Weltteils und der Geschichte der europäischen Menschheit im großen gemessen, ist der einzige Voltaire unendlich wichtiger als alle vier genannten Deutschen zusammen, und es müßte eine wahre Festlust für einen Historiker sein, seinen Einfluß zu schildern. Stoffquelle, Entstehung und Aufnahme. Goethe liebte es nicht, wenn man ihn fragte, woher er den Stoff zu seinen Dichtungen genommen, wenn man gleichsam in die geheimnisvolle Werkstatt treten wollte, in der sie entstanden. So verriet er auch nicht, wie er zu der unserm Gedicht zu Grunde liegenden Fabel gekommen. Dennoch hat er später in Wahrheit und Dichtung, in seiner Erklärung der Harzreise im Winter u. s. w. selbst den Schleier, der die Entstehung mancher seiner Gedichte verhüllte, vor den Augen der Neugierigen weggezogen. Auch zu Hermann und Dorothea ist später die Quelle mit Wahrscheinlichkeit in einem Vorfall entdeckt worden, der sich im Jahre 1732 bei Vertreibung der Protestanten aus Salzburg ereignete. Nachdem schon im Jahre 1809 im Morgenblatt jemand darauf aufmerksam geworden, mußte 1827, wo Panses neue ausführliche Geschichte dieser Auswanderung erschien, jedem Leser die Aehnlichkeit einer darin erzählten kleinen Begebenheit mit der Fabel von Hermann und Dorothea in die Augen fallen. Geschöpft ist dieselbe ursprünglich aus einigen von der Salzburger Emigration handelnden und mit dem Ereignis gleichzeitigen Schriften. Eine von ihnen oder vielleicht ein neuer Abdruck in irgend einem Zeitungs- oder Unterhaltungsblatt muß Goethe in die Hände gefallen sein. Wir geben die betreffende Stelle aus einer kleinen Flugschrift vom Jahre 1732, die die Quelle der übrigen Berichte gewesen zu sein scheint und den Titel führt: Das liebthätige Gera gegen die Saltzburgischen Emigranten d. i. kurze und wahrhaftige Erzählung, wie dieselben in der gräflich Reuß-Plauischen Residenzstadt Gera angekommen. Dort heißt es (nach dem Abdruck in einem Aufsatz von Yxem, woselbst sich auch die drei übrigen Relationen in vergleichender Zusammenstellung nebst interessanten Bemerkungen finden): In Alt-Mühl, einer Stadt im Oettingischen gelegen, hatte ein gar feiner und vermögender Bürger einen Sohn, welchen er oft zum Heyrathen angemahnet, ihn aber dazu nicht bewegen können. Als nun die Saltzburger Emigranten auch durch dieses Städtgen passiren, findet sich unter ihnen eine Person, welche diesem Menschen gefällt, dabey er in seinem Herzen den Schluß fasset, wenn es angehen wolle, dieselbe zu heyrathen; erkundigt sich dahero bei denen andern Saltzburgern nach dieses Mädgens Aufführung und Familie, und erhält zur Antwort, sie wäre von guten, redlichen Leuten und hätte sich jederzeit wohl verhalten, wäre aber von ihren Eltern um der Religion willen geschieden und hätte solche zurücke gelassen. Hierauf gehet dieser Mensch zu seinem Vater und vermeldet ihm, weil er ihn so oft sich zu verehlichen vermahnet, so hätte er sich nunmehro eine Person ausgelesen, wenn ihm nur solche der Vater zu nehmen erlauben wolle. Als nun der Vater gerne wissen will, wer sie sey, sagt er ihm, es wäre eine Saltzburgerin, die gefalle ihm, und wo er ihm diese nicht lassen wolte, würde er niemalen heyrathen. Der Vater erschrickt hierüber und will es ihm ausreden, er läßt auch einige seiner Freunde und einen Prediger ruffen, um etwa den Sohn durch ihre Vermittelung auf andere Gedancken zu bringen; allein alles vergebens. Daher der Prediger endlich gemeinet, es könne Gott seine sonderbare Schickung darunter haben, daß es sowol dem Sohne, als auch der Emigrantin zum besten gereichen könne, worauf sie endlich ihre Einwilligung geben, und es dem Sohn in seinen Gefallen stellen. Dieser gehet sofort zu seiner Saltzburgerin und fragt sie, wie es ihr hier im Lande gefalle? sie antwortet: Herr gantz wohl. Er versetzet weiter: ob sie wol bey seinem Vater dienen wolte? Sie sagt: gar gerne; wenn er sie annehmen wolle, gedencke sie ihm treu und fleißig zu dienen, und erzehlet ihm darauf alle ihre Künste, wie sie das Vieh füttern, die Küh melcken, das Feld bestellen, Heu machen und dergleichen mehr verrichten könne. Worauf sie der Sohn mit sich nimmet und sie seinem Vater präsentiret. Dieser fragt das Mädgen, ob ihr denn sein Sohn gefalle, und sie ihn heyrathen wolle? Sie aber, nichts von dieser Sache wissend, meinet, man wolle sie vexiren, und antwortet: Ey, man solle sie nur nicht foppen, sein Sohn hätte vor seinen Vater eine Magd verlangt, und wenn er sie haben wolle, gedächte sie ihm treu zu dienen und ihr Brod wohl zu erwerben. Da aber der Vater darauf beharret und der Sohn auch sein ernstliches Verlangen nach ihr bezeiget, erkläret sie sich: Wenn es denn Ernst seyn solte, so wäre sie es gar wohl zufrieden, und sie wolte ihn halten, wie ihr Aug im Kopf. Da nun hierauf der Sohn ihr ein Ehe-Pfand reichet, greiffet sie in den Busen und sagt: Sie müsse ihm doch auch wol einen Mahl-Schatz geben; womit sie ihm ein Beutelgen überreichet, in welchem sich 200 Stück Ducaten befunden. Vergleichen wir diese Erzählung mit dem darauf gebauten Goetheschen Gedicht, so tritt der ganze Unterschied des bloßen Faktums und prosaischen Vorfalls mit einer von der Phantasie wiedergeborenen idealen Begebenheit hervor. Der Dichter hatte mit dem rohen Stoffe, nachdem er ihn aller Zufälligkeit entkleidet, eine doppelte Prozedur vorzunehmen: er mußte ihm eine Seele, eine Idee einhauchen und von diesem Lebenspunkt aus die Form sich gestalten und bis ins einzelnste individuell herausarbeiten lassen. Es war eine Familienbegebenheit, eine auf verworrener Wanderung in einer kleinen Stadt zu stande gekommene Heirat, die in der Anekdote vorlag: die Familie, Darstellung des in der Familie und dem Bürgertum waltenden und durch Tradition sich immer neu erzeugenden Geistes unmittelbarer Sittlichkeit, Kontrastierung desselben mit der Unruhe geschichtlicher Kämpfe, dies wurde folglich die Idee des Gedichts, nach der sich nun alle übrigen Teile desselben dienend richteten. Um die Familie zu vollenden, war auch die Mutter nötig, die in der Anekdote fehlt; die dort erwähnten mehreren Freunde zog der Dichter der Ueberschaulichkeit wegen in zwei zusammen; mit Vater, Mutter, Sohn, zwei Hausfreunden und der hinzukommenden Tochter war der menschliche Kreis der Familie vollendet. Alle diese Gestalten empfingen den Typus der reinen Menschlichkeit und der besondern Sphäre, deren Vertreter sie waren, während der Bürger und sein Sohn nur reale Individuen waren mit allem Eigensinn und Zufall der endlichen Existenz; zugleich aber wurden sie zu allseitig bestimmten und plastisch verkörperten Individuen, während die prosaische Quelle nur ganz allgemein die Personen nannte, mit denen jener Vorfall sich ereignet hatte. Der Gastwirt, der Pfarrer, der Apotheker vertreten die drei Hauptfiguren jeder kleinen Stadt. Daß das Mädchen dem Jüngling einen Mahlschatz von zweihundert Dukaten gereicht habe, blieb als eine unreine Zuthat der Wirklichkeit weg. Der so im großen umgestaltete Stoff mußte nach allen Seiten motiviert, durch Belebung im einzelnen nahe gerückt, nach Zeit, Lokalität und Umständen als gegenwärtig vor unsre Phantasie gestellt werden. Dies alles hat der Dichter geleistet und, wie viel dazu gehörte, welchen Reichtum schöpferischer Akte bei aller Einfalt diese Belebung des Stoffes erforderte, lehrt ein Blick auf die Quelle. Mit fester Bildnerhand, deren Züge überall von der Inspiration der Phantasie wie von der bewußten Einsicht gereifter Kunsterfahrung geleitet werden, hat er den Plan folgerichtig entworfen, sicher durchgeführt, an jedem Punkte festgehalten, die Personen eigentümlich charakterisiert und zugleich zu idealen Typen generalisiert, die Lokalität so individuell bestimmt, daß wir sie kennen wie unser Vaterhaus, die Zeit endlich so glücklich gewählt, daß Familie und Bürgertum gerade in jenem bestimmten Moment von der innigsten Lebenswärme durchdrungen erscheinen. Die Salzburgische Religionszwistigkeit nämlich war eine verschollene, verhältnismäßig kleinliche Angelegenheit: der Dichter ließ sie fort und setzte die französische Revolution an ihre Stelle, die bei weitem mächtiger die gemütliche Privatexistenz erschütterte und von deren ergreifenden, das heterogen gestimmte Gemüt des Dichters zerrüttenden Eindrücken er sich soeben zu ästhetischer Freiheit der Betrachtung wiedererhoben hatte. Zugleich mußte nun das thüringische Städtchen zu einem Städtchen am Rhein werden und danach die ganze Welt der Sitten und die Oertlichkeit im einzelnen sich richten. Goethe glaubte an dem Stoffe einen besonders glücklichen Fund gemacht zu haben. Er schreibt an Heinrich Meyer: der Gegenstand selbst ist äußerst glücklich, ein Sujet, wie man es in seinem Leben nicht zweimal findet; wie denn überhaupt die Gegenstände zu wahren Kunstwerken seltener gefunden werden, als man denkt, deswegen auch die Alten beständig sich nur in einem gewissen Kreise bewegen. Die letztere Bemerkung zu prüfen, würde hier zu weit führen; wir erinnern nur an Friedrich Vischers geistvolles Wort, die Findung des Stoffes sei dem geheimen Wechselgespräche zwischen Zufall und Genius zu überlassen, an dem Instinkt habe der Künstler seine Wünschelrute, an dem Zufall seinen Boden. Auch die Idee zu Hermann und Dorothea hatte Goethe schon mehrere Jahre mit sich herumgetragen, wie Schiller an Körner schreibt. Es ging also mit diesem Gedicht wie mit den meisten der übrigen Dichtungen Goethes: er trägt sie lange, sie werden langsam reif, eine gewisse Weichlichkeit hält ihn ab, die Schmerzen und die Arbeit, die mit der Ablösung verbunden sind, zu übernehmen; auch wird ihm der geheime innere Schatz so lieb, daß er ihn ungern an die Außenwelt entläßt. So gehen viele Goethesche Konzeptionen ganz verloren, weil ihre Geburtsstunde niemals kam; andre blieben Fragment, Entwurf; bei andern kam der Moment der eigentlichen Niederschlagung zu spät, d. h. des Dichters Lebensalter war darüber hinaus. Eine alte Idee war so die Braut von Korinth, die um dieselbe Zeit entstand und von deren befreundeten Gestalten der Dichter ungern schied. Manches überließ er auch Schiller. Der Moment der Ausführung war aber bei Hermann und Dorothea ein sehr glücklicher. Mit niemand war über den Plan hin- und hergesprochen worden, wie etwa bei Wilhelm Meister, also kein innerer Zweifel, keine störende Reflexion; die Geschwindigkeit der Produktion, wie sie Goethe in jugendlichen Jahren besessen, war wiedergekehrt. Die Ausführung, schreibt Schiller an Körner, die gleichsam unter meinen Augen geschah, ist mit einer mir unbegreiflichen Leichtigkeit und Schnelligkeit vor sich gegangen, so daß er neun Tage hintereinander jeden Tag über anderthalb Hundert Hexameter schrieb. Schiller mußte dies unbegreiflich sein, da Schiller, von der Natur nicht so begünstigt, überhaupt der Schönheit und Vollendung des Daseins sich nicht so unbefangen und göttlich heiter erfreuend, alle seine Produkte mit ernstem Willen und mühevoll der Natur abtrotzen und abringen mußte, wovon natürlich die Spuren immer noch sichtbar blieben. Die Ausführung geschah übrigens im Herbst 1796 teils in Weimar und Jena, teils in dem lieblichen Bergstädtchen Ilmenau. Vossens Luise hatte das Gedicht zwar »nicht veranlaßt, aber doch neuerdings geweckt«: beide Gedichte sind übrigens himmelweit verschieden, wie wir später sehen werden, und es ist lächerlich, sie vergleichen zu wollen. Goethe war selbst mit dem Gedicht sehr zufrieden, was immer ein günstiges Zeichen ist: es war der Prozeß der Entäußerung also nie vor sich gegangen. Er liebte das Gedicht vorzulesen, was er nie ohne Thränen der Rührung konnte. Zum erstenmal geschah es ihm auch, daß das Publikum gleich anfangs zufrieden war, daß ein freudiger Widerhall ihm antwortete, während er sonst immer erst sein Volk allmählich zu sich heranziehen und immer erst eine Generation vergehen mußte. Seine philisterhaften prosaischen Feinde, die preußische Schule mit ihrem beschränkten sogenannten gesunden Menschenverstande mäkelten dennoch auch an diesem Gedichte herum; Kritiker der alten Schule nahmen eine wohlweise Miene an. Der Rezensent z. B. in der neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste sagt, die einen hätten das Gedicht ebenso sehr erhoben, als andre es herabgesetzt hätten; wir glauben für unsre Person, daß es ebensowenig ohne Einschränkung gerühmt als ohne Einschränkung getadelt werden könne. Also mattherzige Mäßigung, wie wir sie auch bei den jetzigen Gegensätzen, den religiösen und politischen, bei Alltagsköpfen finden, die sich dabei sehr weise dünken. Das Gedicht, fährt er fort, liegt auf dem Gange der epischen und mimischen Gattung: Unsinn! Goethe sandte seinem Epos ein kleines elegisches Gedicht nach unter dem Titel Hermann und Dorothea, das sich unter den lyrischen Gedichten findet und worin er wie ein Vorredner von sich, seinem Publikum, seinem Werke spricht. Dennoch ist in dem schönen Gedichte alles Prosaische und bloß Individuelle durch eine ganz poetische Behandlung ausgelöst. Ein Hauch menschlich-natürlicher Lebenseinfalt, ein Zug rührender Vertraulichkeit durchweht diese Worte; man muß das Gedicht lesen, nachdem man Hermann und Dorothea gelesen, um auch den liebenswürdigen Dichter selbst, sein Haus, seine Person sich nahe gerückt zu sehen. Er klagt über kommendes Alter und bittet das Geschick nur um zweierlei, um die fortwährende Gunst der Muse und um einen stillen und frohen häuslichen Kreis; beides wird ihm die Jugend erhalten und die Heiterkeit nicht erlöschen lassen. Heller flamme das Feuer im Kamin, das die Gattin schürt und in das der Knabe spielend das Reis wirft. Der Wein fehle im Becher nicht, die Freunde mögen kommen und sich zu freundlichen Gesprächen niederlassen und des Dichters neuestes Werk hören. Auf sehr treffende und herzliche Weise spricht er selbst von diesem seinem Lieblingskinde; den idyllisch-idealen Charakter deutet er in den Worten an: Deutschen selber führ' ich euch zu in die stillere Wohnung, Wo sich nah der Natur menschlich der Mensch noch erzieht. Auch daß Krieg und Revolution als Hintergrund die einfach rührende Idylle trägt, wird in den folgenden Versen angedeutet; dann sagt der Dichter: Hab' ich euch Thränen ins Auge gelockt und Lust in die Seele Singend geflößt, so kommt, drücket mich herzlich ans Herz! Interessant sind auch die literarischen Anspielungen in dem Gedichte und die Weise, wie der Dichter auch literarische Kritik in die Grazie elegischer Poesie aufzulösen verstand. So freut er sich darüber, daß Friedrich August Wolf den einen Dichter Homer in mehrere Rhapsoden zerlegt hat, denn der _eine_ war zu groß und schlug allen Mut nieder: Erst die Gesundheit des Mannes, der endlich vom Namen Homeros Kühn uns befreiend uns auch ruft in die vollere Bahn! Denn wer wagte mit Göttern den Kampf und wer mit dem Einen? Doch Homeride zu sein, auch nur als letzter, ist schön. Später freilich dachte Goethe anders. Auch Voß bekommt wegen seiner Luise ein nur allzu freigebiges Lob: Uns begleite des Dichters Geist, der seine Luise Rasch dem würdigen Freund, uns zu entzücken, verband. Beide Dichter, Schiller und Goethe, überschätzten das Vossische Gedicht und liest man Schillers Aeußerungen in seiner naiven und sentimentalischen Dichtung, wo er griechischen und naiven Geist in der Luise findet, so begreift man nicht, wie Schillers sonst so eindringendes Urteil hier sich so bestochen zeigt. Auch in diesem Gedicht ärgert man sich, gleich hinter Homer den Schulmeister von Eutin mit dem Werke seiner etwas groben Finger erwähnt zu sehen. Wie Voß einen Kranz bekommt, so werden andrerseits die Tadler abgewiesen, die Goethe wegen seiner Elegieen und Epigramme, wegen des üppigen und stachlichten Tons Vorwürfe gemacht. Er beruft sich auf seine römischen Vorgänger und meint mit vollem Recht, gerade er habe den Geist des Altertums ergriffen und die Alten aus dem Staube der Schulstube in das Leben geführt: Also das wäre Verbrechen, daß einst Properz mich begeistert, Daß Martial sich zu mir auch, der Verwegne, gesellt? Daß ich die Alten nicht hinter mir ließ, die Schule zu hüten, Daß sie nach Latium gern mir in das Leben gefolgt? Und mit Bezug auf die neue Art, den Genuß der Liebe auch poetisch auszusprechen: Daß ich der Heuchelei dürftige Maske verschmäht? So ist das ganze Gedicht warm, persönlich, eine liebenswürdige Beichte: so führt es uns ein in den traulichen Kreis des Goetheschen Hauses, in das Heiligtum seines schönen Gemüths und weiß über alles dies den Glanz der Poesie, eine antike Hoheit und Milde zu verbreiten. Schiller schreibt darüber: Ihre Elegie macht einen eigenen tiefen Eindruck, der keines Lesers Herz, wenn er eins hat, verfehlen kann; ihre nahe Beziehung auf eine bestimmte Existenz gibt ihr noch einen Nachdruck mehr und die hohe schöne Ruhe mischt sich darin so schön mit der leidenschaftlichen Farbe des Augenblicks; es ist mir eine neue trostreiche Erfahrung, wie der poetische Geist alles Gemeine der Wirklichkeit so schnell und so glücklich unter sich bringt und durch einen Schwung, den er sich selbst gibt, aus diesen Banden heraus ist, so daß die gemeinen Seelen ihm nur mit hoffnungsloser Verzweiflung nachsehen können. Ort und Zeit. Der Dichter versetzt uns in ein Städtchen am Rhein zur Zeit der Revolutionskriege. Es liegt von der großen Heerstraße seitwärts in einer glücklichen Verborgenheit, denn von den Vertriebenen sagt der Wirt, daß sie Durch den glücklichen Winkel Dieses fruchtbaren Thals und seiner Krümmungen wandern. Und an einer andern Stelle: Schon ist der neue Chausseebau Fest beschlossen, der uns mit der großen Straße verbindet. Gerade in dieser stillen Abgelegenheit, die nicht bis zur völligen barbarischen Isolierung geht, konnte sich die häusliche Sittlichkeit guter Menschen entwickeln und erhalten. Unser Städtchen liegt am Mittelrhein gerade da, wo in weintragender, fruchtbarer, vielbevölkerter Gegend die Sitten menschlicher sind und das Blut leichter und fröhlicher ist. Der Vater wünscht einmal, sein Sohn Hermann solle sich etwas in der Welt umthun und Sehn zum wenigsten Straßburg und Frankfurt Und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist. Und in einer Rede des Pfarrers kommt Straßburg nochmals vor: Denn wir waren in Straßburg gewohnt den Wagen zu lenken, Als ich den jungen Baron dahin begleitete; täglich Rollte der Wagen, geleitet von mir, das hallende Thor durch Staubige Wege hinaus bis fern zu den Auen und Linden Mitten durch Scharen des Volks, das mit Spazieren den Tag lebt. In jener Gegend hatte der Dichter selbst seine Heimat, dort waren seine Jugendjahre verflossen: in Frankfurt war er geboren, in Straßburg hatte er zwei Jahre zugebracht, die durch sein Liebesverhältnis mit Friederike von Sesenheim, durch die Bekanntschaft mit Herder und die literarische Revolution in seinem Innern zu den inhaltvollsten seines Lebens geworden waren. Dort liegen die Wurzeln seiner Poesie. Wer aus dem Norden Deutschlands den Main überschreitet, der wird an dem vollen Leben und der naiven Fröhlichkeit der Menschen inne, daß er in Goethes Heimat- und Jugendluft atmet: hier wurden seine Lieder empfangen und geboren; hier umklang des Dichters Seele von früh auf in der konkreten und graziösen Volkssprache jener Hans-Sachsische Ton, der in seinen Werken so unendlich heimatlich zu uns spricht und über den wir mit so tiefer Rührung lächeln; hier fand er in der vollen Teilnahme an dem Leben und in der Fülle der Anschauung, die es gewährte, ein Präservativ gegen den blöden und zähen Pedantismus der Schule; hier endlich in dem Element leichterer Sitten an der Grenze des hellen und humanen Frankreich knüpften und lösten sich immer von neuem die Bande der Liebe, wie sie bei dem gröberen niederdeutschen Stamme und den Engländern, die nur die beiden gleich widerwärtigen Pole der Prüderie und der Prostitution kennen, in so unbefangen menschlicher Weise nimmermehr möglich gewesen wäre. Alle Dichtungen Goethes sind nur später aufschlagende Blüten seines Main- und Rheinaufenthalts und wir dürfen behaupten, daß auch Hermann und Dorothea nicht bloß auf jenem Schauplatz spielt, sondern in seiner Essenz von dorther geflossen ist. Kindergefühle und alte Eindrücke belebten des Dichters Darstellung jener Menschen und Gegenden. Er war in dem dortigen Bürgertum geboren und blieb ihm bei aller aristokratischen Vornehmheit innerlich verwandt. Wir müssen uns unser Städtchen in einem der Querthäler des Rheins denken; es ist wahrscheinlich von Fachwerk erbaut und mit einer Mauer und einem trocknen Graben umgeben. Das Städtchen enthält eine fleißige, wohlhabende Bevölkerung voll Lust, Neugier und Thätigkeit; es ist gewerbsam, denn Mancher Fabriken befliß man sich da und manches Gewerbes und die Einwohner betrieben neben dem städtischen Geschäft auch Weinbau und Ackerbau. Am Markte liegt das neue grüngestrichene Haus des Kaufmanns, des reichen Mannes, mit großgetäfelten Fenstern und weißer Stuckatur in grünen Feldern, denn wer thut es dem Kaufmann nach, der bei seinem Vermögen Auch die Wege noch kennt, auf denen das Beste zu haben? Woraus zugleich hervorgeht, daß die Fenster der übrigen Häuser aus jenen kleinen sechseckigen, mit Blei verbundenen Scheibchen bestehen. Am Markte liegt auch die Apotheke zum Engel und das Wirtshaus zum goldenen Löwen, dessen Besitzer der Vater unsres Hermann ist; beide waren einst nach dem großen Brande, der das Städtchen vor zwanzig Jahren zerstört hatte, die schönsten am Markte, sind jetzt aber von dem Hause des Kaufmanns verdunkelt. So ist auch der goldene Engel Michael, der die Offizin des Apothekers bezeichnet, von der Zeit ganz gebräunt. An das Wirtshaus zum goldenen Löwen stoßen doppelte Höfe, Scheunen und Ställe; ihnen schließt sich der weite Garten mit Apfel- und Birnbäumen und Kohlpflanzungen an und reicht bis an die Stadtmauer, bis zu einer Laube von Jelängerjelieber. Dort hatte einst der Ahnherr unsres Löwenwirtes, der würdige Bürgermeister, aus besondrer Gunst ein Pförtchen durch die Mauer brechen dürfen, um den weiten Umweg durch das Thor zu vermeiden. Trat man durch das Pförtchen hinaus und überschritt den trocknen Graben, so gelangte man an den aufsteigenden Weinberg, den ein bedeckter Laubgang auf unbehauenen Platten hinanführte; zu beiden Seiten wuchsen große, weiße und rötlichblaue Trauben, nicht zum Keltern, sondern zum Nachtisch, und den übrigen Berg bedeckten Stöcke mit kleineren Trauben, von denen der edle Wein kommt. Rief man auf der Höhe des Weinbergs, so kam ein geschwätziges Echo von den Türmen der Stadt zurück. Eine Thür führte dort auf das weite goldene Kornfeld, das den breiten Rücken des Hügels bedeckte und das man auf einem schmalen Grasrain durchschritt dem Birnbaum zu, der oben die Grenze der Felder bezeichnete, die dem Wirt zum goldenen Löwen gehörten. Man wußte nicht, wer jenen Baum gepflanzt. Er war weit und breit in der Gegend zu sehen, seine Früchte waren berühmt; in seinem Schatten freuten sich die Schnitter des Mahles und rasteten die Hirten mit ihrer Herde. Bänke von hohem Rasen und Stein umgaben seinen Stamm. Zwei der lieblichsten und rührendsten Szenen des Gedichts spielen unter diesem Baum und man kann von ihm wohl rühmen, was Cicero von der berühmten Platane des Plato, die am Anfang des Phädrus vorkommt, preisend sagt, daß sie mehr durch die Darstellung des Philosophen als durch den Quell an ihrem Fuße so gediehen. Verfolgte man von dem Baume den Pfad weiter, so erblickte man bald den Turm eines Dorfes und sah die Häuser und umgebenden Gärten in geringer Entfernung. Dort lag ein weiter, grüner, rasenbedeckter Anger, den uralte Linden beschatteten, den Bauern und nahen Städtern ein Lustort. Unter den Bäumen befand sich ein flachgegrabener Brunnen, zu dem man auf Stufen hinabstieg; eine Mauer faßte den immer lebendigen Quell ein und steinerne Bänke zum Ruhen umgaben ihn. Das Wasser stand in hohem Rufe: Säuerlich war's und erquicklich, gesund zu trinken den Menschen. Auch an diesem Brunnen unter diesen Bäumen geht eine der herrlichsten Szenen vor, die Begegnung beider Liebenden, ihr Gespräch und gemeinsames Schöpfen. Ueber die Bedeutung der Linden vor den Dörfern, in deren Schatten sich die Gerichtsstätte der Gemeinde befand, vergleiche man Jakob Grimms deutsche Rechtsaltertümer, wo zwei interessante Stellen aus Hans Sachs angeführt sind. Auch außer der Weihe zur Gemeindestätte ist die Linde auf dem Anger, die Quelle unter der Linde ein altnationaler, ländlicher Lustort und durch die Poesie so verbreitet wie die Platane bei den antiken Dichtern. So heißt es im Parzival: =dâ vor stuont ein linde breit ûf einem grüenen anger= und an einer andern Stelle: =dâ vermûret und geleitet was durch den schaten ein linde.= Auch in Tristan und Isolt weiß der Dichter das einsame Paradies, in welches er die Liebenden versetzt, nicht besser zu schmücken als durch einen Anger, drei Linden und in ihrem Schatten eine Quelle: =und einhalp was ein planje, dâ vlôz ein funtanje, ein vrischer küeler brunne durchlûter als diu sunne; dâ stuonden ouch drî linden obe schône unde ze lobelîchem lobe, die schermeten den brunnen vor regene unde vor sunnen.= Diese ganze Lokalität ist nicht etwa abgesondert geschildert, nicht ein vorausgeschicktes Gemälde, welches abstrakt, d. h. außer dem lebendigen Zusammenhang mit dem Treiben und den Empfindungen der Menschen vor uns aufgestellt würde, sondern alle Züge sind unbefangen in die Erzählung verwebt, einer nach dem andern tritt in der Entfaltung der Fabel von selbst mit ein, trägt diese und wird von ihr getragen und atmet in demselben heitern Element anschaulicher Gegenwart. An die Oertlichkeit schließt sich die Jahreszeit, das Wetter, der Himmel. Ein halber Tag genügt dem Gedicht: die am Mittag beginnende Handlung ist am Abend vollendet. Wir befinden uns im Hochsommer, glühend brennt die Sonne, kein Wölkchen ist am Himmel zu sehen. Unter dem Thorweg des Hauses ist zwar Schatten, aber die Fliegen umsummen die Gläser und, wer behaglich ruhen und trinken will, zieht sich in die inneren Räume zurück, wo die stärkeren Mauern die warme Luft abwehren. Hermann, der ins nahe Dorf eine Fahrt gemacht, läßt die Pferde im Schatten der Bäume halten, und wie sie nach Hause eilen, quillt der Staub wirbelnd unter ihren Hufen. Schon wankt das Korn schwer und golden, die Ernte ist für den nächsten Tag bevorstehend. Nach dem heißen Tage steigt am Abend der klare Vollmond am Himmel auf, mit ihm ein schweres Gewitter. Die Sonne hatte beim Untergehen mit getürmten Wolken gekämpft und bald hier bald dort hervorbrechend eine kurze glühende Beleuchtung über die Gegend geworfen: später, als es völlig Nacht geworden, blickte der Mond mit schwankenden Lichtern durchs Laub, bis ihn die schwarzen Wetterwolken gänzlich umhüllten. Die Nacht bedeckt sich immer breiter mit sinkenden Wolken, der Sturm saust, der Donner grollt und Regengüsse schlagen herab. Auch dieser einfache Witterungsverlauf verwebt sich untrennbar mit dem Thun und Fühlen der geschilderten Menschenwelt; zu rechter Zeit mit kurzen Zügen angedeutet, hebt er anschaulich und ausdrucksvoll deren Momente. Wie herrlich begleitet die Mondnacht und das Gewitter Hermanns und Dorotheas Heimgang durch das Kornfeld und den Weinberg, ihr Ruhen unter dem Birnbaum, ihr schüchtern vertrautes Gespräch und die Umarmung auf den Stufen! Und die letzte Szene im Hause, wo wir der Vollendung des reinsten Liebes- und Familienglücks beiwohnen, wie rührend wird sie gehoben durch das draußen stürmende Unwetter und den Regen, der durch die finstre Nacht niederströmt! Auch daß der Dichter gerade den Sommer wählte, ist der glückliche Griff des Genies. Der Hochsommer ist die Zeit, wo das nordische Leben für einige Wochen an dem Himmel Ioniens teilnimmt, wo die Geschäfte und Zusammenkünfte der Menschen in die freie Natur treten, wo die unförmlichen Hüllen fallen, die farbigen Trachten sich hervorwagen und unter Bäumen, auf Wegen und in Gärten Gestalten und Szenen sich bilden. In dem ganzen Gedicht waltet eine sommerliche, lichtvolle Phantasie, gerade wie umgekehrt auf dem ganzen Hamlet die Nebel Skandinaviens liegen. Gang der Fabel. Wie die Grammatiker die Geschichte des Herodot nach der Zahl der Musen in neun Bücher teilten, wie manche, z. B. Krates von Mallos, auch den Homer nach neun Gesängen ordneten, so hat auch Goethe sein kleines Epos in neun Gesänge zerlegt und jeden nach einer Muse benannt. Er ließ die Musen abwechselnd singen mit schöner Stimme von der Götter Herrlichkeit und den Schmerzen der Endlichkeit: [Greek: ameibomenai opi kalê humneusin rha theôn dôr' ambrota êd' anthrôpôn tlêmosunas.] Und ganz wie die Grammatiker jedem Gesange des Homer eine Ueberschrift gegeben hatten, die dessen Inhalt andeuten sollte, z. B. [Greek: ta en Pylô, nekuia, mnestêrophonia, oneiros], so überschrieb auch Goethe jeden Gesang mit einem ganz allgemein gehaltenen Titel, z. B. Schicksal und Anteil, die Weltbürger, das Zeitalter u. s. w. Alles dies fand man unbescheiden (so z. B. der Rezensent in der Bibliothek der schönen Wissenschaften) zumal im Hinblick auf jenes Epigramm, welches erzählt, daß Herodot die Musen bewirtet und von jeder eines seiner Bücher zum Zeichen der Dankbarkeit erhalten habe. Allein wenn Goethe es in den Gedichten dieser Zeit liebte, den Musen seinen Gesang zu weihen, so hat dieser fromme Dienst keinen andern Sinn, als daß der bescheidene Dichter still zurücktritt und den Gesang sich selbst durch seinen eigenen innewohnenden Trieb, eben durch die Huld der Musen Gestalt und Gesetze geben läßt. Der Rhapsode, sagt Goethe selbst, sollte als ein höheres Wesen in seinem Gedichte nicht selbst erscheinen; er läse hinter einem Vorhange am allerbesten, so daß man von aller Persönlichkeit abstrahierte und nur die Stimme der Musen im allgemeinen zu hören glaubte. Die Abteilung in Gesänge wird übrigens wie die des Dramas in Akte durch das Gesetz des pulsierenden Rhythmus, des Wechsels von Spannung und Ruhe erfordert: jeder Gesang umschließt mehr oder minder ein eigentümliches Bild und der Sänger benutzt jene momentane Unterbrechung, die Phantasie auf einen neuen Schauplatz zu versetzen oder den Sprung zu einer eintretenden weiteren Entwicklung der erzählten Begebenheiten zu erleichtern. Der Dichter versetzt uns, was auch die Alten vom Homer rühmten, ohne Vorrede mitten in die Dinge. Das alte Ehepaar sitzt unter dem Thorweg des Hauses in behaglicher Ruhe und des Vaters abgerissen hingeworfene Bemerkungen, zwischen denen Pausen zu denken sind, lehren uns sogleich, wo wir sind und was heute vorgeht. Die Kriegsnot hat eine Menge Menschen von jenseit des Rheines zur Flucht genötigt, sie ziehen in einiger Entfernung von der Stadt vorbei, alle Einwohner sind trotz dem heißen Mittag hinausgewandert, den Zug zu sehen, und auch Hermann, der Sohn, ist in der neuen Kutsche hingefahren, um die Notleidenden zu erquicken. Allmählich kommen die Neugierigen zurück, die Straßen füllen sich, der reiche Kaufmann von drüben kommt an sein neues Haus gefahren, auch der Pfarrer und der Apotheker sind wieder da und gesellen sich grüßend zu den beiden Sitzenden. Einige allgemeine Betrachtungen, die die beiden hinzugekommenen Hausfreunde über das heutige Ereignis in verschiedenem Sinne anstellen, unterbricht die ungeduldige Hausfrau mit der Frage nach dem, was sie denn gesehen. Der Apotheker, schnell das Wort ergreifend, gibt darauf eine lebendige Schilderung des verworrenen Zuges der Flüchtigen, der ordnungslos unter Unfällen und Bildern mannigfachen Elends dem Dorfe zuging. Dieser Bericht rührt den menschlichen Hauswirt, aber in seiner behaglichen Art will er die Gedanken davon abwenden und lädt die Freunde zu einem erfrischenden Glase Wein in den kühleren Saal. Dort sitzen die drei Männer um den großen braunen Tisch und fröhliche Hoffnung belebt den Wirt. Dies Städtchen, ruft er aus, dessen Wohlstand seit dem großen Brande so sichtlich gedeiht, Gott wird es nicht von neuem untergehen lassen. Ja, fährt er nach einer bestätigenden Zwischenrede des Pfarrers fort, der mächtige Rheinstrom wird uns wie Wall und Graben schützen; die Streiter sind müde, alles deutet auf Frieden. Und wenn dann das Friedensfest gefeiert wird und in der Kirche Orgel, Glocke und Trompete das Tedeum begleiten, wenn doch dann dies hohe Landesfest für mich auch ein häusliches Fest würde und mein Hermann mit der Braut vor den Altar träte. Aber ich fürchte, das wird nicht so sein, denn so thätig zu Hause, so schüchtern ist er nach außen, zeigt sich nicht unter den Leuten und flieht den Tanz und die Gesellschaft junger Mädchen. Indem er so sagte, rollte Hermanns Wagen donnernd unter den Thorweg. Damit schließt der erste Gesang. Er enthält die Exposition in unmittelbar frischem Gemälde; noch kein Hindernis, kein Knoten, aber deutlich ist die eigentümliche Welt des Gedichts vor uns ausgebreitet, in der wir schon heimisch sind: die Bürgersitten, die Lage des Städtchens, Ort, Tageszeit, die Familie, das Ereignis des Tages, das bald das individuellere unseres Gedichts zur Folge haben wird; auch die Charaktere sind angedeutet; in dem Wunsche des Vaters und seiner Schilderung des Sohnes liegt die kommende Handlung; Aussicht auf fröhliche Entwicklung ist in dem ganzen heiter epischen Tone schon im voraus gegeben. Der Dichter versetzte uns nicht selbst in das Gedränge der Flüchtigen, welches Schauspiel uns zu mächtig in Anspruch genommen hätte; wir sollten vor allen Dingen mit dem behaglichen Bürgerhause und dessen Gliedern vertraut werden und, nachdem auf die Familie hinreichendes Licht gefallen, werden wir später an der Hand des Dichters den hohen Standpunkt ersteigen, wo wir das politische Wetter drohend am Himmel sehen. Der zweite Gesang führt uns die Personen schon näher, und indem dies geschieht, schürzt sich der Knoten zusehends. Hermann tritt ins Zimmer und des Pfarrers kundiger Blick erkennt an seinem ganzen Wesen eine Veränderung: der Jüngling ist munterer und heiterer. Dies bestätigt unsre Ahnung von etwas Geschehenem, das bald in ruhigem epischem Fortgang sich vor uns aufthun wird. Hermann erzählt, wie er mit seinem Wagen etwas zu spät gekommen und den Zug schon vorüber gefunden; nur ein Wagen mit Ochsen bespannt war zurückgeblieben, den ein Mädchen, zu Fuße schreitend, mit langem Stabe lenkte. Das Mädchen sprach den Jüngling um eine Gabe für die auf dem Wagen im Stroh liegende bleiche Wöchnerin an, und da Hermann gerade deshalb gesandt worden, gibt er rasch und freudig das mitgebrachte wollene und leinene Zeug her. Wie das Mädchen weiter ins Dorf ziehen will, hat Hermann schnell so viel Vertrauen zu ihr gefaßt, daß er ihr auch alle Lebensmittel, die er im Wagen liegen hat, mitgibt mit dem Auftrag, alles im Dorfe unter die Notleidenden zu verteilen. Das Mädchen verspricht dies und beide scheiden. Nachdem Hermann so berichtet, spricht der Apotheker den Gedanken aus, wie doch derjenige glücklich sei, der in so schweren Zeiten nicht für Weib und Kind zu sorgen hat. Diese so einfache, sich von selbst ergebende und mit dem besondern Charakter des Sprechenden übereinstimmende Wendung leitet in unaufhaltsamem Fortschritt die Verwicklung ein. Hermann nämlich tadelt die Gesinnung des Nachbars und erklärt gerade heute lieber als je sich zur Heirat entschließen zu wollen. Beide Eltern stimmen freudig ein und die Mutter erzählt ausführlich, wie auch sie einst unter furchtbarer Not unmittelbar nach dem großen Brande ihre Ehe geschlossen, und lobt Hermann wegen seines Vertrauens, im Krieg und unter Trümmern freien zu wollen. Da fällt aber der Vater lebhaft ein und meint: Besser ist besser. Hermann soll kein unbegütertes Mädchen in ein leeres Haus, in drückende, armselige Verhältnisse führen; es soll die Wirtschaft reichlich besorgt und das häusliche Behagen durch gute Mitgift gleich anfangs verbürgt sein. Ja, Hermann, fügt er hinzu, du würdest mein Alter hoch erfreuen, wenn du mir aus jenem grünen Kaufmannshause dort drüben eine Schwiegertochter brächtest; der Mann ist reich, von seinen drei Töchtern solltest du eine wählen. Hermann erwidert, dies sei auch seine Absicht gewesen, aber die Mädchen seien eitel und lieblos, und dabei erzählt er einen Vorfall, wo sie singend und beim Klaviere sitzend sich über ihn lustig gemacht. Während die Mutter Hermanns Urteil über die Mädchen zu mildern sucht, fährt der Vater zornig auf und wirft ihm Beschränktheit und Mangel an Ehrgefühl vor. Da der Sohn sich schweigend der Thür naht, ruft der Vater immer mehr entrüstet: Denke nicht, mir je eine Bäuerin als Schwiegertochter ins Haus zu bringen; ich verlange von ihr, sie soll sich gefällig zu benehmen wissen, Erziehung haben und meinem Hause zur Ehre gereichen. Da verließ Hermann schweigend das Zimmer. Meisterhaft dient dieser Gesang dazu die Charaktere in den Wechselreden zu entfalten und in ihrer Verschiedenheit das Hindernis zu begründen, das die beginnende Handlung zugleich aufhält und forttreibt. Vater und Sohn empfinden verschieden im Punkt der Wahl eines Mädchens: der Boden eines Konflikts ist gelegt; wir ahnen, daß Hermann im Herzen schon die Geliebte trägt, daß ihr Stand mit den Wünschen des heftigen Vaters nicht übereinstimmt; wie von selbst fallen unsre Gedanken auf jenes Mädchen, von dem Hermann eben erzählt hat; er, der in der Wirtschaft Erfahrene, konnte das Mädchen und alles, was sie sorgend that, gewiß rasch beurteilen. Vielleicht wären ihm die Gefühle, die ihr Anblick, ihr Gespräch in ihm erregt, nicht einmal deutlich zum Bewußtsein gekommen oder er hätte sie still und ängstlich verborgen, wenn nicht die einfache Bemerkung des Apothekers und das daran sich knüpfende Gespräch seinen inneren Zustand rasch zur Reife gebracht und die Verhältnisse in scharfer Beleuchtung gezeichnet hätte. Hier ist keine Wendung, kein Glied in der Kette wegzudenken. Man kann die Erzählung der Mutter von dem Brande und ihrer an dies Unglück sich knüpfenden Heirat als eine Episode betrachten, damit auch dies epische Erfordernis hier nicht fehle; in der That führt die ganze Stelle von dem Boden der gegenwärtigen Situation ab und gewährt ein kleines, überaus liebliches und wahres Bild für sich; dennoch aber ist sie in dem Fortgang des Gespräches wesentlich und steht in der nächsten inneren Beziehung zur Gegenwart. Die in diesem und dem ersten Gesange geschilderten Szenen der Flucht und Verwirrung erinnern übrigens an manches, was der Dichter selbst in der Champagne erlebte und in seinem Tagebuche, der Campagne in Frankreich, uns erzählt hat, so namentlich das Umstürzen des großen schwerbepackten Wagens und die von dem unbekannten Mädchen der bleichen Wöchnerin geleistete Hilfe. Der dritte Gesang enthält noch keine weitere faktische Fortführung. Wir hören den fortgehenden Reden zu, die dazu dienen, die Charaktere und Gesinnungen zu entwickeln und den in ihnen liegenden Gegensatz sowie die mögliche Ausgleichung nach allen Seiten zu beleuchten. Nach dem harten Anstoß und der bewegten Leidenschaft des vorigen Gesanges beruhigt sich in diesem die Stimmung; gegenseitiges Gespräch mildert die Aufregung des Vaters sowie die Furcht des Hörers. Die Mutter, nachdem sie den Vater wegen seines harten Benehmens gescholten, eilt dem Sohne nach, um ihn zu begütigen. Am Anfang des vierten Gesanges begleiten wir die suchende Mutter auf ihrem Wege. Hier wird nun die Gegend geschildert, Garten, Weinberg, Feld, Birnbaum, immer aber in unbefangener Verknüpfung mit der Wanderung der besorgten, sich nach ihrem Sohne umsehenden Mutter. Naturbild und Muttersorge tritt als eins und unabgesondert in unsre Empfindung ein. Die Naturschilderung ist nicht die modern-sentimentale, nicht die Gemütsschwelgerei Werthers, was mit dem Tone des ganzen Gedichts gestritten hätte, sie ist auch nicht die des abstrakten Kenners der Landschaft, sondern sie bleibt auf dem Standpunkt des unverdorbenen menschlichen Gefühls, das sich zwar der Natur freut, aber diese Freude noch gar nicht von dem Wohlsein, dem Nutzen und der Fruchtbarkeit abtrennt. Der Weinberg ist schön, aber besonders deshalb, weil er so herrliche Trauben trägt. Um den Birnbaum schwebt die Poesie des Alters, die Poesie ferner Landschaft, die vor dem unter ihm rastenden Wanderer ausgebreitet liegt, aber nicht minder dient zu seiner Verherrlichung, daß er so schmackhafte Früchte trägt und dem Hirten wie dem Schnitter in der heißen Mittagsstunde willkommenen Schatten gewährt. Einen bloß malerischen Baum mit schöner Aussicht zu schätzen läge ganz außer der Empfindungssphäre unsres Gedichts. Die Darstellung schwebt vielmehr in jener Mitte, wo der Gegensatz des rein prosaischen Nutzens und der unwahren weichherzigen Natursentimentalität noch gar nicht hervorgebrochen ist; sie erhält sich in jener primitiven, wiederum homerischen Einheit, wo die Schönheit der Natur und die Natur als Sphäre des Ackerbauers, Gärtners, Jägers, Fischers, Schiffers u. s. w. zu einem Gesamteindruck zusammenfließen und ein Gesamtgefühl bilden. Landschaft und Wetter, Sonne, Pflanzen, Wiesen und Berge, alles wird hier mit dem Auge des schaffenden Arbeiters, des besitzenden Bürgers, des einsammelnden, von der Erde sich nährenden Ansiedlers betrachtet; die Natur wird geliebt als Bodenkultur, als [Greek: aia biodôros] in Sophokles' Philoktet. Zugleich erhalten wir das Bild der geschäftigen Hausfrau, die keinen Schritt vergeblich thut, sich in ihrem Gebiete und Besitze fühlt und in diesem Gefühl ihr kleines, durch Fleiß erworbenes Königreich durchwandert. Der Spur des Sohnes immer weiter folgend, finden wir ihn endlich abgewandt unter dem Birnbaum sitzend. Er hat Thränen im Auge, indem die Mutter ihn überrascht. In dem nun folgenden Gespräch tritt uns die Hauptperson, Hermann, nahe ans Herz. Wie durch Zauber thut sich sein Sein und Wesen vor uns auf, wir hören seine Geständnisse und die echt menschliche Wahrheit seiner Worte und Entschließungen gewinnt ihm unsre Teilnahme und Rührung. Obgleich ganz episch in langen weitausholenden Reden sich fortbewegend, enthält die ganze Szene doch mit meisterhafter Entwicklung den Verlauf innerer Gemütsbewegungen, die sich unter Thränen in der Einsamkeit erst verbergen, dann halb sich verraten, dann endlich hervorbrechen und zum Entschlusse, zur That werden, den Prozeß zwischen der leidenschaftlichen Seelenerregung des Sohnes und Jünglings, die sich endlich in die Brust der Mutter ergießt, und der erst betroffenen, dann mit liebevoller Besorgnis forschenden, endlich nach erfolgtem Geständnis beratenden mütterlichen Helferin. Zu der Wahrheit, mit der dieser stufenweise fortgehende Prozeß fortgeführt ist, zu der Sicherheit, mit der sich das Verhältnis von Mutter und Sohn nach den in ihm liegenden Momenten darlegt, kommt noch der Reichtum dieses Verhältnisses selbst, der Reichtum an sittlich-menschlichen Motiven, den der Augenblick bei aller Einfachheit in sich trägt. Ein Sohn, den eine unglückliche Liebe in seinem Innern schmerzvoll zerreißt, eine weinende Mutter, die sich voll Muttermitleid forschend und ratend über ihn niederbeugt -- diese Szene ist an sich rührend und heilig. Sie ist heilig, wie es die Madonnenbilder Rafaels sind, auf denen gleichfalls durch Darstellung der Mutter mit dem Kinde der reinste menschliche Inhalt uns vor Augen gestellt wird. Und diese menschlich rührende Szene ist in eine Oertlichkeit verlegt, die sie mit allem poetischen Zauber umgibt: es ist der Rasensitz unter jenem Birnbaum, von wo der sehnsüchtig kummervolle Blick nach der Gegend hinreicht, in der die Geliebte weilt. In dem fünften Gesang wird, wie die Mutter vorhergesagt hatte, die Einwilligung des Vaters wirklich erlangt. Hiermit ist die Verwicklung gelöst und scheinbar ein Schluß herbeigeführt. Allein auf ganz epische Weise liegt in der Auflösung eine neue Verwicklung, ein neues Hindernis, das der Strom der Erzählung ruhig zu umgehen hat. Der Apotheker hat den Vorschlag gethan, doch erst das Mädchen zu prüfen und die Gemeinde, in der sie aufgewachsen, nach ihr zu befragen. Diese Wendung ist abermals dem Charakter des Apothekers angemessen; sie fließt auch sonst auf natürliche Weise aus der Lage der Dinge, denn man will doch vorher erfahren, wer und wie das unbekannte Mädchen ist; indem aber dieser Rat des Vaters Zustimmung erst möglich macht, knüpft er dieselbe doch an eine erst zu erfüllende Bedingung und das accelerierende Moment ist zugleich ein retardierendes. Im übrigen enthält auch diese Szene in ihrer successiven Entwicklung und dem Spiel der einander gegenübergestellten Charaktere die größte Naturwahrheit. An Hermann zeigt sich in jedem Wort, daß die Liebe ihn, den blöden und unbeholfenen Jüngling, schnell zum Manne gereift hat, daß sie seinen Blick geschärft und seine Sprache beflügelt hat. Der Vater, der lebhaft gutmütige Mann, ist nach dem Zornausbruch von heute mittag schon innerlich nachgiebig gestimmt; da kommen nun Sohn, Mutter und Freunde mit ihrer dringenden Ansprache; anfangs schweigt er verwundert; endlich wie einer, der sich einer Sache nicht voll überlassen mag, macht er die Seitenbemerkung, Hermanns Zunge, die immer gestockt, sei nun mit einemmale gelöst; dann gleichsam aus Scham, von einer lange mit Eifer und Würde verfochtenen Gesinnung jetzt abgehen zu sollen, kleidet er seine Zustimmung in die humoristische Wendung, er erfahre, was jedem Ehemann und Vater gedroht sei, daß Mutter und Freunde immer den Willen des Sohnes begünstigen; und wie noch halb grollend richtet er die Zusage nicht an den Sohn, sondern an die übrigen Anwesenden: Gehet und prüfet und bringt mir meinetwegen die Tochter ins Haus, wo nicht, so mag er das Mädchen vergessen; wie dies alles in ähnlicher Lage im Leben überall sich wiederholt. Nach einer ganz homerischen Beschreibung des Anschirrens der Pferde folgt die Fahrt ins Dorf. Hermann hält die Pferde im Schatten der Linde und die beiden Hausfreunde gehen nach Erkundigung aus. Wir begleiten sie in das Gewühl der Menschen, von dem wir eine episch ausführliche niederländische Genreschilderung erhalten. Nachdem wir uns Schritt vor Schritt der politischen Sphäre genähert, stehen wir endlich betrachtend vor dem furchtbaren Ereignis der Revolution und des Krieges, welches allen stillen Naturbildungen den Untergang droht, um die Welt aus Nacht und Chaos nach Vernunftprinzipien neu zu gestalten. Hermanns Liebe tritt für einen Augenblick zurück, aber nur um sich auf dem nun sich zeichnenden düstern Hintergrund desto heller abzuheben. Aus der Tiefe der Auflösung selbst wird die ewig wirksame Bildungskraft von neuem die Familie hervortreiben. In dem verworrenen Zuge der Flüchtlinge, in der Schilderung des Richters tritt uns Auflösung aller sittlichen Bande, Zerrüttung entgegen, aber, wie gewaltig auch der furchtbare Sturm der Geschichte die Wohnungen des Privatgeistes niederwerfe, immer wieder faßt der Mensch von neuem Fuß, knüpft neue Bande, steckt neue Grenzen des Besitzes aus und gründet feste Anstalten, in die er den Inhalt des Gemütes gießt. Die Revolution tritt uns nahe, aber nur damit antipolitisch und antikommunistisch die Privatexistenz, die Familie, das Eigentum sich bewähre und aus der Zerstörung neu erzeuge. Als das Symbol dieser in der Menschheit wohnenden Naturmacht wird uns Dorothea erscheinen, sie, die Flüchtige, Elternlose, des väterlichen Hauses, des Bräutigams Beraubte, die in den Krieg und die Verwirrung als ein hilfloses Mädchen Verschlagene, die dennoch, wo sie auch ist, sorgend und weiblich durch Rat, Pflege und Hilfeleistung eine Sphäre der Liebe um sich zieht, die endlich als künftige Gattin und Mutter in einen neuen Familienkreis einzieht, den sie durch ihre Einkehr vollendet und abschließt. Gleich bei den ersten Schritten, die die beiden Freunde unter die Menge thun, treffen sie diese in Streit: die Männer drohen einander, die Weiber mischen sich schreiend ein. Das häßliche Bild wird aber rasch vor den Augen weggezogen und es folgt eine versöhnende patriarchalische Szene. Ein langes Zwiegespräch zwischen dem Pfarrer und dem ehrwürdigen Richter der Gemeinde füllt den Schluß des fünften und den Anfang des sechsten Gesanges. Wir erhalten eine Schilderung des Verlaufes der Revolution, der Freiheitsbegeisterung, der darauf folgenden Enttäuschung, der Greuel des Krieges; wir hören von Dorotheens heroischer Selbstverteidigung. Unterdes hat der Apotheker das Mädchen aufgespürt und zieht den geistlichen Herrn mit fort. Wir blicken mit beiden durch die Lücke des Zauns und sehen zum erstenmal Dorotheen. Nachdem wir soeben alle Zerrüttung des Krieges durchlebt, nachdem wir voll Bewunderung und Entsetzen von der That der männermordenden Jungfrau ([Greek: androktonos]) gehört, erblicken wir sie nicht schreitend, nicht handelnd, sondern ruhig und betrachtungsvoll dasitzend, in ihrem Arm das neugeborene Kind; wir sehen sie als liebende Helferin und künftige Mutter. Der Richter tritt nochmals hinzu und vollendet durch weitere Nachricht über das Mädchen das geistige Bild, das wir von ihr gefaßt. Nachdem wir durch alles Gesehene und Erfahrene sicher geworden, daß Hermanns Wahl eine glückliche gewesen, nachdem seine Liebe durch ihre Beziehung zu dem Schicksal der Völker und Staaten eine tiefere allgemeine Bedeutung für uns gewonnen, eilen wir mit ungeduldiger Teilnahme zu dem am Brunnen harrenden Jüngling, ihm die herrliche Botschaft zu bringen. Allein abermals hat sich, kaum daß die Spannung gelöst ist, eine neue vorbereitet. Hermanns Seele, in der Einsamkeit sich selbst überlassen, ist unterdes von schweren Sorgen befallen worden, von Sorgen, wie sie ein liebendes und also ängstliches Herz zu quälen pflegen. Daß die Freunde von Dorotheen nur Gutes erfahren würden, wußte er im voraus: aber wird sie selbst auch einwilligen? Wird sie dem ersten besten, der da kommt, zu folgen bereit sein? und ist ihr Herz nicht vielleicht schon versagt? Während einer komischen Zwischenerzählung des Apothekers, die recht für die epische Gelassenheit Zeugnis gibt und deren für den gegenwärtigen Moment Unpassendes der gesprächige Mann nicht merkt, hat Hermann innerlich nach Art der Liebenden einen zugleich kräftigen und dennoch ängstlichen und ausweichenden Entschluß gefaßt. Die Freunde sollen ohne ihn nach Hause fahren und den Eltern die Nachricht bringen; er will allein zurückbleiben, Dorotheen selbst befragen und den näheren Fußweg am Birnbaum vorbei entweder glücklich mit ihr nach Hause herabsteigen oder ohne sie einsam zurückschleichen. Alle Worte, die er hier spricht, sind die eines liebenden, zwischen Jammer und Glück hin- und hergeworfenen Herzens, die dieselbe Wahrheit, Tiefe und Zartheit an sich tragen wie in Alexis und Dora. Wir schweben mit dem Jüngling in Erwartung, teilen seine Betrübnis, lächeln über die drolligen Scherze bei der Abfahrt der Freunde, aber innerlich bewegt sehen wir mit Hermann den Staub sich erheben, sich zerstreuen und stehen wie er ohne Gedanken. Je näher wir mit Eröffnung des siebenten Gesanges dem Schlusse rücken, desto reicher werden die aufgewandten poetischen Mittel, die Empfindung immer inniger, ängstlicher, die Darstellung immer seelenvoller und ihre zartbleichen Farben steigern und röten sich unmerklich. Das innere Herz und die äußere Natur, die Stimmung der Seele und die umgebende Landschaft, der Zug der Liebe und der leise spielende Zufall, alles neigt sich zusammen, Sinn und Bedeutung des Bildes zu steigern und sammelt alle Zauber der Phantasie zu der Fülle der zartesten Rührung, die aus dem Grunde eines lauter menschlichen Verhältnisses quillt. Der Gesang beginnt mit einem ebenso wahren als prachtvollen Gleichnis. Wie der Wanderer am Abend die versinkende Sonne noch einmal ins Auge faßt und dann geblendet ihr Bild schweben sieht, wohin er die Blicke auch wendet, so sah Hermann Dorotheens Gestalt sich vor seinem Auge durch das Feld bewegen. Es war der Traum der Liebe, in welchem die Geliebte dem geblendeten Auge überall gegenwärtig ist, aber der Traum verschmilzt hier mit der Wirklichkeit: Hermann erwacht und staunt und staunt wieder, denn Dorothea kommt wirklich, es ist kein Scheinbild, sie ist es selbst. Mit Krügen in der Hand kommt sie zum Brunnen geschritten, um Wasser zu schöpfen. Der Zufall führte sie gerade jetzt zur Quelle, bei der Hermann in Sorgen der Liebe einsam träumte. Der Zufall! Man könnte ihn mit Humboldt das Wunderbare unsres Gedichts nennen. Unter die Erfordernisse eines epischen Gedichts stellte die pedantische Theorie früherer Zeit auch eine sogenannte Maschinerie des Wunderbaren: es sollten im Epos Götter und Dämonen auftreten und mit phantastischen Hebeln in das Treiben der Menschen eingreifen. Daher wurde von dem Dichter eine Götterwelt erfunden, es wurden allegorische Personifikationen abstrakter Begriffe in Bewegung gesetzt und der Gang der Handlung nicht als ihre eigene innere, sie forttreibende Dialektik, sondern als das Werk überirdischer Figuren dargestellt. Schon bei Virgil sind die Gespräche und Anordnungen der Götter mehr eine kalte Maschinerie des nachahmenden und reflektierenden Dichters als eine in der Anschauung unbefangenen Volksglaubens sicher befestigte Welt. Anders bei Homer. In dem homerischen Zeitalter kamen die sittlichen Mächte, die das Leben gestalten, nicht als solche dem Menschen zum Bewußtsein; sie wurden in ein Jenseits verlegt und jede wurde ein Gott, eine handelnde Person. Die Heiligkeit des Gastrechts z. B., die da, wo sie verletzt wird, sich an ihrem rohen Verächter in dessen eigenem Busen und eigenem Lebensschicksal rächt, wurde zu einer lebendigen Person, die über ihre Aufrechterhaltung wachte; der Geist der Kunstfertigkeit, der überall aus der menschlichen Natur, wo diese sich entwickelt, hervorbricht, wurde zu der offenbaren Gabe des sie konkret personifizierenden Hephaistos, dem nun alle bedeutenden Kunstwerke, deren Möglichkeit dem naiv staunenden Natursohn ein Geheimnis scheint, beigelegt wurden; die Gewandtheit des rüstigen jugendlichen Körpers, in ihrem Adel dunkel gefühlt, wurde Eigenschaft des Hermes, dem sie das Menschengeschlecht verdankte und dem es nun jede Palästra weihte u. s. w. Streiten zwei Stimmen in der Brust des Helden und entscheidet er sich nach solchem Selbstkampfe für eines, so wird dies vorgestellt als Befehl oder Rat eines erscheinenden Gottes, das Gute als Hilfeleistung des Gottes gegen den erkorenen Liebling, das Böse als Berückung durch den feindseligen Dämon. Nicht anders mit den Wirkungen der Götter in der Natur. Das tiefe Leben der Natur kam dem kindlichen Menschen überall entgegen in tausend Gestalten und Phänomenen, in ewigem Zeugen, Gebären und Vernichten; als ein von innen bildendes plastisches Prinzip konnte er es nicht fassen; je mehr er es aber als ein Unwiderstehliches und Göttliches empfand, desto mehr war er geneigt, es in Göttergestalten zu verwandeln und nun den Blitz und Donner dem Zeus, das Erdbeben dem Poseidon u. s. w. zuzuschreiben. Daher ist in jener mythischen Region eigentlich nichts Wunderbares, denn die Substanz jener Götter bilden nur irdische Lebensmächte und sie sind so vollständig in konkrete Individuen übergegangen, daß sie wirkliche menschliche Wesen, nur in gesteigerter Kraft und Stimmung abgeben. Ein modernes Epos nun wie Hermann und Dorothea ist über jene mythische Anschauungsweise hinaus. Die Götter sind in die Brust des Menschen zurückgekehrt, ihre Einwirkung ist in das Walten und die Selbstoffenbarung des Weltgesetzes überhaupt zurückverlegt. Das Geschehen im Epos ist so wunderbar und natürlich zugleich wie das Leben selbst. Was dem Menschen widerfährt, ist teils nur die Konsequenz seines eigenen Thuns, teils ist es durch den großen Weltzusammenhang, durch den Komplex aller Gesetze und Bedingungen des menschlichen Gesamtlebens mitgesetzt. So ist alles endliche Schicksal wunderbar, denn es steigt aus dem Grunde der Idee auf und erhält von ihr tiefere Bedeutung, es ist aber auch natürlich, denn alles hat seine Gründe in der Verknüpfung mit dem übrigen. Man kann das Hereinragen der französischen Revolution in die idyllische Familienwelt das Wunderbare unsres Epos nennen, dasjenige, was in unsrem Gedicht die Götter der Ilias ersetzt; und in der That derjenige, der auf naive Weise in der Substanz der Familiensittlichkeit begriffen ist, wird von der gewaltigen, die Grundlagen der Privatexistenz umwerfenden politischen Idee wie von einer unbegreiflichen That höherer Dämonen getroffen; umgekehrt aber ließe sich auch sagen, die Naturkraft der Familie bilde das Wunderbare, da sie dem in der politischen Sphäre ganz Heimischen als ein unbegreiflich zäher fundamentaler Widerstand entgegentritt. So gesetzmäßig nun auch alles Geschehen ist, so wird dennoch, da wir eben in einer endlichen Welt begriffen sind, immer ein irrationaler Rest bleiben, der sich in die Formel nicht auflösen lassen will: es ist eben das, was wir Zufall nennen, wo so ist und auch anders sein könnte, was grundlos sich gefügt hat, was zutrifft, ohne daß dies Eintreffen aus dem Zweck und Gesetz der gerade vorliegenden Sphäre erklärt werden kann. Da dieser Zufall eben irrationell und unberechenbar ist, können wir ihn das Wunderbare nennen. Daß Dorothea gerade zum Brunnen kommen muß, wo Hermann noch dasteht, ist ein liebliches Spiel des Schicksals; es ist, als hätten freundliche Genien ihr den Gedanken geweckt und ihren Gang geleitet, und gern gewähren wir dies Hineinspielen des bald neckenden, bald hilfreichen Ungefährs in einer Darstellung, wo alles auf dem sichern Grunde der ewigen Naturwahrheit ruht. Hermann redet die kommende Dorothea an, die verwundert ist, den Wohlthäter von heute morgen hier wiederzufinden. Sie erwiedert freundlich seinen Gruß und erklärt ihm ihr Kommen. Beide steigen die steinernen Stufen hinab und setzen sich auf die kleine Mauer, die den Quell einfaßt; sie beugt sich über und schöpft, er faßt den andern Krug und beugt sich über; sie sehen ihr Bild in dem blauen Spiegel schwanken und nicken sich freundlich zu. Dorothea reicht dem Jüngling den Krug und er trinkt; darauf ruhen sie beide vertraulich auf die Gefäße gelehnt. Diese Gruppe beider Liebenden, die, während oben der Sommer glüht, hier unten am rinnenden Brunnen sitzen, auf die Wasserkrüge sich lehnend, gleicht an Sitte, Einfalt und Adel antiken oder orientalischen Darstellungen, als müßte die Phantasie sich nicht weit davon die Säulen eines Tempels denken oder als wären jene Linden Palmen des Morgenlandes. Dennoch ist das ganze Bild wiederum ländlich, dorfmäßig, deutsch, heimatlich; das nur Menschliche kehrt ja unter jedem Himmelsstrich wieder. Nehmen wir zu jener äußeren Gestalt der Szene Hermanns innerlich bebendes Herz, die bedeutungsvolle Beziehung des Jünglings zu dem Mädchen, die Spannung der Liebe, die sie zu ewiger Verbindung zu einander zieht und deren Zug dennoch von Scheu und Selbstbeherrschung aufgehalten wird, so bethätigt sich hier und in dem folgenden Gesange die Kunst, durch welche Goethe so einzig ist, die Kunst, die tiefste und leiseste Stimmung der Seele in die äußere Anschauung, das Bild der äußeren Anschauung in die Empfindung des Herzens zurückzuführen. Auf ihre Frage, was ihn hierhergeführt, bringt er halbverhüllt sein Anliegen vor, dessen Sinn Dorothea mißversteht. Sie glaubt als dienende Magd von ihm geworben zu werden, geht schnell auf den Antrag ein und ist bereit mit ihm zu gehen. Kommt mit mir, sagt sie, und empfangt mich aus den Händen der lieben Freunde, denen ich die Krüge wiederbringe. Beide stehen auf, sehen noch einmal ihr Bild im Brunnen und süßes Verlangen ergreift sie. Dann gehen sie durch den Garten zu der Scheune, wo die Wöchnerin ein Unterkommen gefunden hat. Daß Hermann ihr das Mißverständnis nicht löste, daß seine Rede so unbestimmt blieb, liegt in der ängstlichen Natur des Jünglings und der Liebe überhaupt; er bebt vor der Entscheidung zurück und desto mehr, je mehr von ihr abhängt; das Mädchen nur überhaupt ins Haus zu führen scheint ihm schon Glück und Gewinn. Wir selbst zittern mit ihm und freuen uns des Auswegs, durch den schon viel gewonnen und noch nichts verloren ist. Hermann, innerlich das süße Geheimnis tragend, ist fast stumm; beglückt Dorotheen zur Seite zu gehen ist er doch feierlich und wie abwesend. Mit Leichtigkeit bewegt sich dagegen das gewandte Mädchen vor ihm; sie spricht mit holder Demut und heiterem Verstande von ihrer Lage, dem Schritte, den sie zu thun gedenke; sie weiß, wo sie ist und was sie thut; sie ist es, die Hermann leiten und mitziehen muß. Und in diese Unbefangenheit, die so sehr mit Hermanns verliebter Schwermut kontrastiert, in diese Leichtigkeit des anmutigen Benehmens mischt sich mit leichter Andeutung ein Zug mädchenhaften Strebens dem Jüngling zu gefallen, ein Bewußtsein von der Macht, die sie über ihn ausübt. Wir ahnen, daß auch sie nicht frei ist von zärtlicher Neigung. Die Abschiedsszene, die nun folgt, unterbricht das Spiel der Liebe, die Schwüle der Empfindung mit naiv wahren Zügen, mit Ernst und Heiterkeit. Dorothea erscheint hier als Glied der Familie wie eine liebe Tante oder ältere Schwester, die das Hauswesen besorgt und den Schlüssel zum Speiseschrank führt und an die die Kinder vertraulich gewöhnt sind. Ihr Bild tritt uns verklärt aus dem Spiegel der Liebe entgegen, die sie in der befreundeten Familie erweckt hat, des Bedauerns, das ihr Wegziehen bei groß und klein erregt. Alle segnen sie, die Mutter weint um sie, die Kinder wollen von ihr nicht lassen, der Richter, der ernste Menschenkenner, preist den, in dessen Haus sie kommt. Zugleich aber hat Dorothea weder Vater und Mutter noch Geschwister, so daß das Interesse des Hörers sie Hermann zu teil werden zu sehen gar nicht durch übergroßen Schmerz der Trennung geteilt wird. Vielmehr laufen alle Ströme der Empfindung ungeschwächt darauf hin Hermann und dessen würdige Familie in den Besitz des schönen seltenen Mädchens gelangen zu sehen. Der folgende achte Gesang enthält in reizender Bewegung alle Zauber der holdesten idyllischen Romantik, die sich zu dem zartesten Natur- und Seelengemälde vereinigen. Der Sommerabend, der mit kühlem Schatten die Gluten dämpft, der groß aufgehende, am Himmel herrlich glänzende Mond, das Gewitter, das die untergehende Sonne umtürmt, um dann in schweren Donnern über den Häuptern der Menschen zu rollen, die wechselnde, aus glühenden Sonnenblicken, weißem Mondlicht und dunkeln Wolkenschatten ahnungsvoll gemischte Beleuchtung, der Pfad durch die uns wohlbekannte liebliche Oertlichkeit, das wankende Korn, das die Gestalten der Wandernden an Höhe fast erreicht, der ehrwürdige Birnbaum, unter dem Hermann heute um das Mädchen geweint, an dessen Hand er nun nach wenigen verhängnisvollen Stunden dahinwandelt, die belaubte Treppe den Weinberg hinab -- dazu das Herzensgeheimnis, das beide in sich tragen, die süße Beklommenheit, die auf dem Jüngling lastet, die Schüchternheit, die bei dem vollsten Herzen und in der günstigsten Stunde ihm dennoch den Mund verschließt, die oft so lieblich doppelsinnigen Worte des Gesprächs, das wir oft eine Wendung nehmen sehen, wo die Blume der Liebe in offenem Geständnis die Knospe sprengen zu wollen scheint, Dorotheens Ausgleiten auf den Platten des Weinbergs, die Umarmung, in der Hermann sie auffängt und die Wärme des Herzens, den Balsam des Atems empfindet, die edle Selbstbeherrschung, die er in diesem Moment zeigt, Dorotheens Scherz, zu dem sie bei aller eignen inneren Bewegung doch noch Freiheit des Gemütes und der Sitte genug hat -- dies alles würde diesen Gesang zur Krone der ganzen Dichtung machen, wenn es nicht unpassend wäre, in einem Gedicht wie das unsre von besonders schönen Stellen zu reden, in einem Gedicht, wo ein mildes Licht über alle Teile seine harmonische Heiterkeit verbreitet, jeder einzelne Punkt Zweck des Ganzen ist und das Fortstürmen der Erzählung ebenso mächtig als still, der Anteil des Gemütes ein ebenso inniger als freier ist. Auch hier spielt der Zufall, der Liebende ja so oft begünstigt oder neckt, da ihnen alles von Bedeutung ist und alles ihrer Empfindung eine Handhabe gewährt, sein liebliches Spiel. Dorothea, unter dem Birnbaum sitzend, sieht im hellen Mondlicht die Häuser und Höfe der Stadt daliegen, besonders ein Fenster hell im Wiederschein glänzen: dies Fenster ist zufällig gerade Hermanns; er sagt es ihr auch; es ist meines, spricht er, vielleicht wird es nun das deine; dann, als hätte er sich schon zu deutlich verraten, fügt er hinzu: wir verändern im Hause, welche Worte wieder einen Doppelsinn enthalten. Auch das Fehltreten Dorotheens, das dem Jüngling noch vor der Verlobung das Glück schafft die Geliebte ans Herz drücken zu können, ist ein Spiel des Schicksals, das Amor selbst mit sinnvoller List gefügt zu haben scheint. Aus der Sphäre der Empfindung und des Liebesspieles hebt uns der letzte Gesang, der nach der Urania, der Sternenmuse, benannt ist, in die Höhen der Familie. So fein auch hier wieder die Spiegelung des wirklichen Lebens, so reich die Szene an Zügen ist, die der Natur unmittelbar abgelauscht sind, so sehr alles dadurch in vertrauliche Nähe gerückt wird, so tritt doch hier im Schlußgesange in und mit der Empfindung für das sich krönende Verhältnis der uns liebgewordenen Personen der hohe Sinn des Gedichts, der Ideengehalt zu Tage: Tod und Leben, der Kreislauf der Lebensalter, Saat und Frucht des Menschenlebens, Schicksal und Sitte, die Familie in ihrer festen Grundlage mit ihrem Schatz dunkler unmittelbarer Naturgefühle und die Geschichte, die die Wohnungen der Naturbestimmtheit zerbrechend Völker gegen Völker treibt und sie eins nach dem andern als Werkzeuge der sich in ununterbrochener Entwicklung vollziehenden Idee verwendet. Goldne Worte tiefer Wahrheit hat der Dichter dem Pfarrer in den Mund gelegt, wenn dieser über den Tod und die Vergänglichkeit des Lebens die doppelte Ansicht des Philosophen und des Religiösen ausspricht: Des Todes rührendes Bild steht Nicht als Schrecken dem Weisen und nicht als Ende dem Frommen. Jenen drängt es ins Leben zurück und lehret ihn handeln; Diesem stärkt es zu künftigem Heil im Trübsal die Hoffnung; Beiden wird zum Leben der Tod. Der Vater mit Unrecht Hat dem empfindlichen Knaben den Tod im Tode gewiesen. Zeige man doch dem Jüngling des edel reifenden Alters Wert und dem Alter die Jugend, daß beide des ewigen Kreises Sich erfreuen und so sich Leben im Leben vollende! Während also der Fromme in dem Tode nicht das Ende sieht, sondern an ihn die Vorstellung fortgesetzten Lebens knüpft, fordert der Gedanke des Todes den Weisen auf die Gegenwart zu ergreifen, sie mit Wesentlichem zu füllen und ewig zu sein in jedem Momente. Die Vergänglichkeit aber ist zugleich eine immerwährende Erneuerung, der ewige Untergang eine ewige Geburt; so blicke denn der Jüngling auf den Wert des Alters, dem er unaufhaltsam zureift, und der Greis auf die Jugend, in der er sich selbst wiederholt, daß beide sich des ewigen Kreises ohne egoistisches Bedauern, ohne Vorwurf gegen die Weltordnung erfreuen. Die ewige Verjüngung und Erneuerung der Familie zeigt sich in Hermanns und Dorotheens Bunde, denen Vater und Mutter als Repräsentanten des Alters gegenüberstehen. Bei der Verlobungsszene findet der Pfarrer mit Erstaunen an Dorotheens Finger den früheren Verlobungsring und nun hält Dorothea eine Rede, die das idyllische Familienbild in den Zusammenhang mit dem großen Ganzen der geistigen Welt erhebt. Der Rat, den der scheidende Bräutigam ihr hinterließ: Aber dann auch setze nur leicht den beweglichen Fuß auf! u. s. w. das Bild, das er ihr von den Stürmen der gewaltigen Zeit entwirft: Alles bewegt sich Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich alles zu trennen u. s. w. -- es ist die Stimme der Geschichte selbst, die heiligend und erschütternd in unsern stillen Kreis hineinruft, um diesen auf den Gipfel zu heben, wo der Mensch den Zusammenhang des kleinsten Lebens mit dem größten überblickt. Die frohe Zuversicht aber, die beim Einsturz aller politischen Formen das Gefühl der unverrückbaren Festigkeit des Familienfundamentes und des Eigentums dem darauf fußenden Manne gewährt, dieses echt deutsche Gefühl, diesen letzten Sinn des Gedichts spricht Hermann in den Schlußworten befriedigend aus. Man könnte sich darüber wundern, daß Goethe nicht, um die in dem Gedicht herrschende Empfindung noch mehr abzuschließen, durch eine eingeflochtene Nachricht den Frieden mit Frankreich und die Sicherheit der Rheinlande zu stande kommen läßt, um so mehr, da er selbst gerade zur Zeit, wo er an dem Gedicht arbeitete, an Schiller schreibt: Auch mir kommt der Friede zu statten und mein Gedicht gewinnt dadurch eine reinere Einheit. Der Dichter begnügte sich den Vater gleich anfangs von frohen Friedenshoffnungen, auf die alles deute, von dem festlichen Friedenstedeum, das bevorstehe, sprechen zu lassen und im Geiste sehen nun auch wir voraus, daß Hermanns Hochzeit an dem Tage des großen Landesfestes mitbegangen werden kann. Was den Gang der Szene im einzelnen betrifft, so versetzt uns der Dichter bei Eröffnung des Gesanges auf einen neuen Schauplatz, ins elterliche Haus, wo Eltern und Freunde erwartungsvoll der Ankunft Hermanns harren. Durch die Schilderung der Ungeduld der Mutter, die lange Erzählung des Apothekers, die Betrachtung des Pfarrers über Tod und Leben wird der langen Szene der beiden Liebenden gegenüber, die den ganzen vorigen Gesang einnahm, das Gleichgewicht und die Symmetrie wiederhergestellt, wonach für das elterliche Haus ein ungefähr gleiches Verweilen gefordert war. Sehr gewandt ist das Mittel, durch welches der Dichter das holde Geständnis der Liebe Dorotheen entlockt, über deren Gesinnung wir bisher nicht ganz sicher waren; die Weise, wie dies aus dem Mißverständnis sich entwickelt, ist zugleich eine sehr natürliche, dem Charakter sowohl des Vaters als Hermanns angemessene und stellt uns noch zum Schluß die ganze mädchenhafte Zartheit Dorotheens, die sich mit echt weiblicher Entschlossenheit paart, vor die Augen. Der Mißton, der dem harmonischen Zusammenklang aller Umstände und Charaktere vorhergeht, erreicht in Dorotheens Rede die höchste Stufe; denn sie will ja wieder fort; aber er ist auf demselben Punkt der schönen Auflösung am nächsten, da das Motiv ihrer Entfernung ja die heimliche Liebe zu Hermann ist. Im übrigen ist auch hier die Naturwahrheit jedes ausgesprochenen Wortes zu bewundern, die sich mehr nachfühlen als erklären läßt und die den Leser desto tiefer ergreift, je reicher an Menschen- und Lebenserfahrung er ist. So wenn die Mutter zu wiederholten Malen das Zimmer der Männer verläßt und wieder betritt und vom Gewitter spricht und, daß der Mond sich schon verdunkelt habe, und von der Gefahr der Nacht und die Freunde lebhaft tadelt, daß sie von Hermann sich getrennt, und der Vater unmutig nach Weise der Männer sie bedeutet: Mach nicht schlimmer das Uebel; du siehst, wir harren ja selbst. Oder die muntern Worte, mit denen der Vater die eben hereingetretene Dorothea neckend begrüßt: Ja, das gefällt mir, mein Kind u. s. w.; oder auch diejenigen, die er später spricht im Widerwillen gegen das Weinen des Mädchens: Also das ist mir zuletzt für die höchste Nachsicht geworden u. s. w. Charaktere. Nachdem wir in dem Bisherigen die substanzielle Welt, die sich hier vor uns öffnet, besprochen haben, gehe ich über zur Beleuchtung der individuellen Charakterbilder, die der Dichter auf diesem Boden, in dieser Atmosphäre uns vorführt und in denen der allgemeine darin herrschende Geist sich individualisiert, sich zusammenfaßt. Der Hausvater, ein behaglicher, wohl etwas beleibter Wirt, der im Wohlstande lebt, besitzt nicht bloß sein Gasthaus zum goldenen Löwen, sondern er ist wie die Bürger kleiner Städte zugleich Landwirt und es gehört ihm außer dem großen Garten auch ein schöner Weinberg und ein weites Kornfeld. Im Hause ist unser Wirt etwas herrisch und brummig, gerade wie Hausväter zu sein pflegen. Mütterchen, seit langen Jahren mit ihm verbunden, weiß ihn aber zu behandeln und erträgt sein auffahrendes Wesen mit Gleichmut. Unübertrefflich ist die Physiognomie des alten Ehebundes gezeichnet: Gewohnheit verbindet beide, ihre Gefühle sind mit ihnen alt geworden, ja sie streiten miteinander und dennoch würden sie die Hälfte ihres Selbst verlieren, wenn eins dem andern entrissen würde. Obgleich sie sich gegen den Sohn auf verschiedene Weise benehmen, sind sie doch durch gemeinschaftlichen Besitz dieses einzigen Kindes eins und oft bestimmen sie ihm mit elterlichem Geschwätz bald dieses bald jenes Mädchen zur Braut. Der alte Herr ist auch Mitglied des Rates gewesen, hat mit tüchtigem Geschäftssinn manches zur Verbesserung der Verwaltung, zur Ausbesserung der Gebäude und Reinlichhaltung der Straßen gewirkt, sich aber auch mit seinen Kollegen im Rat tüchtig gezankt und, wenn er dann nach Hause kam, mußten die Hausgenossen die üble Laune und den mitgebrachten Aerger entgelten. Bei Tische trinkt er nach Sitte jener weintragenden Gegend einige Schoppen, erhitzt sich dabei, wird gesprächiger, aber auch leicht zum Zorne gereizt und spricht dann manch heftiges Wort, das ihn am Abend, wenn der kleine Rausch verflogen, wieder gereut. Nachher ist er dann auch wieder sehr leicht zu behandeln und für dasjenige, wogegen er heftig geeifert, zu gewinnen. Verhaßt ist ihm wie vielen älteren Herren das Weinen, Jammern, das viele Reden der Weiber, das ihn aus seiner Ruhe stört; droht das Geschnatter oder das Lamentieren anzugehen, dann steht er ärgerlich auf und geht in sein Schlafzimmer, um sich zu Bette zu legen. Seine Einwilligung zu seines Sohnes Heirat gibt er halb scherzend nur deswegen, weil er im entgegengesetzten Fall nur Trotz und Thränen voraussieht. Eine gewisse Gravität und bürgerlich-stattliche Haltung ist ihm angeboren; bedächtig schreitet er Sonntags aus der Kirche, so daß die Schuljugend dadurch zu Neckereien gereizt wird. Seinen Sohn Hermann hat er immer zu tadeln, wie so oft Väter thun, wenn sie grämlich geworden; er möchte ihn anders haben und versteht dessen Charakter nicht; er möchte ihn gern nach Vätereitelkeit zu höherem Stande streben sehen und wünscht ihm feinere Manieren, gewandteres Benehmen; überhaupt hält er, wie Hermann selbst Dorotheen mitteilt, auf Aeußeres und auf zierliches Benehmen und er rühmt von sich selbst, daß er als guter Gastwirt jeden nach Stand und Charakter zu behandeln wisse. Er will daher auch kein bäurisches Mädchen zu sich als Schwiegertochter ins Haus; sie soll das Klavier spielen und die schönsten und besten Leute sollen sich Sonntags bei ihm versammeln. Bei all diesen Eigenheiten ist der Vater dennoch eine kernhafte und gutmütige Natur. Das Elend der Vertriebenen rührt ihn und er gibt gern das Seinige hin ihr Unglück zu mildern. So erteilt ihm auch der Dichter das Epitheton: der menschliche Hauswirt. Und die neue Schwiegertochter, so sehr ihr Stand und ihre Armut seinen Lieblingswünschen entgegen ist, umarmt er dennoch herzlich, die Thränen verbergend. Die Mutter ist ein echtes Weib, eine echt bürgerliche Hausfrau. Das Haus, der Keller, der Garten sind das Reich, in dem sie geschäftig waltet. Voll Besorgnis ihren Sohn suchend, geht sie einmal durch den Garten und nimmt gleich im Vorbeigehen einige Raupen vom Kohl und stellt die Stützen der Obstbäume zurecht. Als Weib ist sie leichter gerührt als der Vater, beweglicher als dieser in seiner bürgerlichen Gravität. Die Thränen kommen ihr, wie der Dichter sagt, leichtlich ins Auge. Obgleich sie im wesentlichen sich dem Grundton anschließt, in dem der Vater denkt und spricht, so hat sie doch oft als Weib und Mutter die raschen Worte und heftigen Meinungen zu mildern, zu denen jener im Eifer sich hinreißen läßt. Sie steht als wahrhafte Mutter mit ihrem Sohn in regem Gemütsbündnis; dieser verläßt nie das Haus, er sagt es ihr denn; sie neigt sich zu ihm, wenn er leidet, weint mit ihm, errät seine Gedanken, empfängt seine Geständnisse und schilt den Vater, wenn dieser über ihren Hermann ungeduldig wird. Sie und der Vater erinnern lebhaft an Goethes Eltern, denn auch im Goetheschen Hause war die geistvolle nachsichtige Mutter oft die heimliche Verbündete des genialen Sohnes, wenn dessen Dichternatur mit der pedantischen Gravität des Vaters in Widerspruch trat. Auch Wilhelm Meister stand wie Hermann mit seiner Liebe, so mit seinem Theaterdurst und seinen Kunstidealen dem alten Kaufherren Meister innerlich fern, der Mutter aber durch Vertrauen und Einverständnis nahe. Hermann der Sohn zeigt uns die deutsche Natur, die deutsche nationale Eigenheit in einem meisterhaften Individualbilde verkörpert. Hermann ist treu und fleißig, gediegen und tüchtig. Ihm ist nicht gegeben, mit raschem Geistesblick die Dinge zu ergreifen, aus der Tiefe der Seele die Gedanken mühelos an die Oberfläche zu heben, mit energischem Willen augenblicklich die Menschen und Einrichtungen nach seiner Absicht und Einsicht zu zwingen. Geistesgegenwart geht ihm ab, die Waffe der List ist ihm versagt, die feinere und geistreichere, aber oft auch nichtigere und leicht verbrausende Lust des Lebens ist ihm unbekannt. Hermann sprudelt nicht von Witz- und Geistesfunken, die, nachdem sie einen Moment geleuchtet, erlöschend in Asche versinken; seine Auffassung ist langsam, aber, wenn sie erfolgt ist, immer der Wahrheit eines reinen und innigen Gemütes entsprechend. Hermann denkt immer mehr, als er spricht; auf ihn kann man sich verlassen, sowohl auf sein Gemüt, als auf sein Wort, als auf die Arbeit, die er thut. In Gesellschaft ist er blöde, sein Auftreten, seine Kleider sind etwas bäurisch; herzlosen Weltmenschen erscheint er lächerlich und der Gewandtheit gegenüber ist er waffenlos. In der Schule ging es mit ihm langsam; der Vater klagt, daß Hermann immer der Unterste saß; er konnte eben nicht flüchtig aufnehmen, um das Aufgenommene von jedem neuen Eindruck wieder wegspülen zu lassen; aber war etwas von ihm angeeignet, so war es gewiß seiner Natur gemäß und sein Besitztum für immer. Gutmütig und langsam, ließ er sich von seinen Schulkameraden manches gefallen, nur wenn sein Innerstes, sein Gemüt mit ins Spiel kam, z. B. wenn über seinen Vater, über dessen bedächtigen Gang und großblumigen Schlafrock gespottet wurde, dann erwachte sein Zorn und blind und wütend hieb er um sich; denn gerade, wenn eine schwerfällige Natur wie die Hermanns einmal empört wird, so wirft sie unaufhaltsam wie ein Element alle Schranken vor sich nieder. Fließend und beredt sprechen war Hermann nicht gegeben: Deine Zunge stockte immer, sagt der Vater. Desto besser gelangen ihm bäuerliche Arbeiten auf dem Felde, im Weinberg, im Garten. Die Hengste im Stall besorgt er selbst; er hat sie auferzogen und vertraut sie keinem andern an, recht ein ländlicher Bursche, dessen Freunde ja immer die Pferde sind. Er wohnt in der Kammer im oberen Stock, ist frühmorgens mit der Sonne auf und wenige Stunden gesunden Schlafs genügen ihm. Ueberhaupt ist er gesund, hat starke Nerven und einen hohen Wuchs. Er ist kein sentimental schwindsüchtiger Jeanpaulischer Romanheld, der Sehnsucht nach den Sternen hat. Von künstlichen Reizen und exotischen Phantasien weiß er nichts: er ist der ruhige Bürgerssohn, der nicht für das Weite und Umfassende, nicht für Staat, Krieg, Wissenschaft, Ehre bestimmt ist, sondern für die immer wiederkehrenden Geschäfte des Ackerbaues und ein enges geordnetes Erwerbs- und Familienleben. Zwar will er einmal aus den gewohnten Lebensverhältnissen scheiden und mit in den Krieg ziehen, aber nicht weil ihm jene zu eng sind oder dieser den inneren Thatendrang zu stillen verspricht, sondern gerade weil er in Gestaltung seines häuslichen Lebens durch Widerspruch gestört worden und weil die Liebe, die Seelenbezwingerin, auch ihn für den Augenblick aus dem Gleichgewicht gebracht hat. In der Uniform zu prunken und als Soldat vor den Mädchen zu stolzieren, diese Eitelkeit fällt ihm nicht ein. Am Schlusse des Gedichts spricht er eine standhafte patriotische Gesinnung aus, aber nur weil der gewonnene Besitz eines geliebten Weibes ihn mit der Empfindung des Eigentums überhaupt erfüllt hat; nun ist das Meine meiner als jemals, ruft er aus; es ist der Mut des Bürgerwehrmannes, des Nationalgardisten, der für den Bestand des Besitzes auch sterben kann und, wenn die Gefahr vorüber ist, rasch zu seiner Sphäre des Privaterwerbes zurückkehrt. Bei aller Beschränktheit des Blickes und der Wünsche ist Hermann rein von Gemüt, unbefleckten Herzens, voll Zartgefühl gegen die Eltern. Er ist ein ungestörtes Naturprodukt und ein sicherer Instinkt führt ihn auf das ihm Gemäße, das er bald erkennt und als das Seinige festhält. So hat er auch Dorotheen gefunden, nach wenigen Augenblicken erkannt und in einem Tage ist seine Ehe entschieden. Das Unbehülfliche und Beschränkte seines Wesens ist nur die äußere Gegenseite der inneren Unverrückbarkeit und Integrität seines Gemütes. Auch die Art, wie seine Liebe zu Dorotheen sich äußert, stimmt ganz zu seinem übrigen Wesen und dem Lebenskreise, dessen Produkt er ist. Kein idealer Wahn der Phantasie, der den Jüngling zu den Füßen des Mädchens stürzt, kein himmelhoch Jauchzen, zum Tode betrübt; sondern in stiller Kammer hat er sich einsam gefühlt; der Garten, das Feld, die Geschäfte sind ihm öde erschienen; der Vater wird alt, die Habe mehrt sich, für wen schaffen und wirken? Er entbehrte der Gattin, er sehnte sich nach einer Lebensgefährtin. In solcher Stimmung stieß er auf Dorotheen und findet rasch, daß sie für ihn bestimmt ist; herzliche Neigung fesselt ihn so entschieden, daß er das Haus verlassen will, wenn ihm das Mädchen versagt wird, und ist eine sichere Gewähr für bleibendes häusliches Glück. So haben wir in Hermanns Liebe nur den Zug der Sittlichkeit, die Gestalt gewinnen will, das stille Anknüpfen eines bürgerlichen Ehebundes, nicht die phantastische Ueberspannung einer poetischen Jugendleidenschaft, deren Flamme, je verzehrender sie um den ergriffenen Gegenstand lodert, desto eher in diesem Besitze erlischt. Durch die Gruppe der genannten drei Personen ist die Familie vollendet. Zu ihr treten zwei Hausfreunde, der Pfarrer und der Apotheker des Städtchens. Beide sind an Bildung der schlichten Bürgersfamilie überlegen, der Pfarrer mehr von der idealistischen, der Apotheker von der realistischen Seite. Doch erkennt man an dem Pfarrer als einem durch wissenschaftliche Studien Gebildeten eine wirkliche Geistesüberlegenheit, während der Apotheker seinem Berufe angemessen, der zwischen dem Gelehrten und Techniker in der Mitte schwebt, eine halbe Stellung einnimmt und sich mehr die Miene höherer Weisheit gibt, als diese wirklich besitzt. Der Pfarrer ist als Kandidat der Theologie nach Vollendung der Universitätsstudien, wie dies zu geschehen pflegt, Hofmeister eines jungen Barons gewesen und mit ihm nach Straßburg gegangen, wo der Zögling wahrscheinlich studieren sollte. Als Hofmeister hat er die Welt auch in höheren Kreisen etwas kennen gelernt; er versteht z. B. die weltmännische Kunst einen Wagen vom Bocke zu lenken; überhaupt ist er kein beschränkter und bäurischer Dorfpfarrer. Er vertritt in dem engen Bürgerleben der kleinen Stadt den weiteren Geistesblick, die tiefere Einsicht. Natürlich kennt er sein Fach, die heilige Geschichte, aber auch in der profanen ist er wohlbewandert. Seine Ansichten tragen das Gepräge der Versöhnlichkeit und milden Heiterkeit; durch humane Toleranz ist er die Zierde der Stadt; in allem, was er sagt, drückt sich edle Lebensweisheit ab; immer weist er auf das Höhere und Vernünftige, auf die innere Ordnung hin, die dem blinden Treiben der Welt zu Grunde liegt; er findet das Gute überall heraus und empfiehlt das Sittliche als das allein Zweckmäßige und Glückbringende. Kein Rigorismus, kein religiöser Fanatismus, kein Pfaffentum ist in ihm. Auch als mildthätig zeigt er sich: im Dorf unter den Vertriebenen hat er schnell sein Silbergeld verschenkt und händigt auch noch ein Goldstück dem Richter ein, um es durch diesen den Armen zukommen zu lassen. Der Dichter nennt ihn einen Jüngling, näher dem Manne. Der Charakter des Apothekers ist äußerst fein von dem Dichter gezeichnet, so daß es schwer ist, dies leichte und doch so konsequente Gebilde zu fassen. Haben wir in dem Pfarrer einen ernstfreundlichen Mann, der in seinen sittlichen Grundsätzen und in reifer Bildung bei jedem Handeln den Schwerpunkt findet, so bewegt sich der Apotheker geschäftig und unruhig hin und her; er kann mit der Rede nicht an sich halten, sondern nimmt jedem das Wort vor dem Munde weg; in seiner Lebendigkeit schießt er an dem Ziel auch vorbei; er ist rührig und thut sich auf seine List und Schlauheit etwas zu gute; auch allgemeine Betrachtungen weiß er anzustellen und gibt sich als einen Vielerfahrenen, aber er ist zu unstäten Geistes, als daß seine Ansichten das Wahre und die Wurzel des menschlichen Lebens getroffen hätten, und häufig hat der Pfarrer den rechten Gesichtspunkt wiederherzustellen. Er ist ein gutmütiger, dienstfertiger Alltagsmensch, der glücklich ist, wenn man ihm eine Hantierung aufträgt, mit Bestrebungen und Besorgnissen, die er mit der großen Menge praktisch-realistischer Menschen teilt. Geduld ist seine Sache nicht. Schon als Knabe, erzählt er uns selbst, war ihm einmal, als der Wagen, der sie zu den Linden führen sollte, zu lange ausblieb, die Geduld völlig ausgegangen; er lief wie ein Wiesel dahin und dorthin, Treppen hinauf und hinab und von dem Fenster zur Thür. Die Hände prickelten ihm, er kratzte die Tische, stampfte mit den Füßen und das Weinen war ihm nahe. Da führte ihn der Vater ans Fenster und wies auf die gegenüberliegende Werkstatt des Tischlers, der den Sarg macht, in den wir uns alle legen müssen, früh genug, ob wir geduldig oder ungeduldig seien. Seitdem, meint er, wurde ihm die Ungeduld mit der Wurzel ausgerissen, aber er täuscht sich mit dieser Behauptung. Während im Dorfe der Pfarrer mit dem Richter im Gespräch begriffen ist und dies Gespräch eine allgemeinere Wendung nimmt, treibt den behenden Mann die Unruhe fort, er läuft beiseite und späht durch Hecken und Gärten nach der Unbekannten. Nachdem endlich beide über das Mädchen hinreichende Erkundigung eingezogen und indem sie nun wieder zu Hermann kommen, spricht er schon aus der Ferne dem Harrenden zu, er kann nicht an sich halten. Wie Hermann an einer früheren Stelle des Gedichts seinen Entschluß kundthut, Dorotheen zur Gattin zu wählen, stimmt der Pfarrer sogleich freudig bei, der Apotheker aber rät erst das Mädchen zu prüfen, ob sie des Bräutigams auch wert sei. Dieselbe vulgäre Klugheit zeigt er in dem Augenblick, wo der Pfarrer zum ersten Mal Dorotheen erblickt und, von ihrer Gestalt ergriffen, der Schönheit ihrer Seele sogleich gewiß ist: dem Schein ist nicht zu trauen, warnt er weise; man soll über niemand urteilen, bevor man mit ihm den Scheffel Salz verzehrt hat. Gleich anfangs, wo er vom Anblick des Zuges der Vertriebenen zurückgekehrt ist, nennt er jeden glücklich, der nicht Weib und Kind daheim hat in so gefährlichen Zeiten, denn einem solchen kann das Schicksal nichts Ernstes anhaben und sein Bündel ist leicht geschnürt. Ich selbst habe, sagt er, die Kostbarkeiten beiseite gepackt, um mich ohne Zeitverlust aufmachen zu können, obgleich ich die gesammelten Kräuter und Wurzeln ungern verlasse. Unser Apotheker ist also unverheiratet und in der That macht er den Eindruck eines Hagestolzen, der nirgends recht festen Fuß gefaßt hat. Wo am Schlusse des Gedichts die Verwicklung glücklich gelöst ist und die übrigen in Empfindung verloren sind, neigt sich der Apotheker sogleich mit Segenswünschen. Eine komische Rolle spielt er, wo er sich in den Wagen setzen soll, den der Pfarrer leitet: er zaudert und sitzt während der ganzen Fahrt wie einer, der immer zum weislichen Sprunge bereit ist. Etwas spaßhaft ist auch seine Wohlthätigkeit: da er kein Geld bei sich hat, so zieht er wenigstens den gestickten ledernen Tabaksbeutel, öffnet ihn zierlich und teilt mit dem fremden Richter die wenigen Pfeifen Knaster, den er zu loben nicht ermangelt. Der Dichter hat den ganzen Charakter mit einer leichten liebenswürdigen Ironie behandelt, die aber nirgends stark hervortritt, sondern sich gleichsam nur in einem leisen Lächeln des erzählenden Sängers kundgibt. Wenn wir den Richter erwähnt, der wie der Vater die Kinder, wie ein altorientalischer Patriarch einen ziehenden Stamm, so die Haufen der Fliehenden mit Weisheit und würdigem Ernste lenkt und ermahnt, so ist von den Hauptgestalten nur noch eine übrig: Dorothea. Dorothea ist ein starkes Dorfmädchen in der Tracht, wie sie an zwei Stellen des Gedichts beschrieben wird, mit blauem, gefaltetem Rock, rotem Brustlatz, schwarzem Mieder und einer Halskrause. Sie wäscht und trägt, sie treibt die Ochsen des Wagens, sie holt Wasser und verdingt sich als Magd. Sie hat auch, wie der Schultheiß erzählt, einmal ihre und ihrer Gefährtinnen Unschuld gegen eindringendes Kriegsgesindel verteidigt, indem sie mit rascher Körperkraft den ersten zu Boden hieb und die andern in die Flucht jagte. Dies beweist ihre Entschlossenheit. Es fehlt ihr aber deshalb nicht an Zartheit der Empfindung; denn nicht nur ist sie hilfreich gegen die Wöchnerin und weiß die Kinder an sich zu fesseln; sie hat auch früher mit liebender Aufopferung einen alten Verwandten, bei dem sie wohnte, bis an seinen Tod gepflegt; obgleich ihr Auge, wie Hermann sagt, mehr Verstand als Liebe blickt, hat sie doch schnell eine zärtliche Neigung zu dem Jüngling gefaßt und die letzte Szene offenbart uns unter der Hülle der kräftigen Magdgestalt den zartesten Seelenadel und eine echt jungfräuliche Delikatesse. Eigentümlich weiblich ist es, wenn Dorothea sich abweisend und kurz abfertigend gegen Hermann benimmt, z. B. da, wo er ihr den Wasserkrug abnehmen will und sie dies nicht zugibt. Dorothea ist ein Mädchen von der Westgrenze Deutschlands, etwa aus dem Kurfürstentum Trier oder Mainz; in ihr verschmilzt das deutsche Gemüt mit dem feinen Takt und Verstand der französischen Nachbarn. Selten wird sie von sentimentaler Rührung angewandelt und auch, wo sie sich der Empfindung überläßt, verliert sie den freien Blick über den Moment und das, was er fordert, nicht. Scheinbar als Magd in das Haus ihres künftigen Gatten gelangt, übersieht sie beim ersten Scherzwort sogleich die Gefahr ihrer Lage und mit Kraft und Offenheit beschließt sie durch augenblickliche Entfernung ihr zu entgehen. Dies, sowie die Feinheit ihres immer angemessenen Benehmens, das Taktvolle ihrer Worte und die verständige Klarheit bei allem Handeln ist ein Anflug aus dem nahen Frankreich, wie dies Dorothea selbst einmal andeutet. Sie wird, wie vorauszusehen ist, des Vaters Lieblingstochter werden. Gegen Dorothea steht Hermann etwas zurück: er ist der Weiche, Innerliche, sehnsüchtig Bewegte, sie die Besonnene, Bestimmte, die ihre richtige Empfindung sogleich in die That, z. B. das Mitleid in Hilfsleistung umsetzt. So finden wir auch in diesem Paar das Charakterverhältnis wieder, das durch alle Liebespaare der Goetheschen Dichtung geht. Eine gewisse Weichheit zeichnet die Männer aus und sie sind alle der weiblichen Vollkommenheit gegenüber leidend und gefangen; so Weislingen, Werther, Clavigo, Egmont, Tasso, Wilhelm Meister, Eduard. Das weibliche Ideal gelang Goethe unübertrefflich: er hatte aber selbst zu viel seelenvolle Weichheit in seiner Natur, als daß er heroischer Männlichkeit vollkommen hätte nachempfinden können. Von dem Heroismus aber, der auch in der weiblichen Natur liegt und in entscheidenden Momenten großen Unglücks oder dringender Gefahr hervortritt, legt auch Dorothea Zeugnis ab, indem sie die eindringenden Soldaten so tapfer abwehrt. Diese Selbstverteidigung Dorotheens als einen falschen, widerwärtigen Zug zu tadeln ist leicht. Wenn auch Wilhelm von Humboldt sich den Tadlern anschließt, so scheint uns dieses Urteil noch ein Rest jener stolzen und kalten Idealität, die Humboldt eigentümlich war und die er in seinem Umgang mit Schiller reichlich pflegte. Die übrigen minderbegabten Rezensenten, die das Gedicht nach seinem Erscheinen in den damaligen kritischen Instituten beurteilten, fanden noch eine viel größere Menge von Zügen unzart und platt; daß sie Ochsen treibt, daß sie um eine Wöchnerin und ihr eben geborenes nacktes Kind beschäftigt ist u. s. w.; dies alles ist wider die konventionelle Delikatesse. Sie mußten folgerecht Dorotheens ganze Gestalt, ja alle Personen und Sitten des Gedichtes verwerfen. Auch daß Dorothea schon früher einen Bräutigam gehabt, könnte ihr in den Augen manches Lesers schaden, denn es ist also nicht die erste frische Liebe, die sie zu Hermann führt, jene Liebe, von der das bis dahin unbefangene nichtsahnende Herz plötzlich und unwiderstehlich überrascht wird. Allein die romantische subjektive Liebe als solche zu schildern war hier überhaupt des Dichters Zweck nicht, sondern eine werdende Ehe. Er wollte in einem ruhigen Gemälde die Art und Weise darlegen, wie in einer unverdorbenen bürgerlichen Welt auf unbefangen menschlichem Wege das Institut der Ehe sich verwirklicht und von Geschlecht zu Geschlecht sich erneut. Gerade Dorotheens früheres Unglück, der Verlust ihres Bräutigams gibt ihr bei aller Kraft der Seele, bei aller Heiterkeit des Schaffens einen rührenden Zug, der uns das liebliche Mädchen noch näher bringt. Wer daran Anstoß nimmt, daß Dorothea schon einmal geliebt, der wird in dem Gedicht auch sonst noch viel vermissen, aber auch die eigentümliche Welt, in der es sich bewegt, ganz verkennen. Alle Gefühlsschwelgerei, alle Exzentrizität der Leidenschaft hat der Dichter durchgängig abgewiesen; in der Gesinnung echter Bürger, sowie in dem Gange ihres Lebens waltet ja nicht sowohl phantastische Ueberspannung als verständiger Realismus. Hermann und Dorothea stehen beide nicht zu einander wie Romeo und Julie. Nachdem Goethe in früheren Dichtungen alles Entzücken und alle Verzweiflung der Liebe aus tiefster Erfahrung ausgesprochen, neigte sich seine Dichtung in späteren Jahren den stillen Beziehungen der Ehe zu und, wie in den Wahlverwandtschaften die Ehe selbst und die in ihr schlummernden negativen Mächte das Thema bilden, so ist die Muse unseres Gedichts nach des Dichters eigenen Worten diejenige, die gern die herzliche Liebe begünstigt und den Bund eines lieblichen Paares vollenden hilft. Dies sind die Charaktere des Gedichts. Man weiß nicht, was man an ihnen mehr bewundern soll, die ideale Wahrheit und individuelle Lebendigkeit oder die poetisch-konkrete Entfaltung oder die feine Nüancierung oder die Kunst plastischer Gruppierung. Sie sind alle dem Leben selbst abgelauscht, sie ergreifen durch das wiederkehrend Menschliche, das ewig Allgemeine, das uns in ihnen entgegentritt. Sie sind ein Ausdruck der unwandelbaren Naturkräfte, die das Leben durchdringen und gestalten, der Gefühle, Bestrebungen und Stimmungen, die überall sind, wo nur ein Herz menschlich schlägt, heute wie im grauen Altertum, bei Homer wie in unsrer täglichen Erfahrung. Als Schattenbilder im Reiche der Phantasie in idealen Höhen geboren, treten sie in vertraute Nähe zu uns heran und wir erkennen sie wieder als befreundete Gestalten, aus denen unsere eigene innerste Herzenserfahrung spricht. Bei allem individuellen Kolorit sind sie so typisch, daß wir sie in der äußersten Ferne wiederfinden: der Apotheker ist in unserm Kreise, was Pylades in der Iphigenie, Antonio im Tasso, Mephistopheles im Faust, was bei Homer der erfindungsreiche Odysseus; der Vater gleicht im Rate seiner Freunde und Familiengenossen dem götterberatenen, gewaltig herrschenden, leicht zürnenden Sohn des Kronos, den seine Umgebung durch List und Ueberredung dennoch beherrscht; er wünscht wie jeder Vater, wie Hektor beim Homer, daß ihm der Sohn nicht gleich sei, sondern ein Besserer; der Pfarrer, der in Hermanns Liebe die Stimme des Schicksals vernimmt und dieser zu folgen für die edelste Weisheit hält, er ist, was der Seher Kalchas bei Homer, welcher kannte, was ist, was war und was sein wird; beide Hausfreunde stehen sich gegenüber wie Erfahrung und Idee, wie Verstand und Vernunft als Typen geistiger Gegensätze; und Hermann selbst in seiner stillen arbeitsamen Naturexistenz, er ist der Jüngling überhaupt, der zum Manne heranreift, und wie Telemach wohnt er im oberen Stock und ist auf mit der rosenfingerigen Eos; ja gegen den Schluß mit wachsendem Kraftgefühl erhebt sich seine Gestalt zu der des Heros überhaupt, der mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes trägt, den sein Weib zur Schlacht wappnet: Und drohen diesmal die Feinde Oder künftig, so rüste mich selbst und reiche die Waffen! Dies Typische spricht sich in dem Gedicht an zahlreichen Stellen aus, z. B. wenn die Mutter ausruft: So sind die Männer! oder der Vater: Sind doch ein wunderlich Volk, die Weiber! oder wenn er sagt, er erfahre, was jedem Vater gedroht ist, daß den heftigen Willen des Sohnes die Mutter immer allzugelind begünstigt. Hermann, von seiner Liebe sprechend, ruft aus: Ja, es löset die Liebe, das fühl' ich, jegliche Bande, wenn sie die ihrigen knüpft; und nur das hinzugefügte »das fühl' ich« führt jenes allgemeine in die Sphäre des besondern Individuums zurück. Wie in Hermann der Sohn und Jüngling, so spricht und handelt in Dorothea das Mädchen, das Weib überhaupt: und sie sagt dies wiederum selbst, wo sie ihren Schritt als Magd dienen zu wollen als allgemeine weibliche Bestimmung des Dienens und Sorgens hinstellt. Ist Hermann der Telemachus, der Hektor überhaupt, so erscheint in Dorothea der Typus griechischer Jungfrauen, Töchter und Heldenfrauen, die liebende Andromache, die weise gewaltige Athene, die [Greek: parthenos androktonos], die schreitende Kanephore oder das =amphora=tragende Mädchen u. s. w. Nirgends zeigt sich ferner im Gedichte die Absicht einen Menschen vor uns hinzustellen, keine abstrakte Zeichnung, keine besondere Charakterschilderung; sondern, indem uns die Begebenheit erzählt wird, ergeben sich zugleich und unabtrennbar in organischem Zusammenhang die sie tragenden und von ihr wiedergetragenen Charaktere. Die Handlung geht nur fort, insofern der Charakter sich entfaltet, und diese Entfaltung eben ist es, die die Handlung weiterführt. So konkret auf diese Art die Charaktergebilde vor uns entstehen, so fein sind sie unter einander nüanciert. Alle Personen sind in der idyllischen Sphäre des Ganzen enthalten, sie sind alle ein Spiegel reiner Sitten, gemütlicher Güte und bürgerlich schlichten Verstandes. Dennoch hat diese gleiche Substanz in jedem auf eigentümliche Weise Gestalt gewonnen: hier der Vater mit leichter Hinneigung zu den Schwächen und Eigenheiten des Alters, der Bevormundung, der Eitelkeit; dort der Sohn mit tiefer Färbung unbehilflicher Gemütskonzentrierung; hier der Pfarrer als ein etwas pedantischer Verbesserer; dort der Apotheker mit seinem naiv drolligen Egoismus; dort die Mutter, die bewußtlos gutmütig alles nur in ihrem Hermann sieht u. s. w. Uebrigens treten die Charaktere in dem Gedicht selbst lange nicht so schneidend hervor, wie wir sie oben aus zerstreuten Zügen zusammengestellt; manche Reden, die der eine spricht, könnte man bei flüchtigem Hinsehen auch wohl dem andern zuteilen. Wie alles in unserm Gedicht maßvoll ausgeglichen und verschmolzen ist, so zittert auch um die Charaktere ein feiner Aether, sie ebenso beleuchtend als verhüllend, ein zarter Nebel, der zwar durchscheinend ist, aber die Härte mildert und eine reizende Blässe um sie gießt. Man muß die sich bewegenden Personen aufmerksam verfolgen, sie lange ansehen, um die ganze Zartheit der Nüancierung zu empfinden. Aeußerst kunstvoll und plastisch sind sie endlich gruppiert. Die stille Gruppe der idyllischen Hauptgestalten wird durch den Gegensatz der flüchtenden Menge, die verworren von der Grenze herzieht und, wie sie alle Brunnen im Dorfe getrübt hat, so auch mit trüben Sinnen und in leidenschaftlichem Gezänke auf ihrem Wege weiterdrängt, getragen und beleuchtet. Des Vaters Ungeduld hebt die liebevolle Nachsicht der Mutter; an die im Mittelpunkt stehende Familie treten zu beiden Seiten die beiden innerlich verschiedenen Hausfreunde heran; der realistischen Gruppe des Vaters und Apothekers stellt sich die idealistische des Pfarrers und Richters gegenüber; hier der Vater mit den beiden Freunden in kälterer Stimmung und unter allgemeineren Gesprächen im Wirtssaale, dort gleichzeitig die liebende Mutter mit dem tiefergriffenen Sohn unter dem Birnbaum; Hermann und Dorothea, das selig beklommene Paar, am Brunnen, auf dem Heimgang, draußen im Mondlicht, unter drohenden Gewitterwolken, ihnen gegenüber die unruhig harrenden Eltern und Freunde im Hause; endlich in der Schlußszene die rührende Vereinigungsgruppe aller Personen in mannigfaltiger Beziehung zu dem Ereignis, je nach der Nüance des Charakters und der Beteiligung näher und weiter mit leichterer und tieferer Seelenbewegung zu dem glücklichen Momente sich stellend. Die Linien sind überall so einfach, die Gestalten so heiter und rein, die Momente bei aller Tiefe der Bedeutung so faßlich, daß hier alles die bildende Kunst zu einer Reihe von Figuren und Gruppen aufzufordern scheint. Bei der herrlichen Gruppe, die Hermann und Dorothea bilden, wo sie auf den Stufen des Weinbergs gestrauchelt ist und er sie in seinen Armen hält, ruft der Dichter selbst: So stand er Starr wie ein Marmorbild, vom ernsten Willen gebändigt. Vielleicht schwebte seiner Phantasie hier unbewußt die Gruppe des Sabinerinnenraubs von Giovanni da Bologna in der Loggia zu Florenz vor: ein sich stemmender heldenhafter Jüngling, der ein junges Weib hoch trägt ganz wie Hermann hier die über ihm hochschwebende Dorothea. Beide am Brunnen sitzend, neben einander herschreitend, am Baumstamm ruhend --lauter Momente für eine Marmorgruppe. An Meyer schreibt er, die höchste Instanz, vor der das Gedicht gerichtet werden könne, sei die, vor welche der Menschenmaler seine Kompositionen bringt; und an Schiller, er habe die Vorteile, deren er sich in Hermann und Dorothea bediente, alle von der bildenden Kunst gelernt. In der That gibt es kein neueres Gedicht, dem die klare stille Kunst der Plastik verwandter und dessen Phantasiegebilde leichter in sichtbare Marmorgestalten zu verwandeln wären. Sitten und Lebenssphäre. Schon oben ist von dem epischen Gedicht gesagt, daß es das Leben in seiner ganzen Breite vor uns aufrollt, mit freundlicher Anerkennung dem Kleinsten wie dem Größten eine Stelle in dem Gemälde gewährt und den Menschen als sinnlich-geistige Totalität im konkreten Zusammenhang mit der ganzen ihn umgebenden Welt der Dinge in den poetischen Spiegel aufnimmt. Nun hat aber eben unser Leben eine Gestalt, wie sie dem Dichter und Künstler nicht zusagt, sei es infolge der Zivilisation oder infolge des düstern Klimas, welches ein schönes Gleichgewicht menschlicher Entwicklung nicht begünstigt. Das Sinnliche ist bei uns zurückgedrängt, die frische Energie der Existenz, die in schönen und kräftigen Formen nach außen tritt, ist bei uns gebrochen. Der Maler sträubt sich gegen unsre Kleidertracht als phantasielos: er flieht mit seinen Darstellungen in frühere Jahrhunderte oder in einsame Gebirgsthäler oder in den Orient und sucht dort kleidsame farbige Gewänder, malerische Formen und Schnitte, prächtigen Schmuck, Adel und Einfalt der Erscheinung. Wie weit haben sich bei uns die Formen des Umgangs von jener naiven Ursprünglichkeit entfernt, mit der der Mensch die ganze Macht seiner innern Leidenschaft und Gesinnung in sein äußeres Benehmen, in den Ausdruck des Gesichts, in Gang, Haltung und Wort hineinlegte! In unsrer Geselligkeit darf weder der Zorn und Haß, noch die Freude und Liebe rein hervorbrechen und sich energisch in der sinnlichen Erscheinung malen. Nirgends versetzen wir in unser äußeres Thun den vollen Inhalt eines ungebrochenen Herzens, wir achten im Gegenteil unser Naturdasein gering und schätzen den Menschen nur nach dem Maß seiner geistigen Thätigkeit. Im homerischen Zeitalter stehen die Helden noch im engen Verkehr mit der äußern Natur: bei ihnen verschmelzen das Sittliche und Physische zum Bilde einer totalen und in sich einigen Menschennatur. Wie ganz anders bei uns! Wir beteiligen uns an den sinnlichen Geschäften nur halb oder gar nicht mehr. Schon hört bei uns das Handwerk allmählich auf, wo der Mensch mit gemütlichem Anteil in ein bestimmtes Werk seiner Hände sich vertieft: es verwandelt sich in Fabrik- und Maschinenarbeit, die ihr Produkt gleichgültig und uniform zu Tage wirft. Wo sonst ein Herold in bunter Tracht mit silberner Trompete den Krieg ankündigte, da wird jetzt ein Manifest geschrieben. Krieg und Schlacht sind mechanisch geworden, eine halb mathematische Wissenschaft, die mit Truppenlinien, mit Carrés, mit Stoß und Gegenstoß massenhaft operiert; es kann der Sieg gewonnen, die Schlacht verloren sein, ohne daß der einzelne Krieger etwas davon gewahr geworden. Die Erfindung des Schießpulvers hat wie die des Geldes, welche letztere erst in unsrem Jahrhundert zu ihren Konsequenzen gekommen, das volle einzelne Leben in Abstraktionen aufgelöst. Statt der naiven Rechtsverhandlungen unter offnem Himmel, wo der geehrte Sinn der Handlung in zahlreichen symbolischen Formen hervortrat, werden jetzt zwischen düstern Mauern Aktenstöße zusammengeschrieben und Paragraphen zitiert. Die Staaten befehden sich durch Noten und Schriften; wo der Mensch sonst mit Mund und Auge, mit Wort und That hervortrat, da wird jetzt in geheimen Staatskabinetten geschrieben; geschrieben wird überall, in Büreaus, in Amtsstuben, in Kanzleien; dem lauten bunten Leben tritt die Polizeiregel, der freien Individualität die mechanisierte hierarchische Verwaltung entgegen. Schreiben und Lesen ist bei uns an die Stelle von allem getreten. Und doch ist der Mensch, wie Goethe selbst sagt, eigentlich nur berufen in der Gegenwart durch seine Persönlichkeit zu wirken; Schreiben ist ein Mißbrauch der Sprache, stille für sich Lesen ein trauriges Surrogat der Rede. Unsre Sinne, nicht mehr im Kampf mit den Elementen geübt, sind stumpf und blöde geworden; jede eigensinnige Individualität, d. h. jede Durchdringung ganz eigentümlicher Umstände und Bedingungen, die in dieser Art nie wiederkehren kann, ist in negativen allgemeinen Richtungen untergegangen. Nivelliert sind auch unsre Städte, in denen man das Haus nach der Nummer, in Amerika, diesem Lande moderner Prosa, sogar die Straße nach der Nummer aufsucht; nivelliert ist das Land, wo regelmäßige Grenzen einen Acker von dem andern sondern und die Naturfreiheit der Landschaft immer weiter vor der verfolgenden Bodenkultur zurückweicht. Der wechselnde Pfad, der den Reiter unter Gefahren und Mühseligkeiten durch Wälder, durch Ströme und über Berge führte, er ist zur geraden und öden Chaussee geworden, diese zur noch abstrakteren Eisenbahn. Der Tag des Städters wird von dem Amt, von der Gewohnheit prosaisch und pünktlich geregelt; der Landmann blickt nicht mehr nach der Sonne, um sich die Tageszeit anschaulich-sinnlich vom Himmel zu holen; er hat eine Uhr, ein mechanisches Werkzeug dazu. Die Maschine dringt auch immer mehr in den Ackerbau: Sähmaschinen, Dreschmaschinen, selbst Pflugmaschinen ersetzen die lebendige Hand; wenn der Ackerbauer sonst mit kundigem Blick den Horizont übersah, um das kommende Wetter zu erraten, wenn ihm dabei poetisch-abergläubische Traditionen, gereimte Sprüche behilflich waren, so hat er jetzt ein Barometer an der Wand hängen, wenn nicht gar ein Hygrometer. Ein unfruchtbarer Acker wurde sonst als vom Teufel verdorben, vom bösen Blick gestochen unter geheimnisvollen Gebräuchen exorzisiert und neugeweiht; jetzt wird ein Lehrbuch der Agrikulturalchemie aufgeschlagen und der Boden entmischt und gemischt. Die seltsamen bunten mannigfaltigen Tauf-, Hochzeits- und Beerdigungsgebräuche unsrer Ahnen sind nur noch in schwachen Spuren übriggeblieben; der Volkstanz, sonst voll Charakter und unmittelbarer Energie, ist allmählich zu dem bleichen Schatten unsrer Gesellschaftstänze geworden, wo von schöner Darstellung nicht mehr die Rede sein kann und die, je feiner die Gesellschaft ist, desto ängstlicher als bloße abstrakte Formen aufrecht erhalten werden; der Ausdruck gerade wird bei ihnen gemieden, die zu starke Erhitzung gilt für unanständig. So ist unser ganzes Leben aus einem blühenden naiven Naturdasein zu einem abstrakten, ohnmächtig reflektierten, von einigen allgemeinen Formeln umschlossenen geworden. Fern sei der Gedanke diese Losreißung von dem natürlichen Pflanzenleben zu verurteilen; Abstraktion ist gegen Unmittelbarkeit die höhere Stufe und unser allzu geistiges Dasein muß zu einer zweiten Natur, zum Ziel schöner Sittlichkeit führen; so wie unsre Sitten aber jetzt sind, müssen sie den Dichter und Künstler anwidern, vor der ästhetischen Betrachtung sind sie verworfen. In welchem traurigen Dilemma befindet sich der Bildhauer, der einen heutigen Helden als Statue zu bilden hat: abgesehen davon, daß Heldengröße heutzutage nicht durch Kraft und Anmut des Leibes, sondern auf Kosten derselben erreicht wird, die Skulptur also an dem zu verherrlichenden Manne eigentlich nichts darzustellen findet, so muß der Künstler entweder das abstrakt idealisierende Kostüm, z. B. die antike Toga, wo alle Wahrheit aufgeopfert wird, oder den modernen Frack und die Militäruniform wählen, wo alle plastische Schönheit ausgeschlossen ist. Einen Mann wie Napoleon konnte der Erzgießer in seinem Ueberrock und seinem dreieckigen Hute auf die Vendômesäule stellen: der Held hatte sich so der Völkerphantasie auf immer eingeprägt und von historischer Macht ergriffen hat der Sinn beim Anschauen des Bildes gleichsam nicht Zeit auf die Linie der Schönheit zu achten. Im übrigen ist die Bildnerei beschränkt auf mythologische Figuren und Gruppen, überhaupt auf Gegenstände, die unserm Sinn und Leben fernliegen. Wie sie das Nackte bei uns schmerzlich vermißt, denn wir verhüllen alles, wie sie unsern gebrechlichen verunstalteten Körper überhaupt verschmäht, so sucht die Malerei bei uns vergebens nach Repräsentation, nach augenfälligen Szenen, Handlungen und Momenten. Der epische Dichter, um auf diesen zurückzukommen, befindet sich in gleicher Verlegenheit wie die bildende Kunst; er soll eine Welt poetisch schildern, die sich der poetischen Darstellung auf allen Punkten entzieht, die sich gar nicht fassen läßt, da sie das Sinnliche abgestreift oder, wo sie es nicht aufgeben konnte, wenigstens so viel als möglich ins Dunkel verwiesen hat. Unter solchen Umständen griff Goethe mit glücklichem Takt nach derjenigen Schicht der Gesellschaft, die der Einfalt der Natur in Worten und Werken noch nahe stand, ohne mit dumpfem Blödsinn gegen die Weite der Welt und des Lebens verschlossen zu sein. Es ist eine Bürgerfamilie, die zugleich das schöne uralte heilige patriarchalische Geschäft des Ackerbaues treibt. Dadurch ist sie mit der lebendigen Natur in beständiger Berührung; Wolken und Winde, Regen und Sonne, der stille Wechsel der Jahreszeiten ist ihr wichtig; körperliche Arbeit wird von ihr gefordert; ihre Mühen wie ihre Erholungen sind sinnlicher Art. Hermanns Vater ist kein bleicher, blöder Gelehrter, dem es hinter der Oellampe gleichgültig ist, ob es in der übrigen freien Welt regnet oder schneit; er sitzt vor seiner Thür und zum Himmel schauend spricht er: Schönes Erntewetter morgen! Hermann, der Sohn, schirrt die Pferde selbst, legt ihnen das Gebiß an, zieht die Riemen durch die Schnallen, befestigt die Zügel, führt die so geschirrten Tiere auf den Hof, auf den unterdes der Knecht die Kutsche schon hinausgeschoben, setzt sich auf den Bock, bändigt die Hengste, schwingt die Peitsche und fährt bergan und bergunter. Er ist es, der arbeitend und anordnend auf den Feldern waltet; am Erntetag, wo gewiß die ganze Familie Hand anlegt, wird dann auch das ländliche Mahl im Schatten des Baumes gehalten, ganz wie auf dem Schilde des Achilles, während die Schnitter die goldnen Halme sicheln und zusammenbinden, die Herolde unter der Eiche das schöne Mahl bereiten und körbetragende Frauen ihnen dabei zur Hand gehen. Hermann sagt von sich selbst: Und ich verstehe wohl gut die weltlichen Dinge zu sondern, Auch hat die Arbeit den Arm und die Füße mächtig gestärket. Auch sein Blick ist scharf: auf seiner ersten Fahrt fällt ihm sogleich ein Wagen, von tüchtigen Bäumen gefügt, ins Auge; zwei gewaltige Ochsen schreiten ihn ziehend daher, die er sogleich als ausländische erkennt. Auch Dorothea ist ein Mädchen voll frischer bäuerlicher Lebenskraft: sie ist keine ätherisch-sentimentale Stubenblume, trägt kein Korsett, ist in keiner Pension erzogen und liest keine blumigen Novellen aus Almanachen mit goldnem Schnitt, keine vergoldeten Gedichte von Theodor Körner oder Emanuel Geibel. Der Richter rühmt von ihr, sie sei rüstig geboren und ebenso gut als stark; Hermann selbst vergißt neben dem Verstande, der sich in ihren Worten zeigt, unter ihren Eigenschaften nicht die frohe Gewandtheit, die Stärke des Arms, die volle Gesundheit der Glieder. Phantasielose Rezensenten der alten Schule fanden es bei Erscheinen des Gedichts zu niedrig, daß Dorothea die Ochsen treibt, Wasser holt, sich als Magd verdingt. Aber gerade dies Bild Dorotheens neben den Ochsen mit dem Stabe ist wie das der Wasserschöpfenden von rührender homerischer Einfalt und Menschlichkeit. Der Ochse und die Kuh sind seit der ersten Gesittung des Menschengeschlechts in das Leben und die Sitten desselben verflochten, es sind heilige Tiere wie das Roß, sie sind poetisch wie der Pflug; sie dienen dem Menschen in geruhiger Würde, ganz Nahrung und Gedeihen ausdrückend. Gern verweilt die Phantasie an ihnen gleichwie an Szenen aus der kindlichen Zeit primitiver Menschengeschlechter, gern stellte auch die bildende Kunst den Menschen neben sie und statt Niedrigkeit finden wir Adel in jener Gruppe Dorotheens und Hermanns auf der Landstraße. Auch Dorotheens bäuerliche Tracht ist noch so bunt sinnlich, daß sie Stück für Stück an zwei Stellen des Gedichts vom Dichter beschrieben, daß das Mädchen auf ganz episch primitive Weise nach ihr erkannt und beurteilt werden konnte. Bei alle dem sind es nicht bloße Bauern, die wir vor uns haben; sie sind nicht wie diese stumpfsinnig auf das nächste sinnliche Dasein gerichtet. Das städtische Bürgertum, dem sie zugleich angehören, die Wohlhabenheit, in der sie leben, hat ihre freiere geistige und sittliche Entwicklung begünstigt. Hermanns Vater ist kein roher Dorfbauer, er ist zugleich Gastwirt, dadurch mit den verschiedensten Menschen in Berührung gekommen, in den Stand der Reflexion übergetreten und eine Art Weltmann im kleinen geworden. Auch bei den übrigen Personen finden wir auf ganz homerische Weise die Einfalt der Lebensgewohnheiten und kindlich-sinnliche Beschränktheit der Lebenssphäre mit echt menschlicher Zartheit der Empfindung und gesunder Einsicht in die allgemeinen Verhältnisse gepaart. Jene Wohlhabenheit, die so günstig wirkt, wird dennoch nur durch Arbeit erhalten, wie sie nur durch Arbeit gewonnen worden; und diese Arbeit ist wiederum nicht die des armen Knechtes, des gedrückten Hörigen und an gemeine Dienstverrichtungen gefesselten Proletariers; sie macht darum nicht roh und unflätig wie in dem einen, nicht unterwürfig und gehorsam wie in dem andern Falle. Der fleißige Hermann hat dennoch noch einen Knecht, der ihm zur Hand geht. So gewann der Dichter gerade bei solcher Lebensstellung seiner Personen die nötige Naturlebendigkeit, indem er zugleich eine reiche Welt innerlicher sittlicher Motive vor uns aufthun konnte. Wir sammeln im Folgenden die einzelnen Züge, die das Bild dieser bürgerlich-ländlichen Sphäre der Sitten vervollständigen. Hermanns Vater hat auf der Brandstätte beider Häuser die Mutter zur Gattin gewählt; der Brand aber war vor zwanzig Jahren geschehen; Hermann selbst wird also nicht mehr als achtzehn oder neunzehn Jahre zählen. Dennoch ist er längst von den Eltern getrieben worden, sich eine Braut zu wählen und ihm selbst ist das Leben öde und einsam erschienen, weil er der Gattin entbehrte: alles dies schon im achtzehnten bis neunzehnten Jahre. So ist hier also die schöne Naturordnung noch ungeirrt, nach welcher der Jüngling, wenn er zeugungsfähig geworden, mit dem Weibe sich verbindet und jetzt erst das sittlich erfüllte Leben, derjenige Abschnitt desselben beginnt, zu dem alles Vorhergehende nur Vorbereitung ist. In der Zivilisation unsrer großen Städte heiratet der Mann meistens dann, wenn er abgelebt ist und nach erschöpftem Genuß sich ein häusliches Asyl schaffen will; die Ehe ist das Hospital für den im Kriegsdienst des Lebens Aufgeriebenen und Ermüdeten. In frischen Jahren fehlt in der Regel das ernährende Amt oder die einseitig geistige Ausbildung ist noch nicht vollendet oder das Freiheitsgefühl hindert den Jüngling bei unsrer Form der Ehe sich auf ewig zu binden. Die Idee der Familie kommt dabei nur verkümmert zur Wirklichkeit; wie selten ist jener so rührend patriarchalische Kreis, wo um das würdige weiße Haupt des Ahnherren die Kinder, die Enkel, die Schwiegersöhne und Schwiegertöchter, die homerischen [Greek: galoô kai einateres eupeploi] mit ihren Abkömmlingen sich gruppieren und seine segnende welke Hand küssen, wo der Großvater noch rüstig sich regt und neben ihm mit Höfen und Aeckern der Sohn, der Enkel sich angebaut hat. Auch Hermanns Mutter war nach ihrer eigenen Erzählung fast noch ein Kind, da der Vater sie zur Braut wählte, so daß wir wohl hoffen dürfen, sie werde noch als Großmutter, ja als Aeltermutter in der Mitte des jüngeren Geschlechts sich einer erneuten Jugend freuen. Gegenüber der abgeschmackten Gefühlsromantik unsrer Schauspiele und Romane, die gerade dort alles Interesse erschöpft glauben, wo der eigentliche Inhalt des Lebens erst recht beginnt, gehört auch dies zu der Lauterkeit homerischer Empfindungsweise, die uns aus dem ganzen Gedicht so wohlthuend anweht. Auch der folgende echtbürgerliche, auf Hervorwachsen einer Familie aus der andern bezügliche Zug fehlt in dem Gedichte nicht. Die Eltern bereiten der Tochter schon frühe eine Art Aussteuer: die Mutter sammelt ihr manche Jahre hindurch Leinwand im Kasten, zu der sie das Garn ohne Zweifel selbst gesponnen hat, die Taufpaten verehren ihr Silbergerät und der Vater legt im Pult die seltene Goldmünze für sie zur Seite. Ein Zug von hoher Wahrheit wird es jedem, der das Bürgerleben, die Sitten der kleinen Stadt kennt, erscheinen, wenn bei den Personen unsres Gedichts das Brandunglück, von dem die Stadt vor zwanzig Jahren betroffen wurde, zur Zeitbestimmung dient und beim Zurückdenken die Epochen des Familienlebens, das Vorhandene und Geschaffene im Geiste sich immer an jenes Ereignis knüpfen. Es war zwei Jahre nach dem großen Brande, sagt der, der auf ein Vergangenes sich besinnt, der das Geburtsjahr irgend eines Hauses, einer Einrichtung u. s. w. angeben will. In älterer Zeit, berichtet der Apotheker, war es Gebrauch, daß, wenn die Eltern für ihren Sohn eine Braut sich ersehen hatten, sie einen vertrauten Freund des Hauses als Freiersmann zu den Eltern des Mädchens sandten. Dieser kam etwa Sonntags nach Tische stattlich geputzt in das erkorene Haus, sprach zuerst über allgemeines, lenkte dann das Gespräch geschickt auf die Tochter, die er samt ihren Eltern rühmte, dann auf den Mann, der ihn gesandt hatte, den er gleichfalls lobte. Gegenseitig merkte man bald die Absicht und den Willen und konnte sich weiter erklären; ward der Antrag abgelehnt, so war's für keinen eine Schande. Gelang aber die Unterhandlung, so blieb in dem Hause des neuen Paares der Freiersmann auf immer der erste. Jetzt ist das alles, fügt der Sprechende hinzu, mit andern guten Gebräuchen aus der Mode gekommen. -- Hier ist zunächst die letzte Aeußerung in ganz bürgerlichem Geiste: der Bürger liebt es, in die behaglichen Zustände der Gegenwart eingesponnen, auf die Sitte der Voreltern sich zu beziehen und mit der Phantasie sich eine gemütlich ideale Welt aus Erinnerungen des Alten zu erbauen. Auch Homer hat eine solche großväterliche Zeit im Hintergrunde, wo die Menschen stärker waren und mit den Göttern verkehrten; [Greek: hoioi nyn brotoi eisin] heißt es oft halb verächtlich. So beruft sich auch der Vater an einer Stelle auf die Alten: Einmal für allemal gilt das wahre Sprüchlein der Alten. Dann ist jene Art der Ehestiftung, wo die Eltern wählen, die ganz unverfälscht bürgerliche; nicht die Romantik eigensinniger Phantasie, wie bei dem Minnen des Rittertums, sondern Gemüt und Verstand, das Familiengefühl sind bei derselben thätig; nicht Individuum verbindet sich mit Individuum, sondern Familie mit Familie. Der Sohn muß heiraten, dieser Entschluß geht voraus; die Eltern ratschlagen; indem sie seinen Sinn auf ein Mädchen lenken, folgt daraus die Neigung. Und Hegel an einer merkwürdigen Stelle der Rechtsphilosophie erklärt diese Art der Ehestiftung sogar für sittlicher als diejenige, wo nicht die Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern und der Entschluß zur Verehelichung den Anfang macht und die Neigung erst zur Folge hat, sondern wo der Jüngling verzaubert an der Vorstellung eines bestimmten Mädchens haftet: dort nämlich gilt die objektive Sittlichkeit der Ehe überhaupt, hier setzt die moderne übergreifende Subjektivität an eine Grille alles Glück und Wehe. Dennoch liegt in jener Wahl durch die Eltern etwas Hartes, Gebundenes, Unerschlossenes; es wird darum diese Sitte in die Zeit der Eltern zurückverlegt, also in eine Höhe, zu der wir mit Ehrfurcht aufblicken und von der alle Quellen der Sittlichkeit zu uns herabgerauscht kommen. Nachdem die Woche fleißig gearbeitet worden, ist der Sonntag die Zeit der Erholung, der Landfahrten. Dieser bürgerliche Zug kommt mehrmals vor. Damals, als der Vater des Apothekers dem Knaben durch Hinweisung auf die Tischlerwerkstatt die Ungeduld benahm, war es ein Sonntag und die Fahrt sollte zum Lindenbrunnen gehen. Als vor zwanzig Jahren die Feuersbrunst ausbrach, wurde sie deshalb so gefährlich, weil als am Sonntag alle Leute in festlichen Kleidern spazierend auf den Dörfern und in Schenken und Mühlen zerstreut waren. Und heute, wo unsre Geschichte vorgeht, ist gleichfalls Sonntag; nur heute hat der arbeitsame Hauswirt Zeit, behaglich unter dem Thorweg zu sitzen und mit den Nachbarn zu schwatzen; nur heute können diese auf der Stelle die Fahrt ins Dorf machen und dort verweilend sich erkundigen. Gerade diese Bedeutung des Sonntags und der Feste ist dem Bürgerstande eigentümlich. Dem Vornehmen und Reichen ist jeder Tag gleich, er würde es für schlechten Ton halten, gerade am Sonntag sich besonders herauszuputzen und überläßt sich an jedem Tage mit Freiheit dem Genuß und der Pflege des Körpers. Der Bürger besucht Sonntagvormittags in festlichen Kleidern, frisch gewaschen und gekämmt, das Gesangbuch unter dem Arm, die Kirche und macht nachmittags Spaziergänge zum Thor hinaus, begleitet von Frau und Töchtern und Gesellen und Burschen, wie dies im Faust am Ostersonntag geschildert wird. Die Stube ist an solchem Tage frisch mit Sand bestreut; ein Gericht mehr kommt auf den Tisch. Unübertrefflich hat Goethe selbst das Poetische der arbeitsamen Regelmäßigkeit des Bürgerlebens in dem Gedicht »der Schatzgräber« ausgedrückt, welches mit den Worten schließt: Tages Arbeit, abends Gäste, Saure Wochen, frohe Feste Sei dein künftig Zauberwort. Das Bürgertum, wo es unverdorben und in seinem ursprünglichen Sinn sich erhalten hat, liebt es die sittlichen Mächte, von denen es regiert wird, in Sprichwörter, Maximen, Lebensregeln, allgemeine Erfahrungssätze zusammenzufassen. Der ehrsame Meister, wenn er seinen Lehrlingen gute Lehren mit auf den Weg gibt, wenn er abends auf der Bank vor seiner Hausthür sitzt und das menschliche Treiben behaglich bespricht, die Nachbarn, wenn sie beim Kruge Bier sich das Herz öffnen, bedienen sich immer sprichwörtlicher Sentenzen, in denen sich ihre Moral wie ihre Lebensweisheit ausdrückt. Solche Erfahrungssätze sind eigentlich die Religion des ehrsamen, fleißigen, verständig-herzlichen Bürgers und sie leiten sein Thun mehr als die Dogmen, die er Sonntags in der Kirche hört, so heiß ihm auch oft die Hölle dort gemacht wird. In der Bürgerregion sind die Sprichwörter ganz eigentlich zu Hause. Als die Adelsromantik im Laufe des dreizehnten Jahrhunderts abblühte und die Literatur von den Schlössern der adligen Grafen und Herren zu den zünftigen Meistern der Städte herabstieg, da that sich in Spruchgedichten jene bürgerliche Lebensweisheit auf wie im wälschen Gast, in Freidanks Bescheidenheit, im Renner des Hugo von Trimberg, in den Priameln der Meistersängerschulen, jene dumm-tüchtige, unerschütterliche, etwas konventionelle Moral, die den bürgerlichen Philister ausmacht. So ist auch Sancho Panza, der Repräsentant des derben plebejischen Realismus, ganz voll von Sprichwörtern, mit denen er die sublimen Schwärmereien seines Herren ins komische zieht. Sprichwort und Fabel ist Handwerkspoesie. In Hermann und Dorothea ist dies der Ton, in dem alle Reden gehalten sind; es sind ganz bürgerliche Reflexionen, menschliche Verhältnisse betreffend, voll naiven Glaubens an die sittlichen Ideen, wie ihn Weltmenschen so oft belachen, ohne die dogmatische Herzenshärtigkeit, wie sie Theologen so oft beherrscht, Maximen, gesammelt aus der Lebenserfahrung des Kleinstädters und Dorfbewohners, eingegeben von der Mitempfindung des in den mannigfachen menschlichen Verhältnissen waltenden sittlichen Geistes. Da das Sprichwort Allgemeingedanke des Volkes ist, da es traditionelle Klugheit enthält, so kann es nicht originell und geistreich sein und der geniale Kopf verschmäht es; es ist der Ausdruck des begrenzt-sittlichen, beschränkt-verständigen Bürgertums, das eine natürliche Abneigung gegen alles Ungewöhnliche hat, dem nichts ferner liegt als Schrankenlosigkeit des Gefühls oder der Phantasie. Blättern wir nur in den Anfangsgesängen unsres Gedichtes, so finden wir eine Menge dieser unscheinbaren Reflexionen: Aller Anfang ist schwer, am schwersten der Anfang der Wirtschaft. -- Mancherlei Dinge bedarf der Mensch und alles wird täglich Teurer: da seh' er sich vor des Geldes mehr zu erwerben. -- Ein wackerer Mann verdient ein begütertes Mädchen. -- Ungerecht bleiben die Männer, die Zeiten der Liebe vergehen. -- Was im Menschen nicht ist, kommt auch nicht aus ihm. -- Soll doch nicht als ein Pilz der Mensch dem Boden erwachsen Und verfaulen geschwind an dem Platze, der ihn erzeugt hat, Keine Spur nachlassend von seiner lebendigen Wirkung. -- Wo nicht immer von oben die Ordnung und Reinlichkeit wirket, Da gewöhnet sich leicht der Bürger zu schmutzigem Saumsal, Wie der Bettler sich auch an lumpige Kleider gewöhnet. -- Denn wir können die Kinder nach unserm Sinne nicht formen; So wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben, Sie erziehen aufs beste und jeglichen lassen gewähren. -- Der eine hat die, die andern andere Gaben, Jeder braucht sie und jeder ist doch nur auf eigene Weise Gut und glücklich. -- Einmal für allemal gilt das wahre Sprüchlein der Alten: Wer nicht vorwärts geht, der kommt zurücke; so bleibt es. -- Denn wer lange bedenkt, der wählt nicht immer das Beste. -- Ein Tag ist Nicht dem anderen gleich: der Jüngling reifet zum Manne; Besser im stillen reift er zur That oft als im Geräusche Wilden schwankenden Lebens, das manchen Jüngling verderbt hat. -- Aller Zustand ist gut, der natürlich ist und vernünftig. -- Vieles wünscht sich der Mensch und doch bedarf er nur wenig, Denn die Tage sind kurz und beschränkt der Sterblichen Schicksal. -- Denn ich habe das Sprichwort so oft erprobet gefunden: Eh du den Scheffel Salz mit dem neuen Bekannten verzehret, Darfst du nicht leichtlich ihm trauen; dich macht die Zeit nur gewisser, Wie du es habest mit ihm und wie die Freundschaft bestehe. -- Der Augenblick nur entscheidet Ueber das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke; Denn nach langer Beratung ist doch ein jeder Entschluß nur Werk des Moments, es ergreift doch nur der Verständ'ge das Rechte; Immer gefährlicher ist's beim Wählen dieses und jenes Nebenher zu bedenken und so das Gefühl zu verwirren u. s. w. Auch Schiller liebt es, in lyrischen Gedichten wie in Tragödien Sentenzen anzubringen, aber wie verschieden sind sie von denen in unsrem Gedicht! Es sind Prachtgedanken, philosophische Sprüche, mit bildlichem Schmuck umgeben, blendende rhetorische Antithesen; hier ist es der schlichte Sinn der mannigfaltigen Lagen des Lebens, der ohne Prätension in einer allgemeinen Bemerkung sich aufthut. Daher ergreifen diese Reden wie echte Lebensweisheit; daher kann man von diesem Gedicht sich durchs ganze Leben begleiten lassen und es immer wieder vornehmen und lesen. Die Maximen sind nur leichte ideale Gegenbilder der schönen realen Sittlichkeit, die sich hier als eine konkrete Welt von Handlungen und Charakteren vor uns ausbreitet. Die positive Religion hat in diesem Gedicht voll reiner Menschlichkeit keine Stelle gefunden. Nur einmal tritt sie in einer vorübergehenden Andeutung auf, wo des Tedeums am Friedensfeste erwähnt wird; der Vater wünscht, Hermann möchte dann auch mit der erwählten Braut vor den Altar treten. Die Religion ist hier also nicht getrennt von dem schönsten Inhalt des Menschenlebens und seinen reichsten Momenten, der Friedensfeier und der Ehestiftung, Momente, die so reich sind, daß alle Lebenskraft, die die Kirche noch besitzt, ihr von dorther zufließt und sie an ihnen parasitisch ihr Dasein fristet. Kleinstädtisch und bürgerlich ist auch die Geltung, die der Nachbarschaft zukommt. Der Apotheker wird als Nachbar angeredet und er hat als solcher ein Recht, der Familie nahe zu stehen. Frisch, Herr Nachbar, getrunken! ruft ihm der Vater zu, und ein andermal: Gern geb' ich es zu, Herr Nachbar. Auch Hermann redet ihn so an: Nachbar, keineswegs denk' ich wie Ihr. Die Nähe der Wohnung wird zum Bande der Freundschaft, zur geistigen Nähe und Vertraulichkeit. Nachbarn sehen sich oft, kümmern sich um einander, helfen sich aus; die Kinder erwachsen zusammen spielend auf denselben Höfen, an denselben Gartenzäunen. Alexis und Dora, auch Hermanns Eltern waren Nachbarskinder. So wird auch Frau Martha im Faust von Gretchen Nachbarin angeredet und ihre Freundschaft rührt daher. Der Vater wünscht, Hermann möge aus dem grünen Nachbarhause sich eine der Töchter des Kaufmanns wählen, mit denen er als Knabe so oft gespielt. In großen Städten umgibt uns keine trauliche Teilnahme der Nahewohnenden; wir verlieren uns isoliert und fremd in den wechselnden Strom der gleichgültigen Menge. Kaum kennen wir den, der über uns im zweiten Stock wohnt, kaum grüßen wir ihn; in demselben Hause oft zu gleicher Zeit eine Hochzeit und ein Leichenbegängnis, beide nichts von einander wissend; aus den Zeitungen erfahren wir, daß gestern in dem Dachzimmer uns gegenüber ein Selbstmörder seinem Leben ein Ende gemacht; und wenn ein einsamer Unglücklicher, in der Verlassenheit weinend, aus dunkler Kammer auf die Straße hinausblickt, sieht er oft die Fensterreihe, die ihm gegenüber liegt, glänzend erleuchtet und weiß nicht, welches Fest dort von Unbekannten begangen wird, ob eine Verlobung oder ein Geburtstag oder eine Rangerhöhung. Den armen Flüchtlingen gegenüber findet sich die Bürgerfamilie nicht durch einen baren Geldbeitrag ab, nicht mit einer Hilfeleistung =in abstracto= ohne menschliche Nähe und Teilnahme; sie sendet den Ueberfluß der Wirtschaft, Schinken und Brot, Bier und Leinwand und läßt den Notleidenden so unmittelbar teilnehmen an der eigenen Wohlhabenheit. So kauft der ländliche Bürger seine Hausbedürfnisse auch nicht für Geld aus dem Laden: er braut sein Bier selbst, backt sein eigenes Brot, gewinnt die Wäsche aus eigenem Flachs durch eigenes Spinnen und Weben und erzieht das Schwein selbst, das ihm den Schinken und die Würste liefert. Ist das Erzeugnis der eigenen Arbeit auch nicht immer so vollkommen wie die aus großen Anstalten bezogene Ware, so ist es doch lauter und echt, nicht bloß scheinbar, auch nicht vermengt und gefälscht. Und auch besser schmeckt es und trägt sich besser, denn die Erinnerung an die eigene Mühe, an manche aufgewandte Kunst und Fertigkeit haftet daran. Diktion. Das Innere der Dichtung, wie wir es bisher besprochen, tritt mit seiner Entfaltung in Stil und Sprache bis in das einzelne Wort nach außen und ist in der körperlichen Hülle überall durchsichtig und gegenwärtig. Wie der Umfang des Bildes bei allem Reichtum der Lebenserfahrung, den es einschließt, nicht groß ist, so ist auch in der Diktion Einfalt und schlichte Bescheidenheit das erste Merkmal, das uns in die Augen fällt. Aus dem reichen Schatz von Worten und Wendungen, die die Sprache bot, griff der Dichter nach dem Unscheinbarsten und Gewöhnlichsten; er ist so sparsam an Schmuck, daß der Unkundige, der Verbildete geneigt ist, das Maß für Kälte und die Sparsamkeit für Armut zu erklären. Die äußerste Anspruchslosigkeit zeigt sich gleich bei den Epitheten, mit denen der Dichter die Nennung der Personen begleitet: der treffliche Hauswirt, der menschliche Hauswirt, der gute Vater, der edle verständige Pfarrherr, der wohlgebildete Sohn, der alte würdige Richter, der gehaltene Jüngling, der sinnige Jüngling u. s. w. Dieselbe Schlichtheit herrscht auch sonst in der Wahl adjektivischer Bezeichnungen. Dorothea sagt: O laßt mich dieser Erinnrung Einen Augenblick weihen, denn wohl verdient sie der Gute. Der Pfarrer sagt von Dorotheen, die eben in höchster Erregung ihr holdes Bekenntnis gethan und nun durch die Sturmnacht nach Hause will, wodurch sie jedem um das Geheimnis wissenden Anwesenden so ungemein lieblich erscheinen muß: Welche Klugheit hätte denn wohl das schöne Bekenntnis Dieser Guten entlockt? Dorothea spricht mit demselben Lieblingsworte des Dichters zu Hermann: Guter, dem ich zunächst ein freundlich Schicksal verdanke. Und früher am Brunnen: Da ich finde den Guten, der uns so manches gereicht hat. Von der Wöchnerin sagt sie: Ja, ich gehe mit euch, sobald ich die Krüge den Freunden Wiedergebracht und noch mir den Segen der Guten erbeten. Hermann spricht zu den Freunden: Glaubt ihr, es sei ein Weib von solcher Schönheit und Sitte Aufgewachsen, um nie den guten Jüngling zu reizen? Und: Und mit wenigen Worten entscheide die Gute mein Schicksal! Zu Dorothea auf dem Heimgange: Gutes Mädchen, halte mich nicht für kalt und gefühllos! Dorothea zur Wöchnerin: O, so gedenkt des Jünglings, des guten, der sie uns reichte! Unmittelbar darauf heißt es: Und sie kniete darauf zur guten Wöchnerin nieder. Einige Verse weiter spricht der Richter: Aber den Menschen, der alles erhält, wenn er tüchtig und gut ist. Der Pfarrer sagt: Komm, daß wir Um sie werben und bald nach Hause führen die Gute. Den schreienden Kindern wird versprochen: Sie geht in die Stadt und bringt euch des guten Zuckerbrotes genug, das euch der Bruder bestellte. Nach Goethes Weise, der ganz als Dichter von dem Schlechten nicht abstrakt moralisch verletzt, sondern als von etwas Ordnungswidrigem ästhetisch gestört wird, steht auch in unserm Gedicht dem Wunderlichen und Verworrenen als Tadel das Ruhige und Verständige als Lob gegenüber. Der Vater sagt: Mir ist lästig dies wunderliche Beginnen. Ferner: Leidenschaftlich Geschrei, das heftig verworren beginnet. Und Dorothea nennt sich da, wo sie dem Vater den Verdruß abbittet, eine Verworrene: Ja, der erste Verdruß, an dem ich Verworrene schuld war, Sei der letzte zugleich! Dagegen ist das Ruhige und Verständige überall das mild lobende Beiwort. Dorothea sagt zu Hermann: Kommt und empfanget den ruhigen Dank von allen Erquickten! Der Pfarrer, als er den Richter die Streitenden hat beschwichtigen sehen, preist seinen ruhigen Sinn: Als der Geistliche nun die Rede des Mannes vernommen Und den ruhigen Sinn des fremden Richters entdeckte. Auch an dem Bürgerlose rühmt er das Ruhige: Aber jener ist auch mir wert, der ruhige Bürger. -- Nein, der Mann bedarf der Geduld, er bedarf auch des reinen Immer gleichen ruhigen Sinns und des graden Verstandes. -- Segnet immer darum des Sohnes ruhig Bemühen! Hermann sagt von dem Eindruck, den Dorothea auf ihn gemacht: Als ich die Worte vernahm, die verständigen, war ich betroffen. Und Dorothea in der Abschiedsszene wiederum von ihm: Also folg' ich ihm gern; er scheint ein verständiger Jüngling. Der Pfarrer gibt Hermann dasselbe Prädikat: Nun verkennet es nicht, das Mädchen, das eurem geliebten Guten verständigen Sohn zuerst die Seele bewegt hat. Auch sonst findet sich das gemäßigte Beiwort: Es ergreift doch nur der Verständ'ge das Rechte. Ein andermal: Bald zu thun und gleich, was recht mir deucht und verständig. Ein drittesmal: Ach, da sieht man sich um, wer wohl der verständigste Mann sei. Auch das Reinliche und Saubere erscheint als allgemeines Lob, nicht bloß der Kleider: Aber ich geb' euch noch die Zeichen der reinlichen Kleider; sondern auch sonst: Ließ zurück die Mauern der Stadt und die reinlichen Türme. -- Wo die Hengste rasch den reinen Hafer verzehrten. -- Knüpften mit sauberen Stricken die Kraft der Pferde. -- Wenn ihr im Schatten der Ruh' und der reinen Quelle genießet. -- Denn, wer die Städte gesehen, die großen und reinlichen, ruht nicht. -- Die ihr das Kinn umgibt, das runde, mit reinlicher Anmut. Dieselbe Mäßigung zeigt sich in den Ausdrücken für Schmerz und Freude. Ein wiederkehrendes Wort ist das milde 'traurig', ihm gegenüber 'bequemlich', 'erquicklich', 'behaglich', 'freundlich', besonders 'munter'. Das Wort 'munter' kehrt z. B. in der Erzählung des Richters von den Revolutionsereignissen mit kurzen Zwischenräumen dreimal wieder. Mit derselben Einfalt wiederholt sich überall das Wort 'herrlich' als höchstes Lob, zu dem die Rede es bringt: herrlich glänzte der Mond; im Schatten des herrlichen Baumes; die herrliche weite Landschaft. Streifen nicht herrliche Männer von hoher Geburt nun im Unglück? -- Sie sollten uns nicht den herrlichen Boden betreten. -- Von der herrlichen That, die jene Jungfrau verrichtet. -- Und so fühlt er die herrliche Last. -- Es zeigte das herrliche Paar sich. -- Alle lobten das herrliche Wasser. -- Kam ihm die hohe Gestalt des herrlichen Mädchens entgegen. -- Und redet nicht mehr die herrlichen Worte vergebens u. s. w. Von höchster Anspruchslosigkeit sind auch die folgenden Adjektiva: Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit. -- Von dem würdigen Dunkel erhabener Linden beschattet. -- Musen, die ihr so gern die herzliche Liebe begünstigt. -- Und so leitet' er sie die vielen Platten hinunter. -- Morgen fangen wir an zu schneiden die reichliche Ernte. Ebenso die adverbialen Zusätze: Da versetzte der Wirt mit männlichen klugen Gedanken. -- Ruhig erwiderte drauf der Sohn mit ernstlichen Worten. -- Und es versetzte darauf der Apotheker mit Nachdruck u. s. w. Dieselbe Blässe des Ausdrucks bei Schilderung der die Personen bewegenden Empfindung. Das Mädchen, sagt Hermann von seiner Geliebten: Das ich allein nach Haus zu führen begehre. -- Wünschtest du nicht noch vorhin, er möchte heiter und lebhaft Für ein Mädchen empfinden? -- Sollt' ich im Arme der Braut, der zuverlässigen Gattin Mich nicht erfreuen des Kriegs? Dorothea von ihrer Liebe zu Hermann: Sondern weil mir fürwahr im Herzen die Neigung sich regte Gegen den Jüngling. -- Wo ich beschämt und ängstlich nur stehe, Frei die Neigung bekennend und jene thörichte Hoffnung. Hermann tadelt des Apothekers Egoismus, der Leiden und Freuden zu teilen Nicht verstehet und nicht dazu von Herzen bewegt wird. Dieselbe kühle Wendung braucht der Pfarrer von Hermanns Liebe: Das Mädchen, das eurem geliebten Guten verständigen Sohn zuerst die Seele bewegt hat. Auch die Wonne der endlichen Vereinigung beider Liebenden spricht sich zwar gesteigerter, aber immer noch mit sparsamer Beherrschung des Ausdrucks am Schlusse aus: Da schön mir die Liebe das Glück hier Neu bereitet und mir die herrlichsten Hoffnungen aufschließt. Auch in den Naturszenen sind nur ganz milde Farben aufgetragen: Die herrliche weite Landschaft, die sich vor uns in fruchtbaren Hügeln umherschlingt. So die Schilderung der Weinlese, selbst im vorletzten Gesange die des Gewitters und Mondscheins: Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne u. s. w. und später: Herrlich glänzte der Mond, der volle, vom Himmel herunter u. s. w. Diese Einfalt und Schlichtheit der Rede hat aber nicht den Sinn, als sei sie dem Gegenstande nicht gewachsen. Im Gegenteil: mit den geringsten Mitteln erreicht der Dichter die tiefste Wirkung. Die Wahrheit ist es, wodurch er wie durch Zauber die Phantasie weckt und das Gemüt rührt. Kein falsches Wort drängt sich zwischen den Gegenstand und die Anschauung, kein ungehöriger Ton trübt die durchsichtige Klarheit, die uns bis ins innerste Herz der Dichtung blicken läßt. Alles bloß Rhetorische, alle künstlichen Blumen, Tropen und Metaphern sind hier ausgeschlossen. Ein Pöbelgeschmack, der grelle Farben liebt, eine durch Gewürz abgestumpfte Zunge, ein kindisches Urteil, das sich durch blitzende Glasperlen bestechen läßt, kann an dieser einfach-wahren Rede kein Gefallen finden, die so schmiegsam dem jedesmaligen Gegenstande sich anschließt, die Empfindung in ihren innersten Tönen voll und leise hervorströmt und überall den gediegenen Gehalt des Gedankens ohne Abzug und Zusatz auf ganz antik naive Weise ausprägt. Je prunkloser und ruhiger sie ist, desto mehr hat es der Dichter in der Gewalt durch vermehrte Wärme, erhöhte Farbe und beschleunigte Bewegung die Wirkung an passenden Punkten ins Unendliche zu steigern. Solche Stellen sind die Blumen unter den Blättern im Kranz: Gib auch Blätter, den Glanz der blendenden Blumen zu mildern; Auch das Leben verlangt ruhige Blätter im Kranz. So ist zwar zur Schilderung von Hermanns Liebe nicht viel Aufwand von Worten gemacht, dennoch kommen glühendere Stellen wie folgende vor, wo nun die Wirkung um so tiefer ist: Ich will den Mund noch sehen, von dem ein Kuß und das Ja mich Glücklich macht auf ewig, das Nein mich auf ewig zerstöret. -- Und süßes Verlangen ergriff sie. -- Hermann hörte die Worte nur flüchtig; ihm bebten die Glieder Innen und stille war der ganze Kreis nun auf einmal. Wenn der keusche Dichter einmal ein Bild braucht, so übt es gewiß durch beglückende Wahrheit eine ergreifende Macht auf unsre Phantasie. Ein geringerer Dichter hätte sich z. B. die Gelegenheit nicht nehmen lassen das Gewitter, das die Liebenden überfällt, mit Pomp zu schildern: Hier finden wir nur wenige Striche, die aber eine zauberische Wirkung üben. Sie gingen, heißt es, der sinkenden Sonne entgegen, die sich gewitterdrohend in Wolken hüllte und aus dem Schleier bald hier bald dort eine ahnungsvolle Beleuchtung strahlte. Diese Worte malen aufs glücklichste den Zustand des Himmels und der Erde in dem Moment, wo Gewitterwolken die Sonne zu verhüllen drohen. Die Streiflichter fallen dann glühend auf das Feld, über den Wald, sind zerstreut und vorübergehend, erscheinen hie und da, werden abwechselnd vom Wolkendunkel verschlungen und überfliegen die Gegend, wie eine plötzlich erhellende Ahnung den Geist überfliegt, der dann wieder in bewußtloses Dunkel versinkt. Indem Hermann und Dorothea unter den Birnbaum gelangt sind, ist es schon Nacht; nur der Vollmond steht am Himmel. Vor ihnen, sagt der Dichter, lagen in Massen gegen einander Lichter hell wie der Tag und Schatten dunkler Nächte. Das Eigentümliche des Mondlichtes die Welt in große Massen abzusondern ist hier so wahr und einfach angegeben, daß die dadurch erregte Phantasie das Ganze des Bildes leicht vollzieht. Auch in Schillers Erwartung heißt es: Der Mond erhebt sein strahlend Angesicht, Die Welt zerschmilzt in ruhig große Massen. Wie glücklich ist das Gefühl der Wolkennacht in dem Verse ausgedrückt: Nicht die Nacht, die breit sich bedeckt mit sinkenden Wolken. Oder das Gefühl des Ackerbaus, der über fruchtbare Ebenen seinen Segen erstreckt: Von der Erde sich nährend, die weit und breit sich aufthut. Oder das Gefühl irrender Flucht, entgegengesetzt dem Gefühl der Sicherheit, die fester Anbau gewährt: Aber zerrüttet die Not die gewöhnlichen Wege des Lebens, Reißt das Gebäude nieder und wühlet Garten und Saat um, Treibt den Mann und das Weib vom Raum der traulichen Wohnung, Schleppt in die Irre sie fort durch ängstliche Tage und Nächte u. s. w. Wie sehr es dem Dichter um Wahrheit, nicht um die künstlichen Regeln der Rhetorik und Stilistik zu thun ist, lehrt z. B. die Stelle, wo die Mutter unter dem Birnbaum den Sohn auffordert in seinen Geständnissen fortzufahren: Fahre nur fort u. s. w. Hier folgt sich unmittelbar das Wort 'heftig' dreimal, das Wort 'geschickt' zweimal. Als eine weitere Eigenschaft der Diktion unsres Gedichts ist eine gewisse epische Breite, behagliche Geschwätzigkeit und anmutige Fülle zu erwähnen. Die Rede fließt überall wie ein langsamer breitausgedehnter Strom von Gedanken zu Gedanken. Dahin gehören Stellen wie folgende: Wenn er ihm täglich nützt und mit den Gütern ihm dienet. -- Wo ihm das Ehbett stand und wo er zu ruhen gewohnt war. -- Ihr habt mich Auf halbwahren Worten ertappt und halber Verstellung. -- Durch dein Wort verführt und deine bedeutenden Reden. Von dem Geiste geschwätziger Behaglichkeit ist auch die Form der Sätze und Perioden, die in dem Gedichte herrscht, eingegeben. Immer hell und natürlich hält sie eine anmutige Mitte zwischen einem leidenschaftlich abgebrochenen Aufreihen von lauter Hauptsätzen und der rednerischen vielverschlungenen Periodik. Eine immer wiederkehrende Lieblingsverbindung der Sätze ist die mit 'denn', auch wo das Folgende nicht unmittelbar den Grund des Vorhergehenden enthält: diese Partikel verbindet er auf ganz allgemeine Weise mit behaglich-schwatzender Argumentation. Beispiele finden sich überall: O, wie geb' ich dir recht, du gutes treffliches Mädchen, Daß du zuförderst dich nach dem Sinne der Eltern befragest! Denn so strebt' ich bisher vergebens dem Vater zu dienen u. s. w. Oder: Aber noch früh genug merkt' ich, sie hatten mich immer zum besten; Und das war mir empfindlich, mein Stolz war beleidigt, doch mehr noch Kränkte mich's tief, daß so sie den guten Willen verkannten, Den ich gegen sie hegte, besonders Minchen, die Jüngste. Denn so war ich zuletzt an Ostern hinübergegangen u. s. w. Und: Laß mich reden, mein Kind, und deine Fragen erwidern. Deinetwegen kam ich hieher und was soll ich's verbergen? Denn ich lebe beglückt mit beiden liebenden Eltern, Denen ich traulich das Haus und die Güter helfe verwalten u. s. w. Oder: Billig seid ihr, o Freund, zu den guten Wirten zu zählen, Die mit tüchtigen Menschen den Haushalt zu führen bedacht sind. Denn ich habe wohl oft gesehn, daß man Rinder und Pferde So wie Schafe genau bei Tausch und Handel betrachtet u. s. w. Eine ebenso häufige Uebergangsform ist 'und so', die gleichfalls das Gepräge liebenswürdiger wortreicher Gemütsruhe trägt. Wo wir das Gedicht aufschlagen, stoßen wir auf diese Verbindung: Und so leitet' er sie die vielen Platten hinunter. -- Und so fühlt' er die herrliche Last, die Wärme des Herzens. -- Was ein Knecht schon verrichtet des wohlbegüterten Mannes, Thust du; indessen muß der Vater des Sohnes entbehren, Der ihm zur Ehre doch auch vor andern Bürgern sich zeigte. Und so täuschte mich früh mit leerer Hoffnung die Mutter. -- Dieser kannte das Leben und kannte der Hörer Bedürfnis, War vom hohen Werte der heiligen Schriften durchdrungen, Die uns der Menschen Geschick enthüllen und ihre Gesinnung; Und so kannt' er wohl auch die besten weltlichen Schriften. Noch eigentümlicher, aber voll Grazie ist die Verbindung mit 'so auch': Was er begehrte, das war ihm gemäß; so hielt er es fest auch. -- Denn er redet gar manches in seiner heftigen Art aus, Das er doch nicht vollbringt; so gibt er auch zu das Versagte. -- Und sie reichte das Wasser herum; da tranken die Kinder Und die Wöchnerin trank mit den Töchtern; so trank auch der Richter. Dahin gehört auch die anmutige Art einen Nebenzug in Form eines kurzen Hauptsatzes ohne weitere Verbindung folgen zu lassen: Und so sitzend umgaben die drei den glänzend gebohnten Runden braunen Tisch; er stand auf mächtigen Füßen. -- Und so kam auch zurück mit seinen Töchtern gefahren Rasch an die andere Seite des Markts der begüterte Nachbar An sein erneuertes Haus, der erste Kaufmann des Ortes, Im geöffneten Wagen; er war in Landau verfertigt. Wir führen noch drei Stellen an, die für die in dem Gedicht herrschende Satzverbindung charakteristisch sind: Lange hab' ich gelebt und weiß mit Menschen zu handeln, Weiß zu bewirten die Herren und Frauen, daß sie zufrieden Von mir weggehn; ich weiß den Fremden gefällig zu schmeicheln. Aber so soll mir denn auch ein Schwiegertöchterchen endlich Wieder begegnen und so mir die viele Mühe versüßen. -- Und es löst der Besitz sich los vom alten Besitzer, Freund sich los von Freund; so löst sich Liebe von Liebe. -- Heilig sei dir der Tag, doch schätze das Leben nicht höher Als ein anderes Gut; und alle Güter sind trüglich. So heißt es im Reineke Fuchs: So scheut das böse Gewissen Licht und Tag; es scheute der Fuchs die versammelten Herren, was prosaisch wäre: der Fuchs scheute die Versammlung, wie das böse Gewissen Licht und Tag zu scheuen pflegt. Ueberhaupt könnte Hermann und Dorothea gerade im Punkt des Periodenbaus zu einer reichen Quelle der Belehrung werden. Die Rede fließt so verbindungslos und dennoch in so ununterbrochenem Zusammenhang, sie bewegt sich bei dem freisten Gang so voll Numerus, die Glieder, die sich logisch auf einander beziehen, sind oft so weit von einander, ohne jemals die volle Klarheit dieser Beziehung einzubüßen; das epische Prinzip der Episodik durchdringt so sehr jedes einzelne, daß man auch hierin an Homer und die bei diesem Dichter herrschende Einheit von Kunst und kindlicher Einfalt erinnert wird. Jakob Grimm bemerkt in seiner Grammatik, es finde sich nach epischer Weise in Hermann und Dorothea kein einziges Präsens historicum, während in Vossens Luise am Anfang des dritten Gesangs aus der Erzählung gewichen wird und Wielands Oberon nach romanischer Weise solche Präsentia im Ueberfluß hat. Bei aller Wahrheit und Natürlichkeit unterscheidet sich die poetische Sprache in unserm Gedicht dennoch von der prosaischen des gemeinen Lebens. Der Dichter erreicht diese Idealität, indem er scheinbar den Boden der alltäglichen Rede gar nicht verläßt, ja indem er auf demselben ganz bequemlich sich niederläßt. Die Nachlässigkeiten der mündlichen Rede erhebt er zu poetischen Freiheiten: dies zeigt sich sogleich an der Wortstellung. Diese ist überall die ganz natürliche des täglichen Redens und nirgends gehindert, verschoben und gezwungen wie so oft bei Voß und Klopstock; im Sprechen aber lassen wir ein Wort, das uns erst im Lauf der Rede eingefallen ist, nachfolgen, während es eigentlich schon hätte vorangehen müssen. Dies wendet nun der Dichter als poetische Kühnheit an, z. B. Was ein Knecht schon verrichtet des wohlbegüterten Mannes oder: Die uns sollte hinaus zum Brunnen führen der Linden. So ist an unzähligen Stellen des Gedichts der Genetiv von dem regierenden Substantiv getrennt. Eben dahin gehört die so häufig vorkommende Nachsetzung des Adjektivs mit dem Artikel, die gleichfalls nur der poetischen Sprache angehört und dennoch aus der Rede des gemeinen Lebens entspringt, wo wir das vergessene Adjektiv gleichsam erklärend nachholen: Unbewegt und stolz will keiner dem andern sich nähern, Keiner zum guten Worte, dem ersten, die Zunge bewegen. -- Denn wer die Städte gesehen, die großen und reinlichen, ruht nicht. Nicht anders ist die versetzte Wortfolge bei Stellen wie folgende zu erkären: Als du zu Pferden nur und Lust nur bezeigtest zum Acker. -- Der eine mit schwächeren Tieren Wünschte langsam zu fahren, der andere emsig zu eilen. Etwas weiter erhebt sich der Dichter von der Sprache der Prosa in den zusammengesetzten Adjektiven wie folgende: der vielbegehrende Städter, der allverderbliche, der vielbedürfende Krieg, die gartenumgebenen Häuser, die wohlgezimmerten Scheunen, der wohlumzäunte Weinberg, die wohlerneuerte Kirche. So anspruchslos diese Adjektiva auch sind, so wohl sie sich in die deutsche Rede fügen, so erinnern sie doch an die antike Dichtersprache: [Greek: pamphthartos, polyphthoros, euktimenos, eunaietaôn] und unzähliges andre der Art. Hier ist der Ort auf die vielfachen Anklänge an die Ausdrucksweise der Alten und besondes Homers, die das Gedicht durchziehen, aufmerksam zu machen. Zwar, so groß die Verwandtschaft ist, die das Goethesche Gedicht in Geist und Ton mit Homer an den Tag legt, so wenig läßt sich sagen, daß der Dichter direkt nachgeahmt hätte. Er ließ sich vielmehr von Homers Anschauungs- und Empfindungsweise ganz durchdringen und schuf dann auf modernem Boden und mit modernen Mitteln ein Gedicht, das in seiner Weise ganz denselben heitern reinmenschlichen stillrührenden Eindruck macht. Dennoch aber hat der Dichter hin und wieder Formeln aus den Alten herübergenommen, mit denen er in heitrer Ueberlegenheit nur spielt, die aber dennoch dazu beitragen den Naturton, die nationale Wahrheit des Denkens und der Rede durch kleine, fremdartig reizende Unterbrechungen noch rührender hervortreten zu lassen oder im Zusammenklang mit den entferntesten Weisen uralter Menschensprache in ihrer ewigen Geltung zu bestätigen. So wird die Wirkung des Gedichts, die wunderbare Harmonie seiner Form durch jene Nachahmungen, die von einer kaum merklichen Ironie angeflogen sind, nur noch erhöht. Zwei Stellen erinnern uns an Virgil und Cicero. Bei der Szene, wo der ehrwürdige Schultheiß die streitende und drohende Menge durch sein Auftreten schnell besänftigt, scheint der Dichter eine Stelle in Virgils Aeneis vor Augen gehabt zu haben: =Ac veluti magno in populo cum saepe coorta est seditio saevitque animis ignobile volgus jamque faces et saxa volant, furor arma ministrat, tum, pietate gravem ac meritis si forte virum quem conspexere, silent arrectisque auribus adstant; ille regit dictis animos et pectora mulcet.= Noch deutlicher ist die Uebereinstimmung einer Reflexion des Richters über den Leichtsinn, mit welchem man Menschen wählt, während man doch Rinder, Pferde und Schafe erst genau bei Tausch und Handel betrachtet, mit einer den gleichen Gedanken enthaltenden Stelle in Ciceros Schrift über die Freundschaft: =sed saepe querebatur, quod omnibus in rebus homines diligentiores essent, ut capras et oves quot quisque haberet, dicere posset, amicos quot haberet, non posset dicere; et in illis quidem parandis adhibere curam, in amicis eligendis neglegenter esse nec habere quasi signa quaedam et notas, quibus eos, qui ad amicitiam essent idonei, judicarent.= Cicero hat selbst wieder eine ähnliche Stelle in Xenophons Memorabilien vor Augen gehabt, die aber weiter von Goethes Worten abliegt als Ciceros Nachbildung. Antik ist auch der Anruf der Musen: Musen, die ihr so gern die herzliche Liebe begünstigt u. s. w. Aber der Dichter verlegte ihn nicht an den Anfang des ganzen Gedichts, wo er uns kalt und fremd entgegenträte, sondern nachdem wir zu inniger Teilnahme gerührt worden und der ganze Ton des Gedichtes sich unmerklich gesteigert, rufen wir mit dem Dichter die freundlichen Göttinnen an, deren Erwähnung nun halb wie ein frommes Gebet halb wie ein heitres Spiel erscheint. Auch Homer ruft ja nicht bloß am Anfang des Epos, sondern bei bedeutungsvollen Abschnitten die Musen an: [Greek: Espete nyn moi, Mousai, olympia dômat' echousai?] und so ruft auch unser Dichter: Aber saget ([Greek: espete]) vor allem, was jetzt im Hause geschiehet. Homer ist reich an Gleichnissen. Unser Dichter hat nur ein einziges, aber ein sehr schönes und wahres: Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken der Sonne Sie noch einmal ins Auge, die schnellverschwindende, faßte u. s. w. Goethe selbst erklärte diese Sparsamkeit durch den Grund, weil einem mehr sittlichen Gegenstande das Zudringen von Bildern aus der physischen Welt nur lästig gewesen wäre, d. h. er hatte nicht so viel äußerlich Sinnliches zu schildern wie Homer, sondern mehr Seelenvorgänge; ganz derselbe Unterschied wie zwischen seiner Iphigenie und der griechischen. Zwei andre Gleichnisse treten nicht in Gestalt selbständiger Teilgebilde hervor, sondern sind mehr in die Rede verflochten. Auch die homerische Sitte schon dagewesene Stellen mit gleichen Worten zu wiederholen ist nur einmal in unserm Gedicht nachgeahmt, bei Schilderung nämlich von Dorotheens Tracht. Gerade dadurch aber wird das Mädchen aufs festeste unsrer Anschauung eingeprägt. Der ganze Ton dieser Schilderung ist übrigens homerisch und das Altertümliche darin kontrastiert auf drollige Weise mit dem Modernen in der Tracht der heutigen Bäuerin, so daß auch hier die schon erwähnte leichte Ironie sich zeigt. Gleichfalls homerisch ist die Detailschilderung des Anschirrens der Pferde: Hermann eilte zum Stalle sogleich, wo die mutigen Hengste Ruhig standen und rasch den reinen Hafer verzehrten u. s. w. Auch hier liegt in der Anwendung homerischer Formen auf die Stallgeschäfte eines heutigen Burschen ein Zug ironischer Schalkhaftigkeit. Die halb ernste halb scherzende Wendung, wodurch der Dichter die Person, die er als sprechende bezeichnen will, selbst anredet, ist ebenfalls dem Homer nachgebildet. Wie Homer den Eumäus anredet: [Greek: Ton d' apameibomenos prosephês, Eumais sybôta,] so spricht auch unser Dichter zum Apotheker: Aber du zaudertest noch, vorsichtiger Nachbar, und sagtest, und zum Richter: Aber du sagtest indes, ehrwürdiger Richter, zu Hermann. Auch Homers Weise jeder Person, jedem Gegenstande ein Adjektiv beizugeben, welches nun zum festen Begleiter des Substantivs wird ohne Rücksicht auf den Zusammenhang jeder einzelnen Stelle, auch diese freundlich epische Weise, die mit heitrer Anerkennung kein Ding ohne rühmendes Beiwort lassen will, findet sich in unserm Gedicht wieder. Da heißt es: die reinlichen Türme, der kräftig strotzende Kohl, die mutigen Hengste, die schön versilberten Schnallen, die saubern Stricke, die geräumigen Plätze, der gewölbte Busen, die reinliche Anmut, zierliches Eirund, die wohlgebildeten Knöchel u. s. w. Selbst Homers fixierte Adjektiva fehlen nicht: Denn ich lebe beglückt mit beiden liebenden Eltern. -- Und es erstaunten die Freunde, die liebenden Eltern erstaunten. -- Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus und die liebenden Eltern. In der Abschiedsszene heißt es von den fremden Frauen: Denn so sagte wohl eine zur andern flüchtig ans Ohr hin, und gleich darauf: Aber ein' und die andre der Weiber sagte gebietend; beide Verse nahe übereinstimmend mit dem homerischen: [Greek: hôde de tis eipesken, idôn es plêsion allon.] Noch andre homerische Formeln sind: mit fliegenden Worten, mit geflügelten Worten ([Greek: epea pteroenta]), da befahl ihm sein Geist ([Greek: thymos anôgen, epotrynei, keleuei]), und süßes Verlangen ergriff sie ([Greek: kai me glykys himeros hairei]), denn Zwiespalt war mir im Herzen ([Greek: diandicha mermêrixa]). Auch die homerische Umschreibung mit »Kraft« ([Greek: menos, is biê]) ist einigemal angewandt: Abgemessen knüpften sie drauf an die Wage mit saubern Stricken die rasche Kraft der leicht hinziehenden Pferde. -- Und freute Sich der eigenen Saat und des herrlich nickenden Kornes, Das mit goldener Kraft sich im ganzen Felde bewegte. Griechisch ist die Umschreibung mit »Mann«: der wandernde Mann ([Greek: anêr hodoiporos]), ein Knecht des wohlbegüterten Mannes ([Greek: anêr aphneios]), der Richter von diesen flüchtenden Männern ([Greek: anêr hiketês]), die häufige Wiederkehr der Versicherungsformel »fürwahr« und »wahrlich«, die Verbindung des Verbums »sein« mit dem Dativ, z. B. dem ist kein Herz im ehernen Busen ([Greek: chalkeon êtor]), dem ist kein Sinn in dem Haupte ([Greek: en phresi thymos]), mir ist im tiefsten Herzen beschlossen, wäre mir jetzt nur Geld in der Tasche, und es ist mir genug davon im Kasten des Wagens u. s. w. Noch leisere Homerismen ließen sich in Menge anführen, nur daß die Grenze, wo sie beginnen und die ungemischt deutsche Ausdrucksweise aufhört, nicht zu bestimmen ist, da die fremde Färbung oft nur wie ein kaum sichtbarer Hauch über die nationale Rede hinschwebt: Aber ich geb' euch noch die Zeichen der reinlichen Kleider. -- Viele Leinwand der Tochter von feinem und starkem Gewebe. -- Des Gewinnes, Welcher sich reichlich um ihn und um die Seinen herumhäuft. -- Und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist. -- Aber keine von allen erschien die herrliche Jungfrau. -- Aber es kommt der Abend heran und die vielen Gespräche Sind nun zwischen ihm und seinen Freunden gewechselt. -- (Das Gespräch), das viel hin und her nach allen Seiten geführt wird. -- Und die Erde besorgt, so wie es die Stunden gebieten. -- Da freut' ich mich seines Anblicks so sehr, als wär' mir der Himmlischen einer erschienen. -- Daß ich diene daselbst den reichen trefflichen Eltern. -- Liegt die erst entbundene Frau des reichen Besitzers. ('Besitzer' deutsch nicht ohne Ergänzung möglich, nicht absolut.) Vers. Für das Epos, welches instinktiv auf dem Boden des poetischen Gesamtlebens einer Zeit erwächst, erfindet der Einzelne nicht die Versgattung, sie gibt sich ihm als die einzig vorhandene und höchstens bildet er sie aus. In der epischen Zeit ist der epische Vers die poetische Form überhaupt, und erst später, wenn mit dem Erwachen der Subjektivität die Lyrik auftritt, entfalten sich mannigfache Maße und Rhythmen, und jedes Lied ist je nach dem eigentümlichen Gefühl, von dem es beseelt ist, verschieden moduliert. So war der Hexameter bei den Griechen das erste und zugleich epische Versmaß für immer, dessen Geburt und Werden sich in eine dunkle, bewußtlose Zeit verliert. Diese Sicherheit und Notwendigkeit ging nun einem in die jüngste moderne Zeit gestellten Dichter wie Goethe ab; das Versmaß blieb seiner eigenen Wahl, wo nicht gar seiner Erfindung überlassen. Historisch gegebene Versmaße gab es nur folgende und auch nur dem Literaten, nicht dem Volke gegeben: der Hexameter der Alten, die Terzinen und Stanzen der Italiener, der französische Alexandriner, der Nibelungenvers. Von diesen war der Alexandriner durch die letzte literarische Revolution vor kurzem, als im Deutschen zu eintönig, sogar aus kleineren Gedichten verbannt worden; von ihm konnte zum epischen Gebrauch nicht die Rede sein. Die Terzinen, die Dante angewandt hatte, die achtzeiligen Stanzen bei Tasso, Ariost, Camoens waren zu künstlich, zu musikalisch und melodisch, um dem epischen Erzähler bei seiner heitern, gleichmäßigen Entfaltung dienen zu können. Die Nibelungenstrophe hatte den Vorteil, national zu sein, aber auch dies nur scheinbar, denn die Zeit, in der sie gebraucht, die Gedichte, zu denen sie verwandt worden, waren durch eine unermeßliche Kluft von der Gegenwart geschieden; Jahrhunderte totaler Vergessenheit lagen dazwischen, und wer mit jenem Versmaß in die Mitte der Zeitgenossen hätte treten wollen, brachte ihnen gewiß etwas weit Fremderes, als die Metra der Alten waren. Goethe und die damalige Zeit kannten zudem die altdeutschen Dichtungen kaum, so daß schon darum die Anwendung ihrer Form eine Unmöglichkeit war. Später freilich wurden jene Dichtungen durch die neualtdeutschen Romantiker und christlich-germanischen Patrioten eifrig hervorgesucht, gepriesen und anempfohlen, so daß es z. B. die Nibelungen zu einer gewissen Popularität gebracht haben, die indes gleichfalls mehr eine künstliche, der Schule angehörige ist und daher auch wahrscheinlich mit den Tendenzen, von denen sie getragen wurde, wieder absterben wird. Seit dem Auftreten der romantischen Doktrin ist die Nibelungenstrophe in epischen Romanzen häufig angewandt worden; mit ihr verband sich ein Streben nach volksmäßiger Kindlichkeit des Tons, eine gesuchte Unbehilflichkeit, eine reflektierte Unmittelbarkeit, naive Anwendung ausfüllender Formeln, aber unter diesem Schein der Herablassung und freiwillig angelegter Knechtsgestalt verbarg sich ein wirkliches poetisches Unvermögen, die wirklich mangelnde Fähigkeit, einen reichen Inhalt zu seiner eignen schönen Form zu vollenden. Auch Gervinus meint, hinter der Nibelungenstrophe verstecke sich die Armut sehr leicht, und fügt treffend hinzu, die Romanzenabteilung zerpflücke das Epos wieder in seine ersten Elemente. Was von der Nibelungenstrophe, gilt in noch höherem Maße von den sogenannten höfischen Reimpaaren; der Reim überhaupt mit seiner Rückkehr und seinem Widerhall und als Ausdruck der die Seele durchziehenden Klänge ist der anschauenden Heiterkeit des epischen Erzählens ganz unangemessen. Für Goethe blieb also nur der Hexameter übrig, ein fremder, ein griechischer Vers. Aber derselbe Dichter, der in der Iphigenie die antike Formschönheit mit der modernen Unendlichkeit des Gefühls zu vermählen und die Nebel nordischer Phantastik mit griechischer Sonnenheiterkeit zu durchleuchten gewußt hatte, der in unserm Epos den Geist homerischer Einfalt durch eine ganz moderne Welt wehen ließ, demselben war es vorbehalten, auch den heroischen und elegischen Vers der Alten nach Klopstocks und Vossens mühevoller, nicht immer glücklicher Anstrengung mit so leichter Aneignung in unsre Sprache zu verpflanzen, daß es schien, er habe derselben von jeher angehört. Die ersten Versuche, deutsche Hexameter zu machen, fallen in die Zeit, wo das Mittelalter abblühte und der Geist nach dem Rausche transszendenter Romantik vor allem nach Form verlangte; wie in der Architektur, in der Tragödie, in der Behandlung der Sprache u. s. w. Nachahmung des Antiken herrschend wurde, so auch in der Versform. Fischart, der in seiner Bearbeitung des Rabelais deutsche Hexameter anbrachte, verbindet sie noch mit dem einheimischen Reim. Erst Opitz indes stellte im siebzehnten Jahrhundert die neuere deutsche Prosodie fest, ohne welche deutsche Hexameter ein Unding waren. Das Gesetz derselben bestand darin, daß nicht die äußere Zeitdauer, die nach Länge und Kürze des Vokals und nach dem Zusammenstoß der Konsonanten gemessen wird, sondern die Bedeutsamkeit eine Silbe zur langen mache und daß im Deutschen die Länge mit dem Accent zusammenfällt. Nach einigen Versuchen des Christian Weise (1642-1700, Rektor am Gymnasium zu Zittau) und des Heräus (1671-1730, Hofdichter bei Kaiser Karl dem Sechsten in Wien) war es erst Klopstock, der mit Entschiedenheit von der scholastischen Tradition quantitierender lateinischer Metrik abging und den Hexameter nach dem modernen Gesetz accentuierender Rhythmik bildete. Voß erzählt in seiner Zeitmessung der deutschen Sprache von seinem Lehrer in der Schule, wie dieser über die unverständigen Neuerungen Klopstocks gezürnt und seinen Schülern die Worte aus Luthers Bibelübersetzung als echten Hexameter wiederholt habe: Daß Isaak scherzte mit seinem Weibe Rebekka. Klopstocks ziemlich mangelhafter Hexameter wurde von Johann Heinrich Voß vervollkommnet. Voß suchte den deutschen Hexameter der technischen Strenge des alten zu nähern; er bemühte sich um Spondeen, vermied, soviel er konnte, den Trochäus, schuf sich künstliche Daktylen, setzte fest, welche Silben lang, welche kurz sein müßten, welche als mittelzeitig bald kurz bald lang gebraucht werden könnten, und gelangte so zu Hexametern wie folgende: Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer von Grünau, oder: Jetzo begann holdselig ihr Lied die melodische Jungfrau Und des Gesangs Wohllaut, eindringenden Worten vereinigt, Wallete hell, dann leise gedämpft in die Stille des Abends. Von hinschmelzendem Halle gesänftiget lauschten sie ringsum, Fühlten erstaunt der Natur Hoheit und schwangen sich aufwärts Ueber Mond und Gestirne zu Gott und den Seligen Gottes. Da aber der Genius der deutschen Sprache sich gegen solche vollkommene Hexameter sträubte, so mußten häufig Listen und Zwangsmittel angewandt werden, um ihn zu bändigen. Voß brauchte Diminutiva auf -lein, z. B. 'Söhnlein' statt 'Sohn', um Spondeen zu gewinnen; er setzte den Komparativ der Adjektiva für den Positiv, z. B. 'der grünere Hain' statt 'der grüne', behielt das durch den Sprachgebrauch ausgestoßene e der Verbalflexion bei, wie in dem obigen Beispiel 'wallete', 'besänftiget', beides, um Daktylen zu erzwingen; er brach die Worte durch schwere Spondeen wie 'drauf antwortetest', 'du ehrwürdiger', wodurch das Grundgesetz von der Geltung des Accents umgestoßen ward, da niemand sagt: 'antwortetest', 'ehrwürdiger'. Das schlimmste aber war, daß die Versnot überall eine ganz undeutsche Ausdrucksweise, die des natürlichen Gefühles spottete, und lateinisch-griechische Wendungen und Wortstellungen herbeiführte. Der Sieg, den der Genius des Deutschen durch die akzentuierende Rhythmik über die lateinische Prosodie erfochten hatte, war abermals durch scholastische Metrik verkümmert; der Hexameter in dieser harten und steifen Gestalt war ein fremder, ein aufgedrängter Vers, aus dem keine Seele sprach. Erst Goethe und Schiller machten ihn aus einem Kunststück der Schule zum Eigentum der Nation und bewiesen sich durch die feine Grazie ihrer Behandlung als größere Verskünstler und metrische Meister als Voß, August Wilhelm Schlegel und Platen. Selbst bei dem Letztgenannten überwiegt das Interesse der glänzenden Technik des Verses zu sehr, um den lautern und vollen ästhetischen Eindruck nicht zu stören. Auch Platens Verse sind nicht 'frei und schlank wie aus dem Nichts entsprungen' und noch fühlen wir an ihnen die Gegenwart der widerstrebenden unbezwungenen Materie, deren Schwere nicht weichen will, so gewandt auch der Meißel an ihr sich herumbewegt; wir fühlen, daß der Inhalt erst allmählich nach dem Bedürfnis des Verses entstand und daß jene prächtige Form zwar in einem kleinen Gedicht, in einer einzelnen Stelle erreicht werden, nicht aber ein langes Epos hindurch sich erhalten und dessen mannigfaltigen Reichtum begleiten konnte. So wird wahrhafter Formensinn in die triumphierende Ueberlegenheit nicht einstimmen, mit welcher Voß und Platen auf die weimarischen Hexameter herabsehen. Goethe gab bei seinem Hexameter zuförderst alle Versmalerei auf, die mit Absicht durch den Gang des Verses den jedesmaligen Gegenstand versinnlichen will. In Zeiten, wo das wahrhafte poetische Gefühl verschwunden war, bei Dichtern, die nach verständigen Regeln den Effekt erzwingen wollten, bildeten solche künstliche Malereien den Gipfel poetischer Schönheit. In der didaktisch-moralischen Zeit der deutschen Literatur wurden die Verse des Virgil und Ovid, wo das Galoppieren des Pferdes durch lauter Daktylen, das Fallen der Hämmer durch lauter Spondeen, das Gequäk der Frösche durch ähnliche Laute versinnlicht wird, höchlich bewundert und Voß gab in seinen Uebersetzungen ähnliche Malereien mit Treue, oft sogar übertreibend wieder. Daher sein: Hurtig mit Donnergepolter entrollt ihm der tückische Marmor, und: Ihn von der Au' aufwälzend den Berg. Er selbst dichtete: Als ringsher pechschwarz aufstieg grau'ndrohende Sturmnacht. Homers und Goethes Vers wissen nichts von dergleichen Künsteleien und der Inhalt gibt die Wahl und Zusammenstellung der Worte von selbst. Hinterdrein kann man dann hie und da ein ungesuchtes Zusammentreffen bewundern, wie in den beiden angeführten homerischen Versen: [Greek: Autis epeita pedonde kylindeto laas anaidês. -- Laan anô ôtheske poti lophon,] oder in dem Hexameter unsres Gedichts: Hatte der Ahnherr einst, der würdige Burgemeister, wo der spondeische Ausgang den Eindruck der Würde unterstützt; weit öfter aber werden wir den Vers, unbekümmert um den jedesmaligen Sinn, seinen eigenen gleichmäßigen Gang verfolgen sehen. Und letzteres gerade ist die Idee des Verses. Die gebundene Rede besteht eben darin, daß ohne Rücksicht auf den mannigfach wechselnden Gedanken ewig ein und dieselbe unveränderliche rhythmische Form wiederkehrt. Wäre jene Wortmalerei das Richtige, so müßte ein festes Versmaß überhaupt verworfen werden. Dieses bindet den Strom mannigfacher Empfindungen und Anschauungen an ein unverbrüchliches Gleichmaß und steht nur zu dem Ganzen des Gesanges, nicht aber zu jedem Punkt der Bewegung in entsprechendem Verhältnis. Goethe wandte den Trochäus da an, wo die alten Dichter den Spondeus gebraucht hatten. Eigentliche Spondeen nämlich sind im Deutschen unmöglich. Selbst Voß erkennt dies in einer vorübergehenden Bemerkung an, deren Gewicht er aber nicht einsah. Steigende Spondeen, sagt er, ahmen den Jambus, sinkende den Trochäus nach. Der Grund dieser Unmöglichkeit, reine Spondeen im Deutschen zu bilden, liegt auch sehr nahe. Bei den Alten, wo die Länge der Silbe etwas für sich Bestehendes und von dem metrischen Iktus Gesondertes war, konnte auch diejenige Silbe des Spondeus lang sein, die diesen erhöhten Ton nicht erhielt; im Deutschen aber, wo die Länge eben nur in jener Erhebung der Stimme, abgesehen von der quantitativen Zeitdauer, besteht, sind zwei Silben, von denen nur eine den Ton hat, unmöglich zu einem Spondeus zu vereinigen. Voß half sich auf eine doppelte Weise, um dennoch wirkliche Spondeen zu erzwingen, indem er beidemal das Gesetz des deutschen Wortaccentes verletzte. Er ließ nämlich entweder zwei wirklich betonte Silben zusammen einen Spondeus bilden und sagte: Der Herrscher im Donnergewölk Zeus oder Faßte, dieweil Karl drängte, den Arm des bescheidenen Jünglings, wo aber die zweite Silbe 'Zeus', 'Karl' entweder wider Sinn und Sprachgebrauch den Ton verliert oder beide Silben betont werden und also aufhören, sich zu der Einheit eines Fußes zu verbinden. Oder er bildete sogenannte geschleifte Spondeen, indem er die starkbetonte Silbe in die Senkung, die schwachbetonte in die Hebung brachte und z. B. sagte. Wer getrost fortgehet, der kommt an. -- Es verfolgt Schwachheit absterbendes Alters, womit aber aller deutschen Wortbetonung Hohn gesprochen ist. Niemand sagt 'fortgéhet', es müßte denn sein, daß der Gegensatz zum Fortreiten, Fortfliegen u. s. w. auf das Gehen den Ton verlegte. Aus dem obigen folgt, daß auch der deutsche Daktylus ein ganz andrer ist als der antike; doch kommt auf diesen Unterschied in der Anwendung wenig an. Wahrhafte Spondeen sind im Deutschen nicht möglich, und angebliche Spondeen wie 'Weinberg', 'Schauspiele' fügen sich ohne Zwang in trochäischen Rhythmus. Goethe wandte ähnliche Wörter mit Unbefangenheit auch im Daktylus an, da in der That die Rede über die zweite Silbe mit Leichtigkeit fortgeht, z. B.: Unverzeihlich find' ich den Leichtsinn, doch liegt er im Menschen. -- Der im Glück wie im Unglück sich eifrig und thätig bestrebet. -- Ungern würd' ich sie sehn, mich schmerzt der Anblick des Jammers. -- Aller Anfang ist schwer, am schwersten der Anfang der Wirtschaft. -- Meinem Vaterland hilfreich zu sein und schrecklich den Feinden. -- Alle mit Fleiße gepflanzt der Gäste Nachtisch zu zieren. Goethe hielt den trochäischen Gebrauch solcher Wörter für so unverfänglich, daß er selbst da, wo die Aenderung auf der Hand lag, diese Aenderung verschmähte: Und unten Weinberg und Garten, wo es so leicht gewesen wäre umzustellen 'Garten und Weinberg', was aber nach Humboldts Bemerkung die natürliche Aufeinanderfolge gestört haben würde, da dem von der Höhe des Hügels Blickenden zuerst der Weinberg und dann erst die Gärten sich boten. Den so auf die Bedingungen heimatlicher Rede zurückgeführten Vers behandelte Goethe mit der anmutigsten Leichtigkeit. Der Vers drängt sich nirgends vor, er drängt sich nirgends gewaltsam auf. In dem dunkeln, beglückenden Gefühl, sicher und leicht von dem rhythmischen Element getragen zu sein, überlassen wir uns mit ungestörter Empfindung der lebendigen Wirkung des schönen Inhalts. Keine ungehörige Wendung, kein unnützer Zusatz, kein empfindlicher Abzug verrät den Zwang des Metrums; die Worte, überall klar und natürlich, werden in edler Wohlbewegung von selbst zu Hexametern, und haben wir oben den epischen, leichtverschlungenen Periodenbau bewundert, so müssen wir hier bewundern, wie der Gang der Rede mit dem Gang des Verses in Anfang, Mitte und Ende so harmonisch zusammenstimmt. Kunstlos und doch voll Kunst, nachlässig und doch voll Haltung bewegen sich diese Verse im Spiel der Trochäen und Daktylen, gegliedert durch passende Zäsuren, den Perioden entgegen und von ihnen ab, bis sie schließlich mit ihnen zusammentreffen. Auch in der naiven Zwanglosigkeit des Verses kann Goethe mit Homer verglichen werden. Wie ungezwungen bewegt sich der Rhythmus gleich in der Anfangsrede: Hab' ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen! Ist doch die Stadt wie gekehrt, wie ausgestorben. Nicht fünfzig, Deucht mir, blieben zurück von allen unsern Bewohnern u. s. w. Wie würdig ohne gesuchten Pomp in dem Gleichnis: Wie der wandernde Mann, der vor dem Sinken der Sonne Sie noch einmal ins Auge, die schnellverschwindende, faßte, Dann im dunkeln Gebüsch und an der Seite des Felsens Schweben siehet ihr Bild; wohin er die Blicke nur wendet, Eilet es vor und glänzt und schwankt in herrlichen Farben. Oder in der Naturschilderung: Also gingen die zwei entgegen der sinkenden Sonne, Die in Wolken sich tief gewitterdrohend verhüllte, Aus dem Schleier bald hier bald dort mit glühenden Blicken Strahlend über das Feld die ahnungsvolle Beleuchtung. Goethe verdankte die Schönheit seines Hexameters, die in Deutschland, wo die Schule und das Handwerk immer mächtig war, geringe kritische Anerkennung fand, bloß dem Ohr und dem richtigen Gefühl, denn die Theorie desselben war ihm fremd. Er ging, wie einst wegen des Jambus zu Moritz, so zu Voß in die Schule und hätte von diesem bei minder glücklichem Instinkt viel böse Angewöhnungen annehmen können. Hin und wieder erscheinen in dem Gedicht vossische Kunstgriffe, die wir indessen gerade zu den metrischen Fehlern zählen. Wenn es heißt: Tretet herein in den heiteren Raum, in das kühlere Sälchen, so ist das Diminutiv 'Sälchen' für 'Saal' ein ganz vossischer Notbehelf, zwei Silben zu erzwingen, wo der Sinn sich mit einer begnügt hätte. Auch der bald darauf gebrauchte pretiöse Genetiv: Sorgsam brachte die Mutter des klaren herrlichen Weines, der unnütz hinzugefügte Spondeus 'sorgsam', denn die Sorgsamkeit bildet hier gar keinen wesentlichen Zug, sowie die ganze folgende zu niederländische Schilderung der geschliffenen Flasche, der grünlichen Gläser u. s. w. ist eine nicht angenehm auffallende Nachahmung des Dichters der Luise. Einigemal begegnen auch Vossens beliebte schleifende Spondeen: auf halbwahren Worten ertappt, selbst hinging nach Paris, daß unwillig sie flieht, vom scheu-unsicheren Blicke, die hochherzig ein Mädchen vollbrachte u. s. w., und es könnte wohl sein, daß der Dichter manche Stellen der Art als besondern metrischen Schmuck hineinkorrigierte, als er die letzten Gesänge des Gedichts noch einmal mit Humboldt genau durchging und dessen prosodische Bemerkungen benutzte, worüber er an Schiller berichtet. Der mit Geschrei und Jubel dem Dichter vorgehaltene siebenfüßige Hexameter: Ungerecht bleiben die Männer und die Zeiten der Liebe vergehen scheint uns ein Schreibfehler, der durch Weglassung des 'und' leicht zu verbessern ist, wenn nicht vielmehr die Zäsur bei 'Männer' das Ohr des Dichters täuschte; denn eben die Zäsur und Pause hebt mit Leichtigkeit über die ganz flüchtigen drei Silben weg. In der neuesten Quartausgabe von Goethes Werken finden wir das 'und' getilgt. Riemer erzählt: Ich hatte Goethen bereits aufmerksam darauf gemacht; weil aber der Vers, ohne sein proverbialisches Ansehen zu verlieren und eine gewisse =grata negligentia= einzubüßen, nicht wohl zu ändern war, ich mich auch erinnerte, daß Friedrich August Wolf einmal, von diesem Verse sprechend, ihn nicht nur entschuldigt, sondern auch durch homerische Beispiele erläutert habe, so ließen wir ihn stehen oder hingehen. Nun machte später auch Heinrich Voß, der Sohn, auf ihn aufmerksam und Goethe soll, wie jener erzählt, gesagt haben, die siebenfüßige Bestie möge als Wahrzeichen stehen bleiben. Andre deutsche Epen (Luise von Voß, Messias von Klopstock) zur Vergleichung. Die Luise von Voß, schon 1783 gedichtet, ist in vielfacher Beziehung ein dem Goetheschen verwandtes Gedicht; ja man hat Hermann und Dorothea geradezu für eine Nachahmung jenes Idylls erklärt, die natürlich, wie ja der Nachahmer immer der Unfreie und an produktiver Kraft Geringere ist, hinter der Schönheit des Urbildes zurückblieb. Andre, die billig sein wollten, ließen unentschieden, ob Luise oder Hermann und Dorothea den Vorzug verdiene, und sprachen bescheiden, sich sehr klug dünkend: =non nostrum inter vos tantas componere lites=. Niebuhr ging soweit, das vossische Gedicht mit Homer in Vergleich zu stellen und den letztern gegen das erstere hingeben zu wollen: das Urteil eines plattdeutschen oder friesischen Bauernsohnes, sehr willenskräftig, aber ungeheuer einseitig, mit geringem Sinn für griechische Humanität. Aehnliche Gunst fand die Luise merkwürdiger Weise auch bei Goethe und Schiller. Goethe liebte sie vorzulesen, wie er selbst erzählt, und man kann nicht leugnen, daß sie ihm vorschwebte, als er seinen Hermann dichtete. In dem Proömium zu Hermann und Dorothea sagt er: Uns begleite des Dichters Geist, der seine Luise Rasch dem würdigen Freund, uns zu entzücken, verband. Und Schiller äußert über sie in der Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung: Diese Idylle, obgleich nicht durchaus von sentimentalischen Einflüssen frei, gehört ganz zum naiven Geschlecht und ringt durch individuelle Wahrheit und gediegene Natur den besten griechischen Mustern mit seltenem Erfolge nach; sie kann daher, was ihr zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus ihrem Fache, sondern muß mit griechischen Mustern verglichen werden, mit welchen sie auch den so seltenen Vorzug teilt uns einen reinen, bestimmten und immer gleichen Genuß zu gewähren. Schiller findet also ganz dasselbe in der Luise, was wir von Hermann und Dorothea gerühmt haben: den antiken Geist, die Naivetät der Auffassung und Darstellung. Voß selbst hatte eine hohe Meinung von seinem Gedicht und sah das Erscheinen von Hermann und Dorothea als einen Triumph mehr für sich an. Er schreibt 1797 an den alten Gleim, einst den Mäcen aller jungen Dichter, jetzt einen Allerweltsversmacher, der von der neuen klassischen Poesie nichts begriff: Sie werden für manche zu eilfertig gearbeitete Stellen durch sehr schöne entschädigt werden; die zur Vorrede bestimmte Elegie beweist hinlänglich, daß es ihm Ernst war etwas wo nicht Homerisches, doch Homeridisches aufzustellen, um auch diesen Kranz des Apollo zu gewinnen; ich werde mich herzlich freuen, wenn Griechenlands Geist uns Deutschen ein vollendetes Kunstwerk gewährt, und nicht engherzig nach meiner Luise mich umsehen; aber ebenso ehrlich denke ich für mich und sage es Ihnen: Die Dorothea gefalle, wem sie wolle; Luise ist sie nicht; sieh, ich wollte keck thun und fühle doch, daß ich rot werde. Gleim machte daraus den Vers: Luise Voß und Dorothea Goethe, Schön beide wie die Morgenröte, Stehn da zur Wahl Und Wahl macht Qual. Hier aber, seht, ist nichts zu quälen, Hier kann die Wahl nicht fehlen: Luise Voß ist mein in Lied und in Idyll; Die andre nehme, wer da will. Auch die Luise ist ein Idyll und schildert häusliche beschränkte Zustände, einfältige sittlichreine gemütvolle Menschen. Die Sitten eines Landpfarrerhauses in Norddeutschland treten uns in dem Rahmen des Gedichtes mit allem Detail entgegen. Luise, die Tochter wird mit dem Kandidaten Walther vermählt und zieht als künftige Frau Pastorin von Grünau nach Seldorf. Der ehrwürdige Pfarrer von Grünau, die geschäftige Mutter und Hausfrau, die gräfliche Nachbarschaft, Hans der Knecht, Susanne die Magd bilden zusammen einen gemütvollen ländlichen Kreis, dessen Thun und Reden uns durch manchen Zug echter Menschlichkeit rührt. Soweit enthält das Gedicht denselben idyllischen Grundton wie Hermann und Dorothea, gleich welchem es auch in Hexametern geschrieben ist. Aber Hermann und Dorothea ist nicht bloß ein Idyll, sondern auch ein Epos. Es hängt durch tausend Fäden mit dem ganzen Menschenleben zusammen, von dem es ein Stück ist; jede einzelne Empfindung mündet in den Strom großer objektiver weltbewegender Mächte, während in der Luise der Blick in den kleinen Familienvorgängen des engen Pfarrhauses gebannt bleibt. So vollzieht sich in dem Goetheschen Gedicht auch eine wirkliche Begebenheit, mit welcher zugleich die Charaktere sich entwickeln und in der ein Menschendasein handelnd den Reichtum seines Inhalts, seiner Motive und Richtungen darlegt; eine stille sichere, gemessen wandelnde Erzählung führt von der freundlichen Ruhe unerschlossener Existenz zu Konflikten und Gegensätzen, von da in die Grundempfindung der Versöhnung, in die Vernunft und Schönheit sittlicher Ordnung zurück. Vossens Luise beschreibt etwas Vorhandenes. Luise ist die Braut Walthers von Anfang an und die geschilderten Lebensverhältnisse werden nicht durch Störung oder Kampf gezwungen, ihren Inhalt zu bewähren. Das vossische Gedicht ist also ein reines Idyll mit allem Unzureichenden, was diese Gattung hat, mit allem Ueberdruß, den sie so leicht erregt, und aller Armut trotz der gehäuften konkreten Züge. Sehen wir weiter auf die poetischen Kräfte, die in beiden Gedichten wirksam sind, so geht uns vollends alle Vergleichung aus. In Hermann und Dorothea öffnet uns ein Dichtergenius eine ideale, durch das Feuer der Phantasie von allen Schlacken geläuterte Welt; in Voßens Luise kopiert ein niederländischer Genremaler ängstlich und genau die kleinsten Bestimmtheiten der Wirklichkeit. Essen und Trinken, die Mahlzeit vom ersten bis zum letzten Gericht, die Kleider, der Schlafrock, das Pfeifenrohr, die ganze Hauseinrichtung, alle Verrichtungen des täglichen Lebens werden in ausführlicher Malerei aufgeboten, um unsrer Anschauung Realität zu bieten; dennoch will sich das Bild nicht beleben, es bleibt tot. Auf mechanische Weise stellt sich Zug neben Zug; die Schilderung erwächst nicht organisch aus innerem Kern durch den bildenden Instinkt der Phantasie. Die Goetheschen Personen sind poetische Geschöpfe, sie sind, wie wir schon oben sahen, Typen und Individuen zugleich; die vossischen sind eine mechanische Mosaik, Kinder der Reflexion. Der Dichter fragte sich: wie muß eine Mutter sich benehmen? wie machen es die Mütter gewöhnlich? wie zeigt sich eine Pfarrersfrau? und nun wandte er die Züge, die er durch Reflexion über das Mutter- und Gattenverhältnis gefunden, auf seine Pfarrerin von Grünau an. Ebenso der Vater: er ist der individualisierte Pfarrer- und Hausvaterstand, der norddeutsche Pfarrer, wie ihn die Beobachtung findet und die Abstraktion sich denkt. Daher fehlt den Personen die innere Beseelung, welche die Gebilde schöpferischer Phantasie durchdringt; so fehlt die Kunst des Wesentlichen, des Vor- und Rücktretens der Züge, die Kunst idealer Zeichnung, die, wahrer und konsequenter als die Natur, doch nicht in jedem einzelnen Punkte nach Verkörperung strebt. Dieselbe bewußte Absicht zeigt sich in der überall hervortretenden bestimmten Tendenz des Dichters. Er will uns ein Gemälde reiner Sitten geben; seine letzte Triebfeder ist nicht der Reiz des Schaffens, sondern moralische Stimmung, soziale Beobachtung, sittengeschichtliches Interesse. Aufklärung, Widerwille gegen Dogmen, werkthätige liebevolle Religiosität erscheint als eine Herzensangelegenheit des Dichters, aber sie geht neben seinem poetischen Bilden einher, sie wird direkt gepredigt, es werden sogar Bücher genannt, die sich darauf beziehen, so daß wir uns aus dem Reiche ästhetischer Freiheit auf den Boden der Erde zurückversetzt finden. Auch in der äußern Form endlich suchen wir vergeblich die edle Grazie, die liebliche Anmut und harmonische Vollendung von Goethes Gedicht. Absicht, Mühe, Unnatur, Verkünstelung entstellt den Ausdruck und Vers fast überall. Mit diesen spondeenreichen Hexametern voll Zwang und Arbeit, mit dem Tone kostbarer Gesuchtheit kontrastiert dann seltsam der Naturalismus einzelner Worte und Vorfälle, ebenso mit der durchgängigen lastenden Schwere des Ausdrucks der hin und wieder gemachte Versuch dichterisch spielen und tändeln zu wollen. Was Voß in allen Gedichten abging, Feinheit der Technik, fehlt auch seiner Luise. So sind auch die Nachahmungen Homers und der Alten lange nicht so anmutig in das Ganze verwebt als bei Goethe; sie ragen mehr oder minder als fremde Stücke aus der Rede hervor, ohne in ihren Strom zu verfließen. Fehlt es auf diese Weise dem vossischen Gedicht an Idealität, so leidet Klopstocks Messias an dem entgegengesetzten, für die Kunst, die am wenigsten der Sinnlichkeit entbehren kann, noch viel schlimmeren Fehler des Mangels an Realität. Klopstock hat religiöse Abstraktionen in Handlung gesetzt, denen aller Zauber lebendiger Gegenwart, alle Wärme pulsierenden Lebens abgeht. Eben weil sie Abstraktionen sind, duldeten sie kein näheres Eingehen; wie gestaltlose Schatten wallen sie an uns vorüber. Voß ist ein Genremaler, Klopstocks Messias eine lange unfaßbare Musik. Die Handlung ist keine wahre und wirkliche, auf konkreten Verhältnissen und menschlichen Triebfedern ruhende und in dem Zusammenhang der Welt begriffene; sie geht über dem Wirklichen in leeren Räumen vor sich und verläßt die Erde, den vertrauten Wohnsitz der Menschen. Ueberall nicht sowohl erfülltes Leben als abstrakte Beziehung auf das dogmatische System, statt anschaulicher Gegenwart zerfließende religiöse Sentimentalität. Wie anders wäre ein Dichter von wirklicher Gestaltungskraft verfahren! Das damalige Palästina in seinem historischen Zustande, die herrschenden Römer, die pharisäischen Priester mit ihrer Sophistik und ihrem starren Halten an der Satzung, das Volk der Juden selbst, die auf religiöse Innigkeit dringende, dem Gesetz die Gesinnung entgegenhaltende neue Sekte der Christen; dazu die durch Tradition gegebene, nur weiter auszufüllende und zu belebende Geschichte Christi, die von dem Zwang des Dogmas befreit, aus der falschen transzendenten Höhe mitten in das Leben verlegt, in einem schönen Bilde voll Bedeutung und Wärme eine edle Menschlichkeit vor uns hätte entfalten können; in den Gruppen der politisch Herrschenden und Beherrschten, der religiös Gebietenden und sich Auflehnenden wirksam sich entgegenstehende Massen; in den Individualitäten Jesu, des Verräters Judas, der übrigen Jünger u. s. w. mit einander kontrastierende, leicht zu gruppierende Charaktere; die Aussicht auf die einstige Größe der neuen Religion, die antizipierenden Blicke auf die Geschichte der Kirche wie bei Virgil auf die spätere römische Weltherrschaft; endlich die südliche Natur des Landes und die damit zusammenhängenden Sitten, die Palmen und Kamele, Wüsten und Quellen, der Oelberg und der Tempel, das wunderbare tote Meer -- alles dies gab einer wahrhaft bildenden Phantasie den reichsten Stoff eine handelnde konkrete, menschlich das Herz ergreifende Welt zu schaffen. Statt dessen ging Klopstock an sein Gedicht nicht als gestaltender Epiker, sondern als musikalischer Lyriker, nicht mit der freien, der Natur der Dinge sich hingebenden Anschauung des Dichters, sondern mit der Andacht eines seiner Sünde sich bewußten Herzens, das seine Bedürfnisse mit Hilfe endlichen Verstandes zu übersinnlichen Wesen macht, denen man nicht nahen darf, ohne daß sie sich wie alle Abstraktionen in das Nichts auflösen. Daher in dem ganzen Epos nichts als Empfindungen, daher Erhabenheit die einzige Stimmung. Der Dichter sucht unablässig zu steigern, höher zu fliegen, Erweiterung auf Erweiterung zu häufen; er streift alles sich begrenzende, sich individuell zusammenfassende Leben ab und findet sich zuletzt in der erhabenen anschauungslosen Leere, in dem reinen Reich unsagbarer Empfindung; er verstummt. Ermüdung und Langeweile überfällt den Leser nach wenigen Schritten, die er durch diese Sammlung von leeren Empfindungen und Reden gemacht hat. Alles Sinnliche und Körperliche, alles wahrhaft Natürliche und Reelle liegt tief unter uns; wir steigen von Anbetung zu Anbetung, von Greuel und Grauen zu Greuel und Grauen; beides als bloß abstrakt kann uns nicht in wirklichen Umrissen und Farben, sondern nur mit Worten gereicht werden. Ausrufungen, Floskeln rhetorischer Erhabenheit, Hymnen, Jubel- und Verzweiflungsgesänge ersetzen die lebenbeseelte Menschen- und Naturwelt einer wirklichen Dichterphantasie. Zu alledem kommt die Gezwungenheit der Sprache, aus der uns gleichfalls nicht die Laute vertraulich redender Menschengeschlechter entgegentönen; sie ist wie durch den Ruck eines Zauberschlüssels aus der natürlichen Stimmung gedreht, sie ist immer wie außer sich, sie schreit, sie ruft, sie windet sich konvulsivisch; harte Worte reiben sich knarrend aneinander, hohle Töne hallen durch die gestaltlose Oede. So sind denn beide Gedichte, die idyllische Luise wie der erhabene Messias, Mißgeschöpfe nach entgegengesetzter Richtung hin. Verschmäht es die Kunst, täuschende Wachsfiguren zu bilden, so hascht sie noch viel weniger nach Traumbildern: ihre Marmorgestalten sind wahre und dennoch ideale, natürliche und doch überirdische, lebenerfüllte und doch stille und kalte Wesen. Wie keusch ist der Dichter von Hermann und Dorothea in individualisierenden Einzelheiten des Lebens, in Essen und Trinken, Kleidern, Sitten, Idiotismen der Umgangssprache dem Dichter der Luise gegenüber! Wie heiter sinnlich entfaltet er in bestimmten Handlungen, Lokalitäten, menschlichen Motiven das Gemälde vor uns, verglichen mit den sich jagenden Phantasmagorieen und der verhallenden Musik des Klopstockischen Gedichts! Er läßt die Charaktere durch Handlungen vor uns entstehen, während in der Luise nur Beschreibung ist; er nüanciert und individualisiert sie, während die Personen Klopstocks als verkleidete Abstraktionen des Guten und Bösen, der Allmacht und Unmacht u. s. w. alle den gleichen wesenlosen Typus tragen. Von einer Tendenz ist in Hermann und Dorothea keine Spur; Voß und Klopstock sind beide Theologen, der eine ein rationalistischer, der andre ein orthodoxer, und beide haben theologische Absichten. Aus Hermann und Dorothea weht uns ein geläuterter Geist echter Humanität an, der eins ist mit dem Element ästhetischer Freiheit und schöner Kunstdarstellung; bei Klopstock verdrängt Gebet und Fluch die stille Heiterkeit des bildenden Dichters, die theologische Satzung den Geist freier Betrachtung der Dinge. Beide Dichter endlich, Voß sowohl als Klopstock sind deutsch und national, aber ebenfalls in beschränkter Weise. Voß malte manche Seiten norddeutschen Seins und Lebens mit Glück und befreundete sich mit den ehrbaren Gestalten begrenzter Sittlichkeit in derjenigen Sphäre, welcher er durch seine Geburt angehörte, aber er erschöpfte den Gehalt des deutschen Volkes nicht, sein Deutschtum ist zu eng; Klopstock besang den leeren Begriff Vaterland und fuhr auf den Flügeln der Begeisterung für alles Germanische dahin, aber er verkehrte nicht freundlich und vertraulich mit den konkreten Interessen und den wirklichen Zuständen des deutschen Volkes und Landes, sein Deutschtum ist zu abstrakt. Es kostete darum Klopstock auch nichts in seinem Hauptgedicht, welches als Epos vor allem einen nationalen Boden verlangte, den Kreis des Vaterländischen zu verlassen und dem religiösen, wohl auch dem theologischen Interesse auf Kosten des nationalen Genüge zu geben, welches ihm Goethe in dem Gedicht »die Kränze« auf gewohnte mildentschuldigende Weise vorwarf. Goethe ist auch nationaler als beide Dichter, er ist deutscher als irgend einer unsrer Dichter, obgleich er nie für Arminius geschwärmt, den Welschen immer freundlich gewesen und seinen Widerwillen gegen eine christlich-germanische Erneuerung des Mittelalters nicht verhehlt. In Hermann und Dorothea ist deutscher Geist in echter Wesenhaftigkeit: da aber alles Krankhafte und Irrige, worin dieser Geist sich selbst verlor, von dem Gedicht ausgeschlossen blieb, so erscheint es ebenso deutsch als homerisch und human. Wir haben im Obigen über beide Gedichte, die Luise und den Messias, etwas hart geurteilt, weil es uns darauf ankam, ihr poetisches Wertverhältnis zu Hermann und Dorothea deutlich zu betonen. Für sich betrachtet haben beide gewiß manche Schönheiten, die Luise im naiven, die Messiade im sentimental-elegischen Tone; den, der die höchsten Forderungen mitbringt, können sie nicht befriedigen. So ist denn auch Klopstocks Messias nach einer oft gemachten Bemerkung längst schon ohne Leser; und von Vossens Luise bleibt August Wilhelm Schlegels Ausspruch wahr: Bei der Nachwelt wird es Luisen empfehlen können, daß sie Dorothea zur Taufe gehalten hat. Anmerkungen. Die eigenartigen grossen Vorzüge der Auffassung und Darstellung, die aus Viktor Hehns Gedanken über Goethe (zweite Auflage, Berlin 1888) allen wahren Freunden unsres Dichters bekannt und liebgeworden sind, die Wärme der persönlichen Hingabe, die Kraft individuellster Anschauung, das feine Verständnis für den innersten Wesensgehalt der Poesie und besonders der Goetheschen Poesie finden sich in vollem Masse auch in seinen Betrachtungen über Hermann und Dorothea, Goethes innigste und vollendetste Dichtung. Hehns Manuskript lag fast ganz druckfertig vor und bedurfte nirgends grösserer Aenderungen: schade nur, dass es nicht lückenlos erhalten ist. Zwar fehlt nichts Grösseres und Vollständiges, denn alle in der Disposition S. 6 aufgezählten Punkte kommen in unserm Texte zur Behandlung; aber an zwei Stellen fehlen leider Bogen, die den Schluss von Kapiteln enthalten haben. So sollten sich S. 26 noch Betrachtungen anschliessen, die mit Gedanken über die Spuren der Entstehung der Tragödie bei den Griechen aus dem Epos beginnen, welche aber wegen ihres durchaus fragmentarischen Charakters von mir ganz fortgelassen sind; ihre Ausdehnung lässt sich nicht ermessen und auch so hat das Kapitel befriedigenden Abschluss. Dann fehlte der Schluss des Kapitels über die Lebenssphäre, wo ich S. 114 wenigstens den Schluss des abgebrochenen Satzes und der Betrachtung aus den Gedanken über Goethe S. 253 hierher übernehmen konnte; vielleicht hat noch mancher andre Zug, der dort sich findet, hier näher beleuchtet werden sollen. Viele Sätze und auch zuweilen grössere Abschnitte unsres Buches, die ich unten verzeichnet habe, finden sich schon in den Gedanken über Goethe: sie konnten hier im Zusammenhange nicht entbehrt werden, wenn sie auch der Verfasser, der wohl an eine Herausgabe unsres Buches nicht mehr dachte, schon dort in weiterer Ausgestaltung verwertet hat. Ausgeschieden aus dem Text, um den ruhigen Fluss genussreicher Lektüre nicht durch öde Zahlen zu unterbrechen, habe ich alle genaueren Zitate: ich bringe sie hier in den Anmerkungen nach, denen ich auch einige kleinere auf zerstreuten Blättern erhaltene Parerga Hehns eingefügt habe; meine eigenen Zuthaten, meist Literaturnachweise bringend, nehme man für nichts als anspruchslose Glossen, die ich dem mir liebgewordenen Buche nicht vorenthalten mochte. Einleitung. S. 2. Rötscher, Zum Verständnis des Goetheschen Faust, erschienen in seinen dramaturgischen und ästhetischen Abhandlungen (Leipzig 1846) S. 36. Viehoff, Goethes Gedichte erläutert und auf ihre Veranlassungen, Quellen und Vorbilder zurückgeführt nebst Variantensammlung und Nachlese, 3 Bände, Düsseldorf 1846-53, die 3. Auflage erschien Stuttgart 1876; vgl. über ähnliche Dinge Scherer, Aufsätze über Goethe S. 5. Grün, Ueber Goethe vom menschlichen Standpunkte, Darmstadt 1846; vgl. auch S. 46. 48. Das eigenartige Buch, so sehr es oft Goethes innerstes Wesen verkennt und seiner Poesie nicht gerecht wird, enthält doch eine Reihe sehr anregender und tüchtiger Betrachtungen. S. 3. Die gesamte Literatur über Hermann und Dorothea verzeichnet jetzt am ausführlichsten Max Koch in der 2. Auflage von Goedekes Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung Band 4, S. 689. Schlegel besprach Goethes Hermann und Dorothea in der Jenaischen allgemeinen Literaturzeitung 1797 Nr. 393-396, wiederabgedruckt in seinen Charakteristiken und Kritiken Band 2, S. 260 und seinen sämtlichen Werken Band 11, S. 183; vgl. auch S. 5. »August Wilhelm Schlegels ästhetische Kritik kann sich sicherlich mit allem, was die damalige Zeit hervorbrachte, auch der philosophischen Tiefe nach messen und fand erst an Hegels und Vischers Aesthetik eine ebenbürtige Fortsetzung und beziehungsweise Gegnerschaft.... Gleich seine ersten kritischen Versuche in Jena, über Goethes römische Elegieen und über Hermann und Dorothea, ragten sowohl historisch als theoretisch über das Gewöhnliche hoch hinaus. Die römischen Elegieen, die ein bedenkliches moralisches Wagnis schienen, besprach er mit einer Sachkenntnis und Wärme, mit einem freien poetisch-sittlichen Gefühl, wie man es den damaligen und späteren Geschmacksrichtern und Neidern, z. B. Herder, wohl hätte wünschen mögen.... Wie über die römischen Elegieen war auch August Wilhelm Schlegels Charakteristik von Hermann und Dorothea eine in wenig Worten erschöpfende Vorausnahme alles dessen, was jemals über dies Epos einsichtiges gesagt worden ist« Gedanken über Goethe S. 112. 113. 114. Hehn selbst verdankt Schlegels Rezension in seinen Betrachtungen viele Anregung, namentlich in den Kapiteln über das Epos und die Homerismen. Yxem, Ueber Goethes idyllisches Epos Hermann und Dorothea, erschienen in von der Hagens Germania (Neues Jahrbuch der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache und Altertumskunde) Band 2, S. 98. Humboldt, Aesthetische Versuche, erster Teil, über Goethes Hermann und Dorothea, Braunschweig 1799, wiederabgedruckt in seinen gesammelten Werken Band 4, S. 1; die 4. Auflage der Einzelausgabe (Braunschweig 1882) enthält wertvolle geschichtliche Vorerinnerungen von Hettner; vgl. auch S. 5. 77. 95. 136. »In diesem Buche, das von dem Goetheschen Gedichte handeln will, verschwindet dasselbe als poetisches Individuum fast ganz unsern Augen und es wird in Weise Schillers, nur noch körper- und inhaltsloser, über Gattungen und Formen reflektiert und die Ueberlegung hin und her gewendet, ohne dass sich etwas Greifbares ergäbe ... Humboldts ... Anlage, die als Adel der Gesinnung und Idealität, aber auch als Eleganz und Kälte bezeichnet werden kann« Gedanken über Goethe S. 114. 226. Vorurteilsfreier und liebevoller wird Humboldts grosses Werk von Hettner in den oben erwähnten Vorerinnerungen gewürdigt, die in ihren Schlussbetrachtungen den richtigen Schlüssel für das Verständnis des Buches geben: es muss durchaus in festgefügtem Zusammenhang mit Humboldts sprachwissenschaftlichen und streng-philosophischen Ansichten betrachtet werden. Tieferes Verständnis irgend einer Seite von Humboldts Wesen und Leistungen ist ohne eingehende Verwertung von Steinthals unübertrefflichem Kommentar zu den sprachphilosophischen Werken (Berlin 1884) überhaupt unmöglich. Schillers Eindruck von Humboldts Werk ersieht man am besten aus seinem Briefe an Humboldt vom 27. Juni 1798 (Briefwechsel zwischen Schiller und Humboldt S. 297), den mir Hehn jedoch unrichtig in seiner Grundstimmung zu deuten scheint; Goethes Ansicht erhellt aus seinem Schreiben an Humboldt vom 16. Juli 1798 (Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdern von Humboldt S. 55). S. 4. Hillebrand, Die deutsche Nationalliteratur seit dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts, besonders seit Lessing, bis auf die Gegenwart handelt im 2. Bande S. 236 über unser Gedicht; vgl. auch S. 5. »Selbst Joseph Hillebrand, der von allen Literarhistorikern Goethe am tiefsten erkannte, hat sich von Gervinus nicht ganz freihalten können.... Wo Hillebrand selbst spricht, da ist er vortrefflich« Gedanken über Goethe S. 171, Anm. 2. Gervinus spricht über Hermann und Dorothea im 5. Bande seiner Geschichte der deutschen Dichtung S. 522; vgl. auch S. 5. 40. 131. »Er schrieb eine Geschichte der deutschen Dichtung, wie er sein Buch nannte, in nicht dichterischer, sondern moralisch-prosaischer Absicht, wo natürlich alle Grössenverhältnisse sich umkehrten. Er schätzte das jedesmalige poetische Produkt nicht nach seinem eigenen inneren Werte, auch nicht als Glied einer fortgehenden Entwicklung, sondern insofern es ein Mittel werden konnte die ästhetische Stimmung aufzuheben und statt des literarischen ein politisches Zeitalter mit Bürgerfreiheit und nationaler Grösse, wie er, Gervinus, sie konstruiert hatte, herbeizuführen.... Gervinus wurde eine viel studierte Autorität und mit seiner Doktrin, die Epoche der schönen Seelen sei vorüber und die des Heroismus angebrochen, neben den übrigen badischen und rheinischen Professoren der Führer in dem allgemeinen Umschwung. Und sieht man jetzt, nachdem ein halbes Jahrhundert darüber hingegangen, auf ihn zurück, so muss man bekennen, er war eigentlich ein beschränkter Querkopf, der sich selbst oft eigensinnig das Ziel verrückte; kein rechter Gelehrter, obwohl er als Literarhistoriker viel hatte lesen müssen; ursprünglich ein Kaufmann, und was dem fehlt, holt man bekanntlich nie wieder ein. Seine unharmonische Natur malte sich in dem unerträglich harten Stil: man legt seine Bücher mit dem Gefühl aus der Hand, als hätte man sich durch ein Dorngestrüpp durcharbeiten müssen und stünde nun mit zerrissenen Kleidern und zerzausten Haaren da; aber eben dadurch wuchs sein Ansehen, denn die schöne Form hat in Deutschland immer verdächtig gemacht« Gedanken über Goethe S. 165. 167. Es ist, als wenn Hehn nie Gervinus' herrliches Shakespearebuch gelesen hätte; sein Urteil ist mit Ausnahme der Stilbemerkung recht unbillig und ohne rechte Fühlung mit Gervinus' innerster Eigenart. Sympathischer und richtiger ist Hermann Grimms Urteil, der in seinem Goethe S. 90 eine Lanze für den Schöpfer unsrer Literaturgeschichte bricht; vgl. auch Scherer, Geschichte der deutschen Literatur S. 723. Hermann und Dorothea. S. 5. Das zitierte Urteil Schillers steht in seinem Briefe an Heinrich Meyer vom 21. Juli 1797 (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 1, S. 296 Spemann). S. 6. Rosenkranz, Goethe und seine Werke S. 346. Tag- und Jahreshefte von 1796: Goethes Werke Band 35, S. 65 Weimarische Ausgabe; vgl. auch S. 57. »Mit Rührung erinnere ich mich, wie uns Goethe in tiefer Herzensbewegung unter hervorquellenden Thränen den Gesang, der das Gespräch Hermanns mit der Mutter am Birnbaume enthält, gleich nach der Entstehung vorlas. So schmilzt man bei seinen eigenen Kohlen, sagte er, indem er sich die Augen trocknete,« berichtet Karoline von Wolzogen in ihrem Leben Schillers S. 225 Cotta, wiederabgedruckt in Goethes Gesprächen Band 1, S. 186. Jean Pauls Charakteristik wird auch S. 45 erwähnt. S. 11. Im neuen literarischen Anzeiger von 1807 bemerkt Jakob Grimm: »es ist ungereimt ein Epos erfinden zu wollen, denn jedes Epos muss sich selbst dichten, von keinem Dichter geschrieben werden«; die Stelle ist wiederabgedruckt in seinen kleinen Schriften Band 4, S. 10, Anm. 4;, vgl. auch S. 14. Wie wir heutzutage über dieses Grundprinzip Grimms zu denken haben, zeigt Scherer in seinem Jakob Grimm S. 145 und in seiner Poetik S. 133. S. 12. Hegel, Vorlesungen über Aesthetik Band 3, S. 332; vgl. auch S. 13. 45. 109. Bei Hegels Auftreten »öffnete sich ein unermesslicher Reichtum vor den trunkenen Blicken, die wiedergewonnene Heimat des Geistes, und vor der Wärme dieses neuaufgegangenen Frühlings schmolzen die starren hartnäckigen Trennungen des abstrahierenden Verstandes und der dualistischen Moral« Gedanken über Goethe S. 15. Hehns philosophische Ansichten sind durchgehends von Hegel beeinflusst (vgl. Dehio in Hehns Italien S. VI); auch seine in unsrem Werke ausgesprochenen allgemeinen Ansichten von Poesie und ihrer Entwicklung fussen überall auf dem Lebensboden der Hegelschen Aesthetik, dem greifbarsten und bleibendsten Werke des Philosophen; doch drängt sich nirgends der Anschluß an den verehrten Meister übermässig oder störend hervor; der genauer Vergleichende findet oft Aehnlichkeiten bis in den Ausdruck hinein. Vor unstatthafter Einmischung Hegelscher Dialektik bewahrte Hehn sein feines poetisches und menschliches Gefühl für die Gestalten und Formen Goethescher Dichtung. Herodot sagt im 2. Buche § 53 von Hesiod und Homer: [Greek: houtoi de eisi hoi poiêsantes theogoniên Hellêsi, kai toisi theoisi tas epônymias dontes kai timas te kai technas dielontes kai eidea autôn sêmênantes.] S. 13. Hegel, Vorlesungen über Aesthetik Band 3, S. 388. S. 20. Die homerischen Beispiele finden sich Odyssee Buch 19, Vers 392 und Ilias Buch 21, Vers 34. S. 23. Gemeint ist Herders Aufsatz im 5. Bande der Adrastea »Vom Langweiligen, das die Epopöe oft begleitet« sämtliche Werke Band 24, S. 284 Suphan. Ich verdanke den Nachweis der Freundlichkeit Bernhard Suphans. Mit der Natur der epischen Poesie beschäftigen sich noch einige Blätter aus Hehns Nachlaß, aus denen ich hier folgendes mitteilen möchte: »Das Epos hat mit der Plastik und deren Objektivität im Sinne sowohl des substanziellen Gehalts als auch der Darstellung in Form realer Erscheinung die meiste innere Verwandtschaft. Darum blühte beides in Griechenland. Die Welt der homerischen Gedichte ist in der schönen Schwebe zwischen den allgemeinen Lebensgrundlagen der Sittlichkeit in Familie, Staat, religiösem Glauben, Recht, und der individuellen Besonderheit des Charakters, in dem schönen Gleichgewicht zwischen Geist und Natur, zweckvoller Handlung und äußerem Vorgang, nationaler Basis der Unternehmungen und einzelnen Absichten und Thaten; die freie Bewegung einzelner Helden erscheint gemäßigt durch den Ernst des Schicksals und die Bestimmtheit der Zwecke. Daher auch die Naivetät der erscheinenden Göttergebilde, die ganz menschlich und es doch nicht ironisch sind. Das Epos, seines poetischen Gewands entkleidet, gibt dasjenige, was Geschichte in geistvoller Behandlung und Naturbeschreibung in ihrer größten Allgemeinheit gewährt, einen vollkommenen Ueberblick über die Menschheit und die Natur in ihrer Verbindung. Nur daß der Dichter nicht die Vollständigkeit der Objekte braucht, sondern mittelst eines einzelnen Objekts noch mehr leistet, da er das Gemüt in eine unendliche Stimmung versetzt. Der epische Dichter genießt die weiteste Aussicht; seine Dichtung ist am meisten fähig den Menschen mit dem Leben zu versöhnen. Das Epos gibt der Musik Gestalt, der Skulptur Bewegung und Sprache. Idyll heißt nicht bloß eine Dichtungsart, sondern eine Empfindungsweise. Die Idylle beschreibt einen Zustand, das Epos erzählt eine Handlung. Der Kampf individueller Charaktere, Zwecke und Leidenschaften mit den objektiven Mächten führt zur dramatischen Poesie. Das Epos fordert aber noch jene unmittelbare Einheit von Empfindung und Handlung, von inneren konsequent sich durchführenden Zwecken und äußeren Begebenheiten, eine Einheit, welche nur in den ersten Perioden des nationalen Lebens vorhanden ist. Indes ist die epische Kunst selbst später als jener naive unmittelbare Volkszustand, der unbefangen sich in seinem poetischen Dasein heimisch fühlt. Homer und Ossian folgen der von ihnen geschilderten Zeit. Dennoch muß der epische Dichter ganz in den geschilderten Verhältnissen und diesem Glauben stehen und er bringt nur die Kunst der Darstellung, das poetische Bewußtsein hinzu. Fehlt diese Verwandtschaft im Leben und Vorstellen, so wird das Gedicht disparat. Die Scheidung zwischen dem künstlerischen Geist und der geschilderten nationalen Wirklichkeit ist unangemessen und störend z. B. in Goethes Achilleis. Auf der einen Seite stehen die Szenen des vergangenen Weltzustandes, auf der andern Formen und Gesinnungen einer davon verschiedenen Gegenwart. Dadurch wird der frühere Glaube zu einer kalten Sache, einem Aberglauben, einem leeren Schmuck, einer bloßen sogenannten poetischen Maschinerie, der alle Lebendigkeit, aller Pulsschlag wahren Lebens, alle Seele abgeht. Der Weltzustand, in welchem das Epos entsteht, ist ein solcher, daß das allgemeine Leben zwar schon eine vorhandene Wirklichkeit ist, aber noch im engsten ursprünglichen Zusammenhang mit den Individuen, die dies allgemeine Leben bewußtlos als ihr eigenes Leben fühlen. Im Epos sollen nicht die Helden einen Gesamtzustand erst gründen, denn er fiele dann in das Gemüt und den Willen des Subjekts und erschiene nicht als objektiv vorhanden. Jedes Epos muß ein bestimmtes Volk schildern. Das Prinzip griechischen Geistes lernt man in lauterer Quelle aus Homer kennen. Zweierlei Art nationaler Wirklichkeit: positive spezielle Gebräuche und Substanz des Volksgeistes, die im Lauf der Zeit unverändert bleibt. Hermann und Thusnelda sind uns nicht mehr national, auch die Nibelungen können nicht mehr gefühlt werden. Die besondre Nationalität muß allgemein-menschliche Geltung haben. So haben Homers Gedichte ewige Gegenwart. Das indische Epos ist zu überwiegend spezifisch: das Menschliche kann nicht durchbrechen. Das Nibelungenlied hat inneres Mark. Auch in ihm ist substanzieller Gehalt in Bezug auf Familie, Gattenliebe, Vasallentum, Diensttreue, Heldenschaft; dennoch ist die ganze Kollision eher dramatisch und tragisch als episch. Die Darstellung hat keinen individuellen Reichtum, keine lebendige Anschaulichkeit; sie verliert sich ins Harte, Wilde, Grausame; die Charaktere gleichen in ihrer abstrakten Schroffheit mehr rohen Holzbildern, als daß sie der menschlich ausgearbeiteten geistvollen Individualität homerischer Personen vergleichbar wären. Die epische Begebenheit muß auf den Boden der sie umgebenden totalen Volksnatur gegründet sein, die individuelle That darf nicht mit dieser Natur in Gegensatz stehen. Das allgemeine Leben muß in so konkreten einzelnen Thaten aufgefaßt sein, daß daraus notwendig eine bestimmte Situation, bestimmte Zwecke und Handlungen, eine bestimmte Begebenheit hervorgeht. Die einzelne epische Handlung muß erstens individuell lebendig und bestimmt sein und zweitens epischen Charakter haben; drittens muß sie eine innere Notwendigkeit des Fortgangs haben, welche teils als Schicksal, teils als offenbare Leitung ewiger Göttermächte erscheint. Das epische Geschehen muß in die äußere Realität der umgebenden Welt eintreten und nicht bloß innerlich vorgesetzter Zweck des Individuums sein, welchen dieses in sich zur Realität bringt. Daher ist die epische Begebenheit nicht bloß Durchführung von Zwecken, sondern es treten in sie Umstände, Naturereignisse, Zufälle u. s. w. ein. Sie ist keine That streng genommen, sondern ein Geschehen. Sie muß eine ganz individuelle sein, daher nicht bloß Staat, Vaterland, Menschheit das Subjekt sind, sondern ein besonderer Held; trotzdem keine Biographie. Der epische Charakter muß eine Totalität von Zügen, ein ganzer Mensch sein; daher die Breite der Zeichnung nach allen Seiten hin, während im Drama das Pathos, die eine Richtung des Menschen beleuchtet ist und ihn ganz verschlingt. Als total und das Eigentümliche der Nation und Zeit in sich zusammenfassend haben diese Helden das Recht, an die Spitze gestellt zu sein. Die Nation konzentriert sich in ihnen zum Subjekt. Der epische Charakter geht nicht in seinem Zwecke auf; nicht seine Wirksamkeit, sondern was ihm begegnet, ist die Hauptsache. Der dramatische Charakter macht sich sein Schicksal selber, dem epischen wird es durch die Macht der Umstände gemacht. Das Drama kehrt das innere Recht der Handlung objektiv heraus, das Epos aber stellt das totale Dasein dar und diesem substanziellen Zustande folgt das Individuum und leidet demgemäß. Das Schicksal bestimmt, was geschieht. Die epische Gerechtigkeit richtet nicht die Person, wie die dramatische, sondern die Sache; daher ein Grundzug der Trauer. Die Notwendigkeit des Schicksals kann doppelt zur Darstellung gebracht werden. Der Dichter stellt entweder die Begebnisse hin und erklärt ihren Gang nicht durch das Mithandeln ewiger Göttermächte. Dennoch muß durch das Ganze sich die Empfindung durchdrängen, daß es sich nicht um das bloß Zufällige handelt, sondern die Geschicke in sich selbst begründet sind, ohne daß die dunkle Macht deshalb hervortritt, bestimmt individualisiert und in ihrer Thätigkeit poetisch vorgestellt wird. Hierher gehört das Nibelungenlied. Oder es erscheint eine vielgestaltige Götterwelt, welche eingreift. Zwischen Göttern und Menschen ist wechselseitige Selbständigkeit nötig. Die ersteren dürfen nicht leblose Abstraktionen, die Menschen nicht bloß willenlose Werkzeuge sein. Im Christentum haben die Engel und Genien zu wenig Körper. In Bezug auf die Götterwelt besonders ist der Unterschied künstlicher und ursprünglicher Epen wichtig: so bei Virgil und Homer. Die Anschauungsweise des Dichters und der dargestellten Welt bei Virgil ist nicht im Einklang: die Götter sind bloße Erdichtungen, künstliche Mittel, mit denen es nicht Ernst ist. Bei Homer schweben die Götter in dem magischen Licht zwischen Dichtung und Wahrheit: der Glaube an sie ist der Glaube an den substanziellen Gehalt, den sie repräsentieren. Gemacht sind auch Milton, Bodmer, Klopstock, Voltaire; überall Zwiespalt des Inhalts und der Reflexion des Dichters. Bei Klopstock spukt Wolffsche Metaphysik. Gottvater und die himmlischen Heerscharen sind gar nicht zur Individualisierung gemacht, wie die homerischen Götter. Klopstocks Welt ist bodenlos, seine Engel und Teufel leere Einbildung, Abbadonna, der bekehrte Teufel, eine absurde Inkonsequenz des Lasters, des personifizierten Lasters. Klopstock gefällt sich in unrealen Personen und Dingen, die nicht aus der wirklichen Welt und deren poetischem Gehalt herausgegriffen sind. Moralische Weltrichterschaft geht auf Allgemeines, während Dante bestimmte Personen verurteilt. Die Reden der Erzväter und biblischen Figuren stimmen schlecht mit der geschichtlichen Gestalt zusammen, in der wir sie kennen. Der historische Fond ist hier verflüchtigt, im ganzen Gedicht viel Hohles, Abstrakt-Verständiges und zum absichtlichen Gebrauch Herbeigeholtes. Das Epos muß Einheit und Rundung haben. Dadurch ist es ein Werk der freien Kunst, während die Wirklichkeit sich zerstreut, in einem endlosen Verlauf von Ursachen, Wirkungen und Folgen sich fortzieht. Das Epos blüht nur in Zeiten ruhigen Behagens, es stirbt in Zeiten drangvoller Arbeit, rapider Entwicklung. Mit der fortschreitenden Kultur ist zugleich Entzweiung gegeben, darum ist das Epos nicht die Kunstform zivilisierter Zeitalter. Das Epos floß aus Volksgesängen zusammen. Sobald eine größere Menge derselben gegeben, aufgeschrieben und gesammelt war, so kam von selbst die Aufforderung sie untereinander zu verbinden. Eine Zusammensetzung dieser Art fließt aus dem bestimmten Gedanken, um den sich die Teile fest verbinden, den sie halb dem epischen Dichter an die Hand geben, den dieser zur andern Hälfte selbst ausbildet. Diese Einheit, die man lächerlicherweise als einen Beweis gegen die volksmäßige Entstehung der großen Epen hat geltend machen wollen, ist die Grundbedingung jedes größeren in ein Ganzes geschlossenen Volksepos. Die epische Betrachtungsweise des Lebens ist gleich der antiken, der griechischen. Konzentration in allem Dichten und Treiben, Liebe des Ortes und Vaterlandes, Lebenslust, frohes Ergreifen der nahen Gegenwart, Einheitsliebe, Umfriedigung, Geschlossenheit, das Unendliche überall als eins und sich verwirklichend in dem Einzelnen und Endlichen und Individuellen. Bei den Neueren und den nordischen Völkern herrscht phantastische Ausschweifung, die Flucht in die Ferne, in das Endlose und in die jenseitige Zukunft. Die Tempel der Griechen sind in der schönsten Harmonie des Inneren und Aeußeren, mit einem Blick überschaubar; jeder gotische Dom ist mit riesenhafter Anlage begonnen, als ob er nie fertig werden sollte: theokratische Rundbogen, ritterliche Spitzbogen, industrielle Böden; ungeheure Türme, deren Einzelheiten dem Auge verschwinden, bei den Griechen Metopen und Skulpturen großartiger, um den Eindruck zu lassen, um alles einem Blick zu gewähren. Das Epos ist weder komisch noch tragisch: es spaltete sich nicht in diese zwei Zweige wie das Drama. Denn indem das Epos erzählt, was war, indem es auf ein altertümliches Heroengeschlecht gerichtet ist, ist es vorherrschend ernst, ruhig, heiter; das Drama, die Gegenwart darstellend, ist teils tragisch teils komisch, wie die Begebenheiten der bürgerlichen Welt. Das Epos und die naive Dichtung bleibt bei den geschilderten wirklichen Zuständen stehen, die sentimentale bezieht sich auf Ideen. Das Epos fällt in Zeiten, wo die Kraft der Phantasie lebendig ist, daß sie keiner Hilfe bedarf.« Die feinsinnigsten Bemerkungen über epische Poesie, besonders über Homer und seine Zeit, die letzthin erschienen sind, finden sich in Hermann Grimms herrlichem Buche über die Ilias, dessen Fortsetzung jeder echte Freund der Poesie mit Sehnsucht erwartet. Die Stelle Goethes an Schiller steht im Briefe vom 9. Dezember 1797 (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 1, S. 360 Spemann). S. 24. Ueber Goethes Nausikaa (Werke Band 10, S. 97. 406 Weimarische Ausgabe) vgl. Scherer, Aufsätze über Goethe S. 177. S. 25. Schiller urteilt über Goethe in seiner Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung: »Dieses gefährliche Extrem des sentimentalischen Charakters ist der Stoff eines Dichters geworden, in welchem die Natur getreuer und reiner als in irgend einem andern wirkt und der sich unter modernen Dichtern vielleicht am wenigsten von der sinnlichen Wahrheit der Dinge entfernt« (Sämtliche Schriften Band 10, S. 476 Goedeke). Der Goethesche Spruch in den Werken Band 2, S. 216 Weimarische Ausgabe. S. 26. Goethes Ausspruch über seine künstlerische Befähigung steht in der italienischen Reise unter dem Datum des 23. Februar 1788 (Werke Band 24, S. 474 Hempel); ein Originalbrief, der diese Worte enthielte, ist nicht vorhanden. Wahl des Stoffes. Warum kein politischer. S. 27. Die Aeusserung Lessings in einem Briefe an seinen Bruder Karl vom 11. November 1774 (Werke Band 20 Abteilung 1, S. 589 Hempel). Ueber Börnes Beziehungen zu Goethe handelt ausführlich Brandes, Das junge Deutschland S. 48; vgl. auch Gedanken über Goethe S. 164. 313. S. 32. Der Ausspruch Leibnizens (_dissertatio de stilo philosophico_ § 12) wird zitiert in Feuerbachs Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie S. 193. S. 33. Hehn verweist hier auf Prutz, Geschichte des deutschen Journalismus Band 1, S. 279. Ueber Thomasius vgl. Minors Aufsatz in der Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte Band 1, S. 1. Wertvolle historische Nachweise über das Deutsche als Universitätssprache enthält die Jenaer Doktorschrift von Hodermann, Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache um die Wende des 17. Jahrhunderts, Friedrichroda 1891, die leider viel zu wenig bekannt geworden ist. S. 36. Ueber die Anredeformeln, wie sie in Goethes Werken vorkommen, vgl. Gedanken über Goethe S. 274. S. 37. Mit der obigen guten Charakteristik Lessings vergleiche man die heissblütige Verkennung seines Verhältnisses zu Goethe in den Gedanken über Goethe S. 56. Wie kann man Lessing so verkennen und als Neid gegen Goethe auffassen, was doch nichts als eine leidige Voreingenommenheit seines Urteils in betreff des Werther und ein gut Teil Heterogeneität der Natur und Weltanschauung war! Auch Biedermanns Darstellung des Verhältnisses beider (Goethejahrbuch Band 1, S. 17) befriedigt nicht. S. 38. »Herder war keine harmonische Natur, sondern eigenwillig und ungleich, bald weich und freundlich, bald herzlos und ungerecht, von mehr dialektischem als konstruktivem Geiste, wie Goethe von ihm sagt« Gedanken über Goethe S. 14. S. 40. Das Urteil Pfizers in der Vorrede zu seinem Buche: Der Wälsche und der Deutsche, Aeneas Sylvius Piccolomini und Gregor von Heimburg, Stuttgart 1844. Gervinus' Auseinandersetzung über Schillers ästhetische Briefe in seiner Geschichte der deutschen Dichtung Band 5, S. 468. S. 41. Guhrauer, Goethe im Verhältnis zu Politik und Geschichte in Brans Minerva 1846 Band 4, S. 181; vgl. besonders S. 228. »Nicht Goethe, sondern Schiller war der poetisch vollendete Ausdruck des achtzehnten Jahrhunderts, der dreifach oder hundertfach erhöhte Klopstock; Goethe stand im tiefsten Gegensatz zu dem Geiste desselben und seine Dichtung begleitete dessen Phasen und Epochen keineswegs, wie öfter mit Unrecht behauptet worden« Gedanken über Goethe S. 109. Goethes Aeusserung über Zeitungen im 17. Buch von Dichtung und Wahrheit (Werke Band 29, S. 69 Weimarische Ausgabe). S. 43. Für die Ehrfurcht vor Höheren verweist Hehn auf Riemer, Mitteilungen über Goethe Band 1, S. 155. S. 45. »Und was anders ist der Sinn der ganzen Dichtung von Hermann und Dorothea, als dass in wilder Zeit, in der Auflösung alles Gewordenen, doch die heilende Naturkraft sich bewährt und in Haus und Besitz, in Stiftung der Familie, in begrenztem Dasein und wiederkehrender, sich bescheidender Thätigkeit die ewige Ordnung unzerstörbar ist?« Gedanken über Goethe S. 239. Humboldts Charakteristik der bürgerlichen Epopöe findet sich in § 77 seiner Schrift über Hermann und Dorothea (S. 154 der 4. Auflage; gesammelte Werke Band 4, S. 205). Hegel, Vorlesungen über Aesthetik Band 1, S. 238. S. 46. Ueber Goethes Beziehungen zur französischen Revolution handelt Hehn ausführlich in den Gedanken über Goethe S. 93. S. 47. Das Zitat aus Schillers Distichon »Das Höchste« (Sämtliche Schriften Band 11, S. 74 Goedeke). S. 48. Dahlmann, Geschichte der französischen Revolution S. 9. S. 50. Ueber Rafael und Goethe vgl. Hermann Grimm, Goethe S. 183. S. 51. Ueber Voltaires Schätzung durch Goethe vgl. Hermann Grimm, Goethe S. 48. Stoffquelle, Entstehung und Aufnahme. S. 52. Ein Aufsatz »Ueber den mutmasslichen Stoff zu Goethes Hermann und Dorothea« erschien im Morgenblatt 1809 Nr. 138. Panse, Geschichte der Auswanderung der evangelischen Salzburger im Jahre 1732, Leipzig 1827. Yxem, Ueber die Quelle des idyllischen Epos Hermann und Dorothea von Goethe, erschienen in von der Hagens Germania (Neues Jahrbuch der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache und Altertumskunde) Band 2, S. 137. S. 55. Goethes Aeusserung an Heinrich Meyer in einem Briefe vom 28. April 1797 (Riemer, Briefe von und an Goethe S. 51). S. 56. Schillers Brief an Körner ist vom 28. Oktober 1796 (Briefwechsel Schillers mit Körner Band 3, S. 374); aus demselben Briefe ist auch das Zitat S. 57. S. 57. Die Rezension steht in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und freien Künste Band 61, S. 230. 260, wiederabgedruckt bei Braun, Goethe im Urteile seiner Zeitgenossen Band 2, S. 306; vgl. auch S. 66. Im allgemeinen vgl. über die Aufnahme von Hermann und Dorothea beim Publikum Gedanken über Goethe S. 99. Die Elegie Hermann und Dorothea steht in Goethes Werken Band 1, S. 293 Weimarische Ausgabe, Anmerkungen dazu in Goethes Gedichten Band 1, S. 431 Loeper. S. 59. Schillers Brief ist vom 9. Dezember 1796 (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 1, S. 229 Spemann) Ort und Zeit. S. 61. Ueber den süddeutschen Charakter vgl. auch Gedanken über Goethe S. 18. S. 63. Die ciceronianische Stelle findet sich _de oratore_ Buch 1, § 28 und lautet: _nam me haec tua platanus admonuit, quae non minus ad opacandum hunc locum patulis est diffusa ramis quam illa, cujus umbram secutus est Socrates, quae mihi videtur non tam ipsa aquula, quae describitur, quam Platonis oratione crevisse_. Grimm, Deutsche Rechtsaltertümer S. 796. Die beiden Parzivalstellen sind 162, 8 und 185, 28 Lachmann. S. 64. Die Stelle aus Gottfried von Strassburgs Tristan steht 420, 23 Massmann. S. 65. Hochsommer: vgl. Gedanken über Goethe S. 307. Gang der Fabel. S. 66. Homers Hymnus auf Apollo Vers 189. Goethes Aeusserung über den rhapsodischen Vortrag findet sich in der mit Schiller gemeinsam redigierten Arbeit »Ueber epische und dramatische Dichtung« (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 1, S. 368 Spemann). S. 70. Die Stellen in der Campagne in Frankreich sind Aufzeichnungen vom 4. und 11. Oktober 1792 (Werke Band 25, S. 82. 94 Hempel). S. 71. [Greek: biodôros aia] Sophokles' Philoktet Vers 1138; vgl. auch Gedanken über Goethe S. 298. S. 77. Humboldt handelt vom Wunderbaren im Epos in § 41 seines Buches über Hermann und Dorothea (S. 86 der 4. Auflage; gesammelte Werke Band 4, S. 114). S. 84. Goethes Brief an Schiller, worin er des Friedensschlusses gedenkt, ist vom 13. Mai 1797 (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 1, S. 275 Spemann). Charaktere. S. 88. Die Schilderung von Hermanns Charakter ist fast wörtlich schon in den Gedanken über Goethe S. 237 verwertet. S. 91. Ueber die öfter aufgeworfene Frage, ob der Pfarrer Katholik oder Protestant sei, äussert sich sehr richtig Hehn folgendermassen: »Ob der Pfarrer in Hermann und Dorothea ein katholischer oder protestantischer Geistlicher ist und ob er Messe liest oder eine Predigt hält, bleibt bei der hohen und freien Religiosität, die ihn in Thun und Reden leitet, unentschieden: doch könnte die Erwähnung des Tedeums, wo zur Orgel die Glocke tönt, und der Umstand, dass nirgends seiner Familie gedacht ist, mehr für das erstere sprechen; hinwiederum ist er aber auch Mentor eines jungen Barons in Strassburg gewesen, also wie Lenz und Herder, und mit solchem Amt pflegt der lutherische Kandidat seine Laufbahn zu beginnen« (Gedanken über Goethe S. 34). S. 94. Hier ist zu erwähnen, dass das Urbild der Dorothea nach Bielschowskys Ansicht (Die Urbilder zu Hermann und Dorothea: Preussische Jahrbücher Band 60, S. 335; vgl. auch Band 69, S. 666) Goethes frühere Geliebte Lili sein soll, deren Schicksale bei ihrer Flucht vor den eindringenden Franzosen Goethe verwertet habe. Mir sind Bielschowskys Argumente in keiner Weise überzeugend. S. 95. Humboldts Tadel dieses Motivs findet sich in § 34 seines Buches über Hermann und Dorothea (S. 69 der 4. Auflage; Gesammelte Werke Band 4, S. 92); vgl. auch Goethes Gespräche Band 7, S. 37. S. 97. Ueber das Typisch-homerische in unserm Gedicht handelt Hehn auch Gedanken über Goethe S. 201. [Greek: Patros g' hode pollon ameinôn] Ilias Buch 6, Vers 479. S. 100. Goethes Aeusserung an Meyer ist aus einem Briefe von 28. April (Riemer, Briefe von und an Goethe S. 51), die an Schiller aus einem Briefe vom 8. April 1797 (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 1, S. 258 Spemann). Sitten und Lebenssphäre. S. 104. Ausführlich handelt Hehn über Goethes poetische Verwertung des Bürgertums in den Gedanken über Goethe S. 234. Die Homerstelle lautet (Ilias Buch 18, Vers 558): [Greek: kêrykes d' apaneuthen hypo drui daita penonto, boun d' hiereusantes megan amphepon, hai de gynaikes deipnon erithoisin leuk' alphita polla palynon.] S. 106. Ueber frühe Ehe bei Goethe vgl. Gedanken über Goethe S. 220. S. 108. Der ganze Abschnitt vom Freiwerben in früherer Zeit steht fast wörtlich so auch in den Gedanken über Goethe S. 246. S. 109. Hegel, Philosophie des Rechts § 162; vgl. Gedanken über Goethe S. 247. Ueber die Sonntagserholungen der Bürger bei Goethe vgl. Gedanken über Goethe S. 250. S. 110. Ueber Sentenzen als ethischen Ausdruck des Bürgertums vgl. Gedanken über Goethe S. 241. S. 113. Ueber die Geltung der Nachbarschaft in Goethes Werken vgl. Gedanken über Goethe S. 243. Der Endabschnitt steht fast wörtlich in den Gedanken über Goethe S. 253. Diktion. S. 119. Das Distichon aus Goethes Gedicht »Der neue Pausias und sein Blumenmädchen« (Werke Band 1, S. 273 Weimarische Ausgabe). S. 120. Ueber Goethes Schilderungen der Wirkung des Mondlichts vgl. Gedanken über Goethe S. 291. S. 123. Reineke Fuchs Gesang 1, Vers 15. S. 124. Grimm, Deutsche Grammatik Band 4, S. 146. S. 125. Die ironische Färbung der antikisierenden Sprache, die auch S. 127 behauptet wird, möchte ich in Abrede stellen trotz Hehns Ausspruch: »Wohl aber, wie so oft bei Goethe, bewirkt die Wahrheit des Tones, dass über die Erzählung wie ein leichter ironischer Hauch hinzuschweben scheint« (Gedanken über Goethe S. 71). Virgil, Aeneis Buch 1, Vers 148. S. 126. Cicero, Laelius § 62. In Xenophons Memorabilien Buch 2, Kapitel 4, § 4 heisst es: [Greek: eti de pros toutois horan ephê tous pollous tôn men allôn ktêmatôn kai pano pollôn autois ontôn to plêthos eidotas, tôn de philôn oligôn ontôn to plêthos agnoountas.] Die Homerstelle steht Ilias Buch 2 Vers 484, Buch 11 Vers 218, Buch 14 Vers 508, Buch 16 Vers 112. S. 127. Goethes Aeusserung über die Gleichnisse in seinem Gedicht in einem Briefe an Schiller vom 23. Dezember 1797 (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 1, S. 370 Spemann). Die beiden in die Rede verflochtenen Gleichnisse sind Gesang 1 Vers 176: Denn wer erkennet es nicht, dass seit dem schrecklichen Brande, Da er so hart uns gestraft, er uns nun beständig erfreut hat Und beständig beschützt, so wie der Mensch sich des Auges Köstlichen Apfel bewahrt, der vor allen Gliedern ihm lieb ist; und Gesang 3 Vers 9: Soll doch nicht als ein Pilz der Mensch dem Boden entwachsen Und verfaulen geschwind an dem Platze, der ihn erzeugt hat, Keine Spur nachlassend von seiner lebendigen Wirkung. Die Homerstelle steht Odyssee Buch 14 Vers 55. 165. 360. 442. 507, Buch 16 Vers 60. 135. 464, Buch 17 Vers 272. 311. 380. 512. 579. Vers. S. 129. Für dies ganze Kapitel verweise ich auf Hehns äusserst anregende Abhandlung »Einiges über Goethes Vers« im Goethejahrbuch Band 6, S. 176. Die bessernde Arbeit, die Goethe in metrischer und stilistischer Hinsicht seinem Epos angedeihen liess, wird erst nach Erscheinen des unser Gedicht enthaltenden Bandes der Weimarischen Ausgabe klar und eingehend beurteilt werden können; einstweilen orientiert Schreyers Abhandlung »Goethes Arbeit an Hermann und Dorothea« im Goethejahrbuch Band 10, S. 196. S. 131. Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung Band 4, S. 132. Ueber den Anfang des deutschen Hexameters vgl. Wackernagel, Geschichte des deutschen Hexameters und Pentameters bis auf Klopstock, Berlin 1831, wiederabgedruckt in seinen kleineren Schriften Band 2, S. 1; ferner Martins Aufsatz in der Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte Band 1, S. 98. S. 132. Voss, Zeitmessung der deutschen Sprache S. 13. S. 134. Bei Platens Tadel über die weimarischen Hexameter verweist Hehn auf Nr. 99 der Deutschen Jahrbücher von 1841. Die beiden Homerverse stehen Odysee Buch 11 Vers 598. 596. S. 135. Voss, Zeitmessung der deutschen Sprache S. 127. S. 136. Humboldts Bemerkung steht in § 102 seiner Schrift über Hermann und Dorothea (S. 201 der 4. Auflage; gesammelte Werke Band 4, S. 266) S. 138. Der Bericht Goethes an Schiller in seinen Briefen vom 8. und 15. April 1797 (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 1, S. 257. 260 Spemann). Humboldts prosodische Bemerkungen stehen in seinen Briefen an Goethe vom 6. und 30. Mai 1797 (Goethes Briefwechsel mit den Gebrüdern von Humboldt S. 32; Goethejahrbuch Band 8, S. 67). Riemer, Mitteilungen über Goethe Band 2, S. 586. Andre deutsche Epen (Luise von Voss, Messias von Klopstock) zur Vergleichung. S. 139. Ueber Vossens Luise vgl. noch Gedanken über Goethe S. 228. Andre Urteile Niebuhrs zitiert Hehn in den Gedanken über Goethe S. 103. 132. Goethe schreibt an Schiller am 28. Februar 1798: »Mein Gedicht scheint, wie ich aus diesen Nachrichten sehe, Voss nicht so wohlthätig als mir das seine. Ich bin mir noch recht gut des reinen Enthusiasmus bewusst, mit dem ich den Pfarrer von Grünau aufnahm, als er sich zuerst im Merkur sehen lies, wie oft ich ihn vorlas, so dass ich einen grossen Teil davon noch auswendig weiss, und ich habe mich sehr gut dabei befunden, denn diese Freude ist am Ende doch produktiv bei mir geworden, sie hat mich in diese Gattung gelockt, den Hermann erzeugt, und wer weiss was noch daraus entstehen kann. Dass Voss dagegen mein Gedicht nur _se defendendo_ geniesst, thut mir sehr leid für ihn. Denn was ist dann an unserm ganzen bisschen Poesie, wenn es uns nicht belebt und uns für alles und jedes, was gethan wird, empfänglich macht? Wollte Gott, ich könnte wieder von vorn anfangen und alle meine Arbeiten als ausgetretene Kinderschuhe hinter mir lassen und was Besseres machen« (Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe Band 2, S. 51 Spemann). S. 140. Schiller, Sämtliche Schriften Band 10, S. 489 Anmerkung Goedeke. Vossens Brief an Gleim in seinen Briefen Band 2, S. 339; ebenda S. 340 Anmerkung steht Gleims oben zitiertes Gedicht. S. 143. »Die Ehrbarkeit und die theologische Dogmatik, das gestalt- und inhaltlose Kraftgefühl, der Schwung in die Leere des Erhabenen, die Spannung zwischen Geist und Sinn, die Versenkung in dunkle Zusammenklänge, die grübelnde Gewaltsamkeit gegen die Sprache, die Thränen der Schwermut um nichts, der persönliche Ernst statt der offenen Hingabe an Welt und Leben, dies waren die Eigenschaften, die das sächsische Deutschland an dem Sänger des Messias und der Oden entzückten und ihm begeisterte Jünger zuführten«, Gedanken über Goethe S. 11; vgl. auch daselbst S. 61. S. 146. Goethes Gedicht »Die Kränze« steht in den Werken Band 2, S. 136 Weimarische Ausgabe; Anmerkungen dazu in Goethes Gedichten Band 1, S. 400 Loeper. Schlegels Ausspruch über Vossens Luise steht im Athenäum 1798 (Gedanken über Goethe S. 229). _Jena_, 20. Juli 1893. Albert Leitzmann. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.