Project Gutenberg's Geschichte der Philosophie im Islam, by T. J. de Boer This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Geschichte der Philosophie im Islam Author: T. J. de Boer Release Date: May 7, 2017 [EBook #54679] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE IM ISLAM *** Produced by Jeroen Hellingman and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net/ for Project Gutenberg (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive/American Libraries.) GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE IM ISLAM von T. J. DE BOER. STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF). 1901. VORWORT. Nach der vortrefflichen Skizze Munk's [1] ist dies der erste Versuch, die Geschichte der Philosophie im Islam im Zusammenhang vorzuführen. Ein neuer Anfang also, kein Abschluss möchte meine Arbeit sein. Nicht Alles, was auf diesem Gebiete vorgearbeitet, ist mir bekannt geworden und nicht alles Bekannte war mir zugänglich. Handschriftliches konnte nur ausnahmsweise benutzt werden. Der Darstellung wegen sind die Quellenbelege zurückgehalten. Nur wenn ich etwas fast wörtlich oder ohne Nachprüfung herübergenommen habe, ist das in den Noten bemerkt worden. Übrigens bedauere ich sehr, dass es jetzt nicht gehörig zur Anschauung kommen kann, was ich, für das Verständnis der Quellen, Männern wie Dieterici, de Goeje, Goldziher, Houtsma, Aug. Müller, Munk, Nöldeke, Renan, Snouck Hurgronje, Steinschneider, van Vloten und vielen, vielen anderen verdanke. Erst nach Abschluss dieser Arbeit ist eine interessante, auch über die Vorgeschichte der Philosophie im Islam sich verbreitende Monographie über Ibn Sina erschienen. [2] Sie gibt mir aber keine Veranlassung, meine Auffassung im ganzen zu ändern. Für alles Bibliographische verweise ich auf die Orientalische Bibliographie, Brockelmann's Geschichte der Arabischen Litteratur und die Litteraturnachweise bei Überweg-Heinze. Bei der Umschreibung arabischer Namen habe ich mehr auf Tradition und deutsche Aussprache als auf Konsequenz geachtet. Es sei nur bemerkt, dass das z als weiches s zu sprechen, und das th wie das englische. Im Personenregister bezeichnen Accente die Länge. So viel wie möglich hab' ich mich auf den Islam beschränkt. Deshalb sind Ibn Gebirol und Maimonides nur im Vorbeigehen genannt, andere jüdische Denker ganz übergangen, obgleich sie, philosophisch betrachtet, dem muslimischen Bildungskreise angehören. Der Schaden ist aber nicht gross. Denn über die jüdischen Philosophen ist schon viel geschrieben worden, während man bis jetzt die muslimischen Denker sehr vernachlässigt hat. Groningen (Niederlande). T. J. de Boer. INHALTSÜBERSICHT. Seite I. Zur Einleitung. 9-33 1. Der Schauplatz 9 1. Das alte Arabien. 2. Die ersten Chalifen. Medina. Schiiten. 3. Die Omajjaden. Damaskus, Basra und Kufa. 4. Die Abbasiden. Bagdad. 5. Kleinstaaterei. Fall des Chalifates. 2. Orientalische Weisheit 13 1. Semitische Spekulation. 2. Persische Religion. Zrwanismus. 3. Indische Weisheit. 3. Griechische Wissenschaft 17 1. Die Syrer. 2. Die christlichen Kirchen. 3. Edessa und Nisibis. 4. Harran. 5. Gondeschapur. 6. Syrische Übersetzungen. 7. Die Philosophie bei den Syrern. 8. Arabische Übersetzungen. 9. Die Philosophie der Übersetzer. 10. Umfang der Überlieferung. 11. Fortsetzung des Neuplatonismus. 12. Das Buch vom Apfel. 13. Die Theologie des Aristoteles. 14. Aufnahme des Aristoteles. 15. Die Philosophie im Islam. II. Philosophie und arabisches Wissen 34-68 1. Die Sprachwissenschaft 34 1. Die verschiedenen Wissenschaften. 2. Die arabische Sprache. Der Koran. 3. Die Grammatiker von Basra und Kufa. 4. Logische Grammatik. Metrik. 5. Sprachwissenschaft und Philosophie. 2. Die Pflichtenlehre 38 1. Tradition und Freiheit. 2. Die Analogie. 3. Inhalt und Stellung der Pflichtenlehre. 4. Ethik und Politik. 3. Die Glaubenslehre 42 1. Christliche Dogmatik. 2. Der Kalam. 3. Die Mutaziliten und ihre Gegner. 4. Menschliches und göttliches Wirken. 5. Gottes Wesen. 6. Offenbarung und Vernunft. 7. Abu-l-Hudhail. 8. Nazzam. 9. Dschahiz. 10. Muammar und Abu Haschim. 11. Aschari. 12. Der atomistische Kalam. 13. Die Mystik. 4. Litteratur und Geschichte 63 1. Die Litteratur. 2. Abu-l-Atahia. Mutanabbi, Abu-l-Ala. Hariri. 3. Geschichtliche Überlieferung. 4. Masudi und Muqaddasi. III. Die pythagoreische Philosophie 69-89 1. Die Naturphilosophie 69 1. Die Quellen. 2. Die mathematischen Disziplinen. 3. Die Naturwissenschaften. 4. Die Medizin. 5. Razi. 6. Die Dahriten. 2. Die treuen Brüder von Basra 76 1. Die Karmaten. 2. Die Brüder und ihre Encyklopädie. 3. Eklektizismus. 4. Das Wissen. 5. Die Mathematik. 6. Die Logik. 7. Gott und Welt. 8. Die menschliche Seele. 9. Religionsphilosophie. 10. Die Ethik. 11. Wirkung der Encyklopädie. IV. Die neuplat. Aristoteliker des Ostens 90-137 1. Kindi 90 1. Sein Leben. 2. Verhältnis zur Theologie. 3. Die Mathematik. 4. Gott, Welt, Seele. 5. Die Lehre vom Nus. 6. Kindi als Aristoteliker. 7. Die Schule Kindis. 2. Farabi 98 1. Die Logiker. 2. Farabis Leben. 3. Verhältnis zu Platon und Aristoteles. 4. Die Philosophie. 5. Die Logik. 6. Das Seiende. Gott. 7. Die Himmelwelt. 8. Die irdische Welt. 9. Die menschliche Seele. 10. Der Geist im Menschen. 11. Die Ethik. 12. Die Politik. 13. Das zukünftige Leben. 14. Rückblick. 15. Wirkungen seiner Philosophie. Sidschistani. 3. Ibn Maskawaih. 116 1. Seine Stellung. 2. Das Wesen der Seele. 3. Prinzipien der Ethik. 4. Ibn Sina 119 1. Sein Leben. 2. Das Werk. 3. Philosophische Wissenschaften. Die Logik. 4. Metaphysik und Physik. 5. Anthropologie und Psychologie. 6. Die Vernunft. 7. Allegorische Darstellung der Vernunftlehre. 8. Geheimlehre. 9. Ibn Sinas Zeit. Beruni. 10. Behmenjar. 11. Das Fortleben Ibn Sinas. 5. Ibn al-Haitham 133 1. Der Zug nach Westen. 2. Ibn al-Haithams Leben und Werke. 3. Wahrnehmung und Erkenntnis. 4. Nachwirkung. V. Der Ausgang der Philosophie im Osten 138-152 1. Gazali 138 1. Dialektik und Mystik. 2. Gazalis Leben. 3. Stellung zu seiner Zeit. 4. Die Welt. 5. Gott und Vorsehung. 6. Der Mensch. 7. Gazalis Theologie. 8. Erfahrung und Offenbarung. 9. Rückblick. 2. Die Kompendienschreiber 150 1. Stellung der Philosophie. 2. Philosophische Bildung. VI. Die Philosophie im Westen 153-176 1. Die Anfänge 153 1. Die Omajjadenzeit. 2. Das elfte Jahrhundert. 2. Ibn Baddscha 156 1. Die Almoraviden. 2. Ibn Baddschas Leben. 3. Charakteristik. 4. Logik und Metaphysik. 5. Seele und Geist. 6. Der einzelne Mensch. 3. Ibn Tofail 160 1. Die Almohaden. 2. Ibn Tofails Leben. 3. Hai ibn Jaqzan. 4. Hai und die Entwicklung der Menschheit. 5. Hai's Ethik. 4. Ibn Roschd 165 1. Sein Leben. 2. Ibn Roschd und Aristoteles. 3. Logik. Erkenntnis der Wahrheit. 4. Die Welt und Gott. 5. Körper und Geist. 6. Geist und Geister. 7. Rückblick. 8. Praktische Philosophie. VII. Zum Schluss 177-188 1. Ibn Chaldun 177 1. Die Zeitverhältnisse. 2. Das Leben Ibn Chalduns. 3. Philosophie und Welterfahrung. 4. Geschichtsphilosophie. Historische Methode. 5. Gegenstand der Geschichte. 6. Charakteristik. 2. Die Araber und die Scholastik 184 1. Politische Lage. Die Juden. 2. Palermo und Toledo. 3. Die Araber in Paris. I. ZUR EINLEITUNG. 1. Der Schauplatz. 1. Von alters her war, wie heutzutage, die arabische Wüste der Tummelplatz unabhängiger Beduinenstämme. Mit freiem, gesundem Sinn blickten diese in ihre einförmige Welt hinein, deren höchster Reiz der Beutezug, deren geistiger Schatz die Stammesüberlieferung war. Weder die Errungenschaften geselliger Arbeit noch die Gaben schöner Muße waren ihnen bekannt. Nur an den Rändern der Wüste wurde, in Staatenbildungen, die oft von den Überfällen jener Beduinen zu leiden hatten, eine höhere Stufe der Gesittung erreicht. So war es im Süden, wo in christlicher Zeit unter abyssinischer oder persischer Oberhoheit das alte Reich der Königin von Saba fortbestand. Im Westen lagen an einer alten Handelsstraße Mekka und Medina (Jathrib), und besonders Mekka mit seinem Markte im Schutze eines Tempels war ein Mittelpunkt regen Verkehrs. Im Norden endlich hatten sich zwei halbsouveräne Staaten unter arabischen Fürsten gebildet: gegen Persien hin das Reich der Lachmiden in Hira und gegen Byzanz der Gassaniden Herrschaft in Syrien. Aber in Sprache und Poesie stellte sich schon vor Mohammed einigermaßen die Einheit der arabischen Nation dar. Die Dichter waren die Wissenden ihres Volkes. Ihre Zaubersprüche galten zunächst den Stämmen als Orakel. Doch ging ihre Wirkung wohl oft über den eigenen Stamm hinaus. 2. Mohammed und seinen nächsten Nachfolgern, Abu Bekr, Omar, Othman und Ali (622-661) ist es nun gelungen, die freien Wüstensöhne zusammen mit den gesitteteren Bewohnern der Küstenstriche für ein gemeinsames Unternehmen zu begeistern. Diesem Ereignis verdankt der Islam seine Weltstellung. Denn Allah zeigte sich groß und für die Ihm sich Ergebenden (Muslime) war die Welt gar klein. In kurzer Zeit wurde ganz Persien erobert und verlor das oströmische Reich seine schönsten Provinzen: Syrien und Ägypten. Medina war der Sitz der ersten Chalifen oder Stellvertreter des Propheten. Aber Mohammeds tapferer Schwiegersohn, Ali, und dessen Söhne unterlagen Moawia, dem klugen Statthalter von Syrien. Seit der Zeit besteht die Partei des Ali (Schiiten), die unter mancherlei Wandlungen, bald unterworfen, bald an einzelnen Stellen zur Herrschaft gelangt, ihr Wesen in der Geschichte treibt, bis sie sich (1502) im persischen Reich endgültig gegen den sunnitischen Islam abschließt. In ihrem Kampfe gegen die weltliche Macht haben die Schiiten sich aller möglichen Waffen, auch der Wissenschaft bedient. Schon früh erscheint unter ihnen die Partei der Kaisaniten, die dem Ali und seinen Erben eine übermenschliche Geheimwissenschaft zuschreibt, ein Wissen, mit dessen Hilfe der innere Sinn der göttlichen Offenbarung erst klar werde, das aber auch von seinen Adepten nicht weniger Glauben und unbedingten Gehorsam gegen die Träger solchen Wissens erfordert als der Buchstabe des Korans. (Vgl. III, 2 § 1.) 3. Nach dem Siege Moawias, der Damaskus zur Hauptstadt des muslimischen Reiches machte, lag die Bedeutung Medinas hauptsächlich auf geistigem Gebiete. Es musste sich damit begnügen, zum Teil unter jüdischen und christlichen Einflüssen, die Wissenschaft des Gesetzes und der Tradition zu pflegen. In Damaskus aber führten die Omajjaden (661-750) ihr weltliches Regiment. Unter ihrer Herrschaft dehnte sich das Reich vom atlantischen Meere bis über die Grenzen Indiens und Turkestans aus, vom südlichen Meere bis an den Kaukasus und vor die Mauern von Konstantinopel. Damit war aber auch die weiteste Ausdehnung erreicht. Araber nahmen jetzt überall die führende Stellung ein. Sie bildeten eine militärische Aristokratie und der schlagendste Beweis für ihren Einfluss ist dies, dass unterworfene Völker mit alter, überlegener Kultur die Sprache der Sieger annahmen. Die arabische Sprache wurde die Sprache des Staates und der Religion, der Poesie und der Wissenschaft. Während aber die hohen Staats- und Militärämter vorzugsweise von Arabern verwaltet wurden, blieb es zunächst Nichtarabern und Mischlingen überlassen, Künste und Wissenschaften zu pflegen. In Syrien ging man bei Christen in die Schule. Die Hauptstätten geistiger Bildung aber wurden Basra und Kufa, in denen Araber und Perser, Muslime, Christen, Juden und Magier zusammenstießen. Dort, wo Handel und Gewerbe aufblühten, sind, unter hellenistisch-christlichen und persischen Einflüssen entstanden, die Anfänge weltlicher Wissenschaft im Islam zu suchen. 4. Den Omajjaden folgten die Abbasiden (750-1258) nach. Diese machten, um zur Herrschaft zu gelangen, dem Persertum Konzessionen und benutzten religiös-politische Bewegungen. Nur in dem ersten Jahrhundert ihrer Regierung (bis etwa 860) mehrte oder hielt sich noch die Größe des Reiches, als dessen Mittelpunkt Mansur, der zweite Herrscher dieses Hauses, im Jahre 762 Bagdad gründete, eine Stadt, die bald an weltlichem Glanze Damaskus und als Leuchte des Geistes Basra und Kufa überstrahlte. Nur mit Konstantinopel war sie zu vergleichen. In Bagdad, an dem Hofe Mansurs (754-775), Haruns (786-809), Mamuns (813-833) u. s. w. fanden sich, besonders aus den nordöstlichen Provinzen, Dichter und Gelehrte zusammen. Mehrere Abbasiden liebten weltliche Bildung, sei es an sich oder zur Ausschmückung ihres Hofes, und wenn sie oft auch den Wert der Künstler und Gelehrten nicht erkannt haben mögen, so wussten doch diese die materiellen Güter ihrer Herren wohl zu schätzen. Wenigstens seit der Zeit Haruns bestand in Bagdad eine Bibliothek und eine Gelehrtenanstalt. Schon unter Mansur, besonders aber unter Mamun und seinen Nachfolgern, wurde dann die wissenschaftliche Litteratur der Griechen, meistens durch syrische Vermittelung, in die arabische Sprache übertragen. Auch Kompendien und Erläuterungen dazu wurden verfasst. Als diese gelehrte Arbeit ihren höchsten Aufschwung nahm, war die Herrlichkeit des Reiches im Niedergang begriffen. Die alten Stammesfehden, die unter den Omajjaden nie geruht hatten, waren scheinbar einer festgefügten Einheit des Staates gewichen. Aber es dauerten in verschärftem Maße andere Streitigkeiten fort, theologische und metaphysische Zänkereien, wie sie ähnlich den Verfall des oströmischen Reiches begleiteten. Der Staatsdienst brauchte in der orientalischen Despotie nur wenig befähigte Köpfe. Viele junge Kräfte gingen im üppigen Genusse unter, andere verfielen auf Wortkünstelei und Scheingelehrsamkeit. Zur Verteidigung des Reiches dagegen zog man die frische Kraft weniger überbildeter Völker heran: zuerst iranische oder iranisierte Chorasaner, darauf Türken. 5. Immer deutlicher zeigte sich des Reiches Verfall. Die Machtstellung des Türkenheeres, Aufstände städtischen Pöbels und ländlicher Arbeiter, schiitische und ismaelitische Umtriebe überall, dazu die Selbständigkeitsgelüste der entfernten Provinzen waren entweder die Ursachen oder die Symptome des Untergangs. Neben dem Chalifen, der zum geistlichen Würdenträger herabsank, herrschten die Türken als Hausmeier. Und an der Peripherie entstanden nach und nach selbständige Staaten, bis zu einer ganz entsetzlichen Kleinstaaterei. Die wichtigsten, mehr oder weniger unabhängigen Herrscher waren im Westen, abgesehen von den spanischen Omajjaden (vgl. VI, 1), die Aglabiden Nordafrikas, die Tuluniden und Fatimiden Ägyptens und die Hamdaniden Syriens und Mesopotamiens; im Osten die Tahiriden und Samaniden, allmählich von den Türken verdrängt. An den Höfen dieser kleinen Dynastien sind in der nächsten Zeit (10. und 11. Jahrh.) die Dichter und Gelehrten zu finden. Mehr als Bagdad machen sich auf kurze Zeit Haleb (Aleppo), der Sitz der Hamdaniden, und auf längere Zeit Kairo, im Jahre 969 von den Fatimiden erbaut, als Heimstätten geistiger Bestrebungen geltend. Im Osten glänzt noch einen Augenblick der Hof des Türken Machmud von Ghazna, der seit dem Jahre 999 Herr von Chorasan war. In diese Zeit der Kleinstaaterei und der Türkenwirtschaft fällt auch die Gründung der muslimischen Universitäten. Im Jahre 1065 wurde die erste in Bagdad errichtet. Seit der Zeit besitzt der Orient die Wissenschaft nur in stereotypen Auflagen. Der Lehrer hat gelehrt, was ihm von seinen Lehrern überliefert worden, und jedes neue Buch enthält kaum einen Satz, der nicht schon in älteren Büchern stände. Die Wissenschaft ist gerettet. Aber die Gelehrten Transoxaniens, die, der Überlieferung nach, als sie die Gründung der ersten Madrasah erfuhren, eine Trauerfeier zu Ehren der Wissenschaft veranstalteten, haben Recht behalten. [3] Über die östlichen Länder des Islam brauste dann (13. Jahrh.) der Mongolensturm dahin. Was der Türke übrig gelassen, raffte dieser hinweg. Es blühte da keine Kultur wieder auf, die aus sich heraus eine neue Kunst hervortrieb oder zu einer Erneuerung der Wissenschaft die Anregung darbot. 2. Orientalische Weisheit. 1. Vor seiner Berührung mit dem Hellenismus hat der semitische Geist, in philosophischer Hinsicht, es nie weiter als zu Rätselfragen und Spruchweisheit gebracht. Einzelbeobachtungen aus der Natur, hauptsächlich aber aus Leben und Schicksal des Menschen, liegen zu Grunde, und wo das Verständnis aufhört, stellt sich leicht die Ergebung in den allmächtigen und unergründlichen Willen Gottes ein. Wir kennen diese Weisheit aus dem Alten Testament. Dass sie sich ähnlich bei den Arabern ausbildete, zeigen uns die biblische Geschichte der Königin von Saba und die Gestalt des weisen Loqman in der arabischen Überlieferung. Neben solcher Weisheit gab es überall die Magie des Zauberers, ein Wissen, das sich in der Herrschaft über die Dinge bewährte. Aber nur in den priesterlichen Kreisen Alt-Babyloniens, unter welchen Einflüssen und in welchem Umfange wissen wir nicht genau, erhob man sich zu einer wissenschaftlicheren Betrachtung der Welt. Vom Wirrsal des Erdendaseins wandte dort das Auge sich der himmlischen Ordnung zu. Nicht wie der Hebräer, der über ein gewisses Staunen nicht hinwegkam [4] oder in den unzähligen Gestirnen nur ein Sinnbild eigener Nachkommenschaft sah [5], sondern ähnlich dem Griechen, der das Viele und Mannigfaltige unter dem Monde erst verstehen lernte, nachdem er in der Einheit und Stetigkeit der Himmelsbewegung die Harmonie des Alls gefunden hatte. Nur dass sich mit dem Guten, wie es denn im Hellenismus nicht anders war, viel mythologisches Spiel und astrologisches Afterwissen verschlangen. Diese chaldäische Weisheit wurde in Babylonien und Syrien seit den Tagen Alexanders des Großen mit hellenistischen, später mit hellenistisch-christlichen Ideen durchsetzt oder davon verdrängt. Nur in der syrischen Stadt Harran hielt sich bis in die Zeit des Islam das alte Heidentum, von christlichen Einflüssen wenig berührt. (Vgl. I, 3 § 4.) 2. Bedeutender als etwaige semitische Überlieferung war es, was dem Islam von persischer und indischer Weisheit zugeführt wurde. Auf die Frage, ob die orientalische Weisheit von griechischer Philosophie, oder diese von jener ursprünglich beeinflusst sei, brauchen wir hier nicht einzugehen. Was der Islam graden Weges Persern und Indern entnommen hat, lässt sich aus den arabischen Quellen mit ziemlicher Sicherheit ersehen, und auf dieses dürfen wir uns beschränken. Persien ist das Land des Dualismus, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass seine dualistische Religionslehre, sei es direkt, sei es durch Vermittelung des Manichäismus oder anderer gnostischer Sekten, auf die theologischen Streitigkeiten im Islam eingewirkt habe. Viel größer aber ist in weltlichen Kreisen der Einfluss desjenigen Systems gewesen, das der Überlieferung nach unter dem Sasaniden Jezdegerd II. (438/9-457) sogar zur öffentlichen Anerkennung kam, des Zrwanismus (vgl. III, 1 § 6). In diesem System war die dualistische Weltansicht dadurch aufgehoben, dass als oberstes Prinzip die endlose Zeit (zrwan, arab. dahr) aufgestellt und mit dem Geschick, der äußersten Himmelssphäre oder der Bewegung des Himmels identifiziert wurde. Diese Lehre, die philosophischen Köpfen zusagte, hat sich, mit oder ohne die Maske des Islam, in der persischen Litteratur und bis auf unsere Zeit in den volkstümlichen Anschauungen einen großen Platz zu erhalten gewusst. Von den Theologen aber und nicht weniger von der idealistischen Schulphilosophie wurde sie als Materialismus, Atheismus u. s. w. abgewiesen. 3. Als das wahre Land der Weisheit galt Indien. Vielfach findet sich bei den arabischen Schriftstellern die Anschauung, dort sei die Geburtsstätte der Philosophie zu finden. Durch friedlichen Handelsverkehr, dessen Vermittler zwischen Indien und dem Abendlande hauptsächlich Perser waren, dann infolge der muslimischen Eroberung verbreitete sich die Kenntnis indischer Weisheit. Unter Mansur (754-775) und Harun (786-809) wurde vieles davon, teils durch die Mittelstufe des Persischen (Pahlawi) hindurch, teils direkt aus dem Sanskrit übersetzt. Von der ethischen und politischen Spruchweisheit, aus Fabel und Erzählung der Inder, ward manches herübergenommen, so die von Ibn al-Moqaffa zu Mansurs Zeit aus dem Pahlawi übersetzten Erzählungen des Pantschatantra u. A. An erster Stelle aber wirkten indische Mathematik und Astrologie, letztere in Verbindung mit praktischer Medizin und Zauberkunst, auf die Anfänge der Weltweisheit im Islam. Die Astrologie des Siddhanta von Brahmagupta, unter Mansur mit Hilfe indischer Gelehrten von Fazari aus dem Sanskrit übersetzt, war noch vor des Ptolemäus Almagest bekannt. Eine weite Welt, in Vergangenheit und Zukunft, that sich da auf. Die hohen Zahlen, mit denen der Inder operierte, erzeugten auf die nüchternen muslimischen Annalisten einen gewaltigen, verwirrenden Eindruck, wie andererseits der arabische Kaufmann, der in Indien und China das Alter unserer erschaffenen Welt auf einige Tausend Jahre ansetzte, sich im höchsten Grade lächerlich machte. Auch die logischen und metaphysischen Spekulationen der Inder sind den Muslimen nicht unbekannt geblieben, aber viel weniger als Mathematik und Astrologie haben diese die wissenschaftliche Entwicklung beeinflusst. Die Grübeleien der Inder, an ihre heiligen Bücher anknüpfend und durchaus religiös bestimmt, haben gewiss auf persisches Sufitum und islamische Mystik nachhaltig eingewirkt. Aber Philosophie ist nun einmal ein griechischer Begriff und es geht nicht an, einem Tagesgeschmack zu liebe, in unserer Darstellung den Kuhmilchgedanken frommer Inder allzuviel Platz einzuräumen. Was jene sinnigen Büßer über den täuschenden Schein alles Sinnlichen vorgebracht haben, mag oft einen poetischen Reiz besitzen, stimmt auch wohl zu dem, was dem Osten aus neupythagoreischen und neuplatonischen Quellen an Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen zugänglich war, hat aber, ebensowenig wie dieses, etwas Erhebliches zur Erklärung der Erscheinungen, zur Erweckung wissenschaftlichen Sinnes beigetragen. Nicht indischer Phantasie, sondern griechischen Geistes bedurfte es dazu, das Nachdenken auf die Erkenntnis des Wirklichen zu richten. Das beste Beispiel dafür ist die arabische Mathematik. Nach dem Urteile ihrer besten Kenner ist indisch darin fast nur die Rechenkunst, griechisch, wenn auch nicht ausschließlich, doch vorwiegend, die Algebra und die Geometrie. Zum Begriffe reiner Mathematik ist wohl kaum ein Inder durchgedrungen. Die Zahl, auch die höchste, blieb doch immer eine konkrete. Und in der indischen Philosophie blieb das Wissen überhaupt ein Mittel. Zweck war die Erlösung vom Übel des Daseins, die Philosophie Anleitung zum seligen Leben. Daher die Monotonie dieser auf das einheitliche Wesen aller Dinge gerichteten Weisheit, der gegenüber die reichgegliederte Wissenschaft der Hellenen die Wirkungen der Natur und des Geistes allseitig zu erfassen bestrebt war. Orientalische Weisheit, Astrologie und Kosmologie, hat den muslimischen Denkern mancherlei Stoff geliefert, aber die Form, das bildende Prinzip, kam ihnen von den Griechen her. Überall, wo es sich nicht um bloßes Aufzählen oder zufälliges Zusammenreihen handelt, sondern nach sachlichen oder logischen Gesichtspunkten eine Anordnung des Mannigfaltigen versucht wird, darf mit Wahrscheinlichkeit auf griechischen Einfluss geschlossen werden. 3. Griechische Wissenschaft. 1. Wie die Perser hauptsächlich den Handelsverkehr zwischen Indien-China und Byzanz leiteten, so traten im fernen Westen, bis ins Frankenreich, die Syrer als Kulturvermittler auf. Es waren Syrer, die Wein, Seide u. s. w. ins Abendland einführten. Aber es waren auch Syrer, die griechische Bildung aus Alexandrien und Antiochien nach Osten hin verbreiteten und in den Schulen von Edessa und Nisibis, Harran und Gondeschapur fortpflanzten. Syrien war das richtige Land der Mitte, wo Jahrhunderte lang die beiden Weltmächte, die römische und die persische, feindlich oder friedlich zusammenstießen. Unter solchen Umständen spielten die christlichen Syrer eine Rolle, wie sie ähnlich später den Juden zu teil ward. 2. Die muslimischen Eroberer fanden die christliche Kirche, abgesehen von vielen Sekten, in drei Abteilungen gespalten. Im eigentlichen Syrien herrschte neben der orthodoxen Reichskirche die monophysitische, in Persien die nestorianische Kirche vor. Der Unterschied zwischen den Lehrsystemen dieser Kirchen ist wohl nicht ohne Bedeutung für die Entwicklung der muslimischen Dogmatik gewesen. Nach der Lehre der Monophysiten waren in Christus Gott und Mensch zu einer Natur vereinigt, während die Orthodoxen und viel schärfer noch die Nestorianer eine göttliche und eine menschliche Natur unterschieden. Nun heißt Natur vor allem Energie oder Wirkungsprinzip. Es handelt sich um die Frage, ob göttliches und menschliches Wollen und Wirken in Christus ein und dasselbe seien oder verschieden. Die Monophysiten hoben, aus spekulativen und religiösen Motiven, auf Kosten des Menschlichen die Einheit in Christus, ihrem Gotte, hervor, die Nestorianer dagegen betonten die Eigenart menschlichen Seins, Wollens und Wirkens dem göttlichen gegenüber. Letzteres aber bietet, unter Begünstigung politischer und kultureller Verhältnisse, einer philosophischen Welt- und Lebensbetrachtung freieren Spielraum, und thatsächlich haben die Nestorianer am meisten für die Pflege griechischer Wissenschaft gethan. 3. Die Sprache sowohl der westlichen als auch der östlichen (persischen) Kirche war das Syrische. Daneben aber wurde in den Klosterschulen das Griechische gelehrt. In der westlichen (monophysitischen) Kirche sind Rasain und Kinnesrin als Stätten der Bildung zu nennen. Bedeutender war, wenigstens anfangs, die Schule von Edessa, wie denn auch der edessenische Dialekt sich zur Schriftsprache erhoben hatte. Aber im Jahre 489 ward die dortige Schule wegen der nestorianischen Gesinnung ihrer Lehrer geschlossen. Sie that sich dann in Nisibis wieder auf und verbreitete in Persien, aus politischen Gründen von den Sasaniden begünstigt, nestorianischen Glauben und griechisches Wissen. Der Unterricht in jenen Schulen hatte vorzugsweise biblisch-kirchlichen Charakter und war auf kirchliche Bedürfnisse berechnet. Aber es nahmen auch Ärzte oder künftige Studenten der Medizin daran teil. Dass diese oft dem geistlichen Stande angehörten, hebt den Unterschied zwischen theologischem Studium und der Beschäftigung mit weltlichem Wissen nicht auf. Zwar haben, nach dem syrisch-römischen Rechtsbuch, die Lehrer (gelehrten Priester) und Ärzte Steuerfreiheit und andere Privilegien gemeinsam. Aber dass die ersteren als Heilkünstler der Seele betrachtet wurden, während die Ärzte bloß den Leib zu flicken hatten, begründete den Vorzug jener vor diesen. Die Medizin blieb doch immer etwas Weltliches, und nach den Statuten der Schule zu Nisibis (vom Jahre 590) durften die heiligen Schriften nicht mit Büchern des weltlichen Gewerbes in einem Raume zusammen gelesen werden. In ärztlichen Kreisen wurden die Werke des Hippokrat, Galen und Aristoteles sehr geschätzt. In den Klöstern aber verstand man unter Philosophie zunächst das beschauliche Leben des Asketen und achtete nur auf das Eine, das not thut. 4. Eine eigentümliche Stellung nimmt die mesopotamische Stadt Harran, in der Nähe Edessas, ein. Altsemitisches Heidentum verknüpft sich hier, besonders nach der arabischen Eroberung, als die Stadt neu emporblühte, mit mathematischen und astronomischen Studien und neupythagoreischer und neuplatonischer Spekulation. Die Harranier oder Sabier, wie sie im 9. und 10. Jahrhundert heißen, führen ihre mystische Weisheit auf Hermes Trismegistos, Agathodaemon, Uranius u. A. zurück. Zahlreiche Pseudepigraphen des späteren Hellenismus werden von ihnen gläubig aufgenommen, einzelnes wird vielleicht in ihrem Kreise fabriziert. Als Übersetzer und gelehrte Schriftsteller sind einige aus ihrer Mitte thätig gewesen. Viele haben mit persischen und arabischen Gelehrten des achten bis zehnten Jahrhunderts einen regen wissenschaftlichen Verkehr unterhalten. 5. In Persien, zu Gondeschapur, finden wir eine von Chosrau Anoscharwan (531-579) gegründete Anstalt für philosophische und medizinische Studien. Ihre Lehrer waren hauptsächlich nestorianische Christen. Aber außer den Nestorianern duldete der weltlicher Bildung geneigte Fürst auch Monophysiten. Besonders als Mediziner waren damals, wie später am Hofe der Chalifen, christliche Syrer in Ehren. Auch die im Jahre 529 aus Athen vertriebenen sieben Philosophen der neuplatonischen Schule fanden am Hofe Chosraus eine Zufluchtsstätte. Sie mögen aber dort ähnliche Erfahrungen gemacht haben, wie die französischen Freigeister des vorigen Jahrhunderts am russischen Hofe. Jedenfalls sehnten sie sich nach der Heimat zurück. Und der König war freisinnig und großmütig genug, sie gehen zu lassen und für sie im Friedensvertrage mit Byzanz vom Jahre 549 Glaubensfreiheit zu bedingen. Ganz ohne Einfluss wird ihr Aufenthalt im persischen Reich doch wohl nicht geblieben sein. 6. Die Zeit der syrischen Übersetzungen profaner Schriften aus dem Griechischen läuft etwa vom vierten bis zum achten Jahrhundert. Im vierten Jahrhundert wurden Spruchsammlungen übertragen. Als erster mit Namen genannter Übersetzer erscheint Probus, "Priester und Arzt in Antiochien" (erste Hälfte des fünften Jahrhunderts?). Vielleicht war er auch nur Erklärer logischer Schriften des Aristoteles und der Isagoge des Porphyrius. Bekannter ist Sergius von Rasain (gestorben, wahrscheinlich in Konstantinopel, um 536, etwa 70 Jahre alt), ein mesopotamischer Mönch und Arzt, der den ganzen Umfang der alexandrinischen Wissenschaft, vielleicht in Alexandrien selbst, studierte und dessen Übersetzungen nicht nur auf Theologie, Moral und Mystik, sondern mehr noch auf Physik, Medizin und Philosophie sich erstreckten. Auch nach der muslimischen Eroberung wurde die gelehrte Thätigkeit der Syrer fortgesetzt. Jakob von Edessa (etwa 640-708) übersetzte griechisch-theologische Schriften, befasste sich aber außerdem mit Philosophie und erklärte auf eine diesbezügliche Anfrage, es sei christlichen Geistlichen erlaubt, Kindern von muslimischen Eltern gelehrten Unterricht zu erteilen. Bei den letzteren war also ein Bildungsbedürfnis vorhanden. Die Übersetzungen der Syrer, namentlich des Sergius von Rasain, sind im allgemeinen treu; die logischen und naturwissenschaftlichen aber entsprechen dem Original genauer, als die ethischen und metaphysischen. In diesen gab es eben viel Dunkles, das missverstanden oder einfach weggelassen, und viel Heidnisches, das durch Christliches ersetzt ward. Für Sokrates, Platon und Aristoteles (als Beispiele) traten wohl einmal Petrus, Paulus und Johannes ein. Das Schicksal und die Götter mussten dem Einen Gotte weichen. Und Begriffe wie Welt, Ewigkeit, Sünde und dergleichen erhielten ein christliches Gepräge. Übrigens sind die Araber mit der Anpassung an ihre Sprache, Kultur und Religion später viel weiter gegangen als die Syrer. Teils lässt sich das wohl aus der muslimischen Scheu vor allem Heidnischen, teils aber auch aus einer größeren Anpassungsfähigkeit erklären. 7. Abgesehen von einigen mathematischen, physischen und medizinischen Schriften haben die Syrer sich für ein Zweifaches interessiert. Erstens für moralisierende Spruchsammlungen, mit etwas Philosophiegeschichte verbunden, und im allgemeinen für mystische pythagoreisch-platonische Weisheit. Diese findet sich hauptsächlich in Pseudepigraphen, die den Namen des Pythagoras, Sokrates, Plutarch, Dionysius u. A. tragen. Im Mittelpunkte des Interesses steht eine platonische Seelenlehre, in späterer pythagoreischer, neuplatonischer oder christlicher Bearbeitung. Platon wird in den syrischen Klöstern sogar zu einem orientalischen Mönch, der sich eine Zelle im Herzen der Wildnis erbaute, weitab von den Wohnsitzen der Menschen, und dort, nach dreijährigem Schweigen und Grübeln über einen Bibelvers, die göttliche Dreieinigkeit erkannt haben soll. Dazu kam denn als Zweites die Logik des Aristoteles. Aristoteles war den Syrern, wie längere Zeit auch den Arabern, fast nur als Logiker allgemein bekannt. Die Bekanntschaft erstreckte sich, ähnlich wie in der Frühscholastik des Abendlandes, auf Kategorien, Hermeneutik und erste Analytik bis zu den kategorischen Figuren. Der Logik bedurfte man schon, um die Schriften griechischer Kirchenlehrer zu verstehen, da dieselben, wenigstens formal, davon beeinflusst waren. Wie man aber die Logik nicht vollständig hatte, so besaß man sie auch nicht rein, sondern in neuplatonischer Überarbeitung, wie z. B. ersichtlich ist aus dem Werke des Paulus Persa, welches in syrischer Sprache für Chosrau Anoscharwan geschrieben wurde. Es wird darin das Wissen über den Glauben gestellt und die Philosophie definiert als die Selbstbesinnung der Seele auf ihr inneres Wesen, in dem sie, gleichsam wie ein Gott, alle Dinge erblickt. 8. Was die Araber den Syrern verdanken, spricht sich u. a. darin aus, dass arabische Gelehrte das Syrische für die älteste oder richtige (natürliche) Sprache hielten. Zwar haben die Syrer Selbständiges nicht geschaffen, aber ihre Übersetzerthätigkeit kam der arabisch-persischen Wissenschaft zu gute. Es sind fast ohne Ausnahme Syrer gewesen, die vom 8. bis 10. Jahrhundert aus den älteren oder den von ihnen teils verbesserten, teils neu veranstalteten syrischen Übersetzungen die griechischen Werke ins Arabische übertrugen. Schon der omajjadische Prinz Chalid ibn Jezid (gest. 704), der sich unter Leitung eines christlichen Mönches mit der Alchemie befasste, soll Übersetzungen alchemistischer Werke aus dem Griechischen ins Arabische veranstaltet haben. Sprichwörter, Gnomen, Briefe, Testamente, überhaupt Philosophiegeschichtliches, wurden schon früh gesammelt und übersetzt. Aber erst unter Mansur wurde damit angefangen, naturwissenschaftlich-medizinische und logische Schriften der Griechen, zum Teil aus dem Pahlawi, ins Arabische zu übertragen. Besonders beteiligte sich daran Ibn al-Moqaffa, ein Anhänger des persischen Dualismus, von dem die Späteren sich durch ihre Terminologie unterschieden haben sollen. Es ist uns aber von seinen philosophischen Übersetzungen nichts erhalten. Auch anderes aus dem achten Jahrhundert ist verloren gegangen; erst aus dem neunten Jahrhundert, aus der Zeit Mamuns und seiner Nachfolger, ist einiges Übersetzte auf uns gekommen. Die Übersetzer des neunten Jahrhunderts waren meistens Mediziner und nach Ptolomäus und Euklid wurden Hippokrat und Galen mit am ersten übertragen. Beschränken wir uns auf die Philosophie im engeren Sinne. Von Juhanna oder Jachja ibn Bitriq (Anfang des neunten Jahrhunderts) soll eine Übersetzung des platonischen Timäus herrühren, ferner Aristoteles' Meteorologie, das Buch der Tiere, ein Auszug aus der Psychologie und die Schrift Über die Welt. Dem Abdalmasich ibn Abdallah Naima al-Himsi (um 835) wird zugeschrieben eine Übertragung der aristotelischen Sophistik, dazu des Johannes Philoponus Kommentar zur Physik und die sogenannte Theologie des Aristoteles, ein paraphrastischer Auszug aus Plotin's Enneaden. Qosta ibn Luqa al-Balabakki (um 835) soll übersetzt haben Alexanders von Aphrodisias und Johannes Philoponus' Kommentare zur aristotelischen Physik, zum Teil Alexanders Kommentar zu de generatione et corruptione, dazu Pseudo-Plutarchs placita philosophorum u. A. Die fruchtbarsten Übersetzer waren Abu Zaid Honain ibn Ishaq (809?-873), dessen Sohn Ishaq ibn Honain (gest. 910 oder 911) und Neffe Hobaisch ibn al-Hasan. Da sie zusammen arbeiteten, gibt es vieles, das bald dem Einen, bald dem Anderen zugeschrieben wird. Manches wird unter ihrer Aufsicht von Schülern und Untergebenen angefertigt sein. Ihre Thätigkeit dehnte sich auf den ganzen Umfang der damaligen Wissenschaft aus. Älteres wurde verbessert, Neues hinzugefügt. Der Vater übersetzte vorzugsweise Medizinisches, der Sohn aber mehr Philosophisches. Im zehnten Jahrhundert dauerte noch die Arbeit der Übersetzer fort. Es zeichneten sich besonders aus Abu Bischr Matta ibn Junus al-Qannai (gest. 940), Abu Zakarija Jachja ibn Adi al-Mantiqi (gest. 974) und Abu Ali Isa ibn Ishaq ibn Zura (gest. 1008). Endlich Abu-l-Chair al-Hasan ibn al-Chammar (geb. 942), ein Schüler des Jachja ibn Adi, von dem, ausser Übersetzungen, Kommentaren u. s. w., auch eine Schrift über die Übereinstimmung zwischen Philosophie und Christentum genannt wird. Die Thätigkeit der Übersetzer seit Honain ibn Ishaq beschränkte sich fast ganz auf die aristotelischen und pseudo-aristotelischen Schriften, deren Auszüge, Paraphrasen und Kommentare. 9. Als besonders große Philosophen sind diese Übersetzer nicht anzusehen. Selten arbeiteten sie spontan, fast immer im Dienste eines Chalifen, eines Wezirs, oder eines anderen vornehmen Mannes. Außer ihrem Fachstudium, gewöhnlich der Medizin, interessierte sie höchstens die Weisheit: schöne Geschichten mit moralischer Anwendung, Anekdötchen und Sprüche. Was wir uns im Verkehr, in der Erzählung oder auf der Bühne nur als Eigentümlichkeit gewisser Personen gefallen lassen, wurde von jenen Biedermännern ihres weisen Inhalts oder vielleicht auch nur schönrednerischen Prunkes wegen bewundert und gesammelt. In der Regel blieben sie dem väterlichen Christenglauben treu. Charakteristisch für ihre Auffassung und den Freisinn der Chalifen ist es, was die Überlieferung in Bezug auf Ibn Dschibril berichtet. Als Mansur ihn zum Islam bekehren wollte, soll er gesagt haben: "Im Glauben meiner Väter werde ich sterben, wo sie sind, wünsche ich auch zu sein, sei's nun im Himmel oder in der Hölle." Da lächelte der Chalif und entließ ihn reich beschenkt. Von selbständigen Schriften dieser Männer hat sich nur weniges gerettet. Eine kleine Abhandlung des Qosta ibn Luqa über den Unterschied zwischen Seele und Geist (pneuma, ruh), in lateinischer Übersetzung erhalten, ist viel genannt und benutzt worden. Der Geist ist danach ein feiner Körper, der von der linken Herzkammer aus den menschlichen Leib belebt und darin Bewegung und Wahrnehmung bewirkt. Je feiner und klarer dieser Geist, um so vernünftiger denkt und handelt auch der Mensch. Darüber sind sich Alle einig. Schwieriger aber ist es, etwas Sicheres und Allgemeingültiges über die Seele auszusagen. Die Aussprüche der größten Philosophen sind zum Teil verschieden, zum Teil einander widersprechend. Jedenfalls ist die Seele unkörperlich, weil sie Qualitäten, und zwar die entgegengesetzten zugleich, in sich aufnimmt. Sie ist einfach, unveränderlich und vergeht nicht, wie der Geist, mit dem Körper; der Geist vermittelt nur zwischen beiden, ist also secundäre Ursache der Bewegung und Wahrnehmung. Was hier in Bezug auf die Seele behauptet wird, finden wir bei vielen Späteren. Nur wird allmählich, je mehr die aristotelische Philosophie platonische Ansichten in den Hintergrund drängt, ein anderes Gegensatzpaar in das volle Licht gerückt. Von der Bedeutung des Lebensgeistes (ruh) reden nur noch die Mediziner. Die Philosophen stellen Seele und Geist oder Vernunft (nous, `aql) zusammen. Die Seele wird nun ins Vergängliche, mitunter sogar nach gnostischer Art in das niedere, böse Bereich der Begierden herabgezogen. Über sie erhebt sich, als das Höchste, das Unvergängliche im Menschen, der vernünftige Geist. Mit dieser Bemerkung greifen wir aber der Geschichte vor. Kehren wir zu unseren Übersetzern zurück. 10. Das Wertvollste, was der griechische Geist an Kunst, Poesie und Geschichtschreibung uns hinterlassen hat, ist den Orientalen niemals zugänglich geworden. Es hätte bei ihnen auch schwerlich Verständnis gefunden. Dafür fehlte eben der Geschmack und die Kenntnis griechischen Lebens. Mit dem sagenumstrahlten Alexander dem Großen fing ihnen die Geschichte Griechenlands erst an, und es wird der Aufnahme aristotelischer Philosophie am muslimischen Hofe die Stellung des Aristoteles zum größten Fürsten des Altertums gewiss förderlich gewesen sein. Die arabischen Geschichtschreiber zählten die griechischen Fürsten bis auf Kleopatra und weiter die römischen Kaiser auf, aber ein Thukydides z. B. war ihnen nicht einmal dem Namen nach bekannt. Von Homeros haben sie nicht viel mehr als den Satz, dass Einer Herrscher sein solle, aufgenommen. Von den großen griechischen Dramatikern und Lyrikern haben sie keine Ahnung. Nur durch seine Mathematik, Naturwissenschaft und Philosophie hat das griechische Altertum auf sie gewirkt. Von der Entwicklung der griechischen Philosophie hat man aus Plutarch, Porphyr u. A., sowie aus den Schriften des Aristoteles und Galen einiges erfahren. Es hat sich aber daran viel Sagenhaftes gehängt, und was im Orient über die Lehren der vorsokratischen Philosophen berichtet worden, lässt uns nur schließen auf die Pseudepigraphen, aus denen man schöpfte, oder vielleicht auch auf die im Osten selbst ausgebildeten Ansichten, die man mit der Autorität alter griechischer Weisen zu stützen suchte. Doch ist bei Allem immer zunächst an ein griechisches Original zu denken. 11. Im allgemeinen lässt sich behaupten, dass die Syrer-Araber den Faden der Philosophie dort aufnahmen, wo ihn die letzten Griechen hatten fallen lassen, d. h. bei der neuplatonischen Auslegung des Aristoteles, neben dem auch die platonischen Schriften gelesen und erläutert wurden. Unter den Harraniern und lange Zeit bei einigen muslimischen Sekten blühten am meisten die platonischen oder pythagoreisch-platonischen Studien, zu denen sich viel Stoisches und Neuplatonisches gesellte. Man interessierte sich außerordentlich für das Schicksal des Sokrates, der im heidnischen Athen als ein Märtyrer seines Vernunftglaubens fiel. Mächtig wirkte die platonische Seelen- und Naturlehre. Das pythische "Erkenne dich selbst", als Motto der sokratischen Weisheit überliefert und neuplatonisch gedeutet, wurde von den Muslimen dem Ali, Mohammeds Schwiegersohn, oder gar dem Propheten selbst in den Mund gelegt. Wer sich selbst erkennt, erkennt damit Gott, seinen Herrn, das wurde der Text für allerhand mystische Spekulationen. In medizinischen Kreisen und am weltlichen Hofe wurden immer mehr die Werke des Aristoteles bevorzugt. Zunächst freilich nur die Logik und einzelnes aus den physischen Schriften. Die Logik, so glaubte man, sei das einzige Neue, was der Stagirite erfunden; in allen anderen Wissenschaften stimme er aber durchaus mit Pythagoras, Empedokles, Anaxagoras, Sokrates und Platon überein. Die christlichen und sabischen Übersetzer und die von ihnen beeinflussten Kreise holten sich deshalb unbedenklich psychologisch-ethische, politische und metaphysische Belehrung bei den voraristotelischen Weisen. Was den Namen des Empedokles, Pythagoras u. A. trug, war natürlich unecht. Ihre Weisheit wird entweder auf Hermes oder andere, orientalische Weisen zurückgeführt. So soll Empedokles ein Schüler König Davids, nachher des Weisen Loqman gewesen, Pythagoras aus der salomonischen Schule hervorgegangen sein u. s. w. Schriften, die in den arabischen Werken als sokratisch zitiert werden, sind, insofern sie echt, platonische Dialoge, in denen Sokrates auftritt. Von Platon hat man, außer unechten Schriften, mehr oder weniger umfangreich angeführt: die Apologie, Kriton, den Sophisten, Phädrus, die Republik, Phädon, Timäus und die Gesetze. Das heißt aber nicht, dass dies Alles in vollständiger Übersetzung vorgelegen habe. Soviel ist sicher, Aristoteles war nicht von Anfang an Alleinherrscher. Platon, wie man ihn verstand, lehrte die Weltschöpfung und die geistige Substantialität und Unsterblichkeit der Seele: das schadete dem Glauben nicht. Aristoteles aber, mit seiner Lehre von der Ewigkeit der Welt und einer weniger spiritualistischen Psychologie und Ethik, wurde als gefährlich betrachtet. Muslimische Theologen des neunten und zehnten Jahrhunderts aus verschiedenen Lagern schrieben deshalb gegen Aristoteles. Doch die Verhältnisse änderten sich. Bald gab es Philosophen, die die platonische Lehre von der Einen Weltseele, von der die menschlichen Seelen nur endliche Teile seien, verwarfen und beim Aristoteles, der der Einzelsubstanz so große Bedeutung beilegte, Gründe suchten für ihre Unsterblichkeitshoffnung. 12. Wie man in der ältesten Zeit den Aristoteles auffassen musste, zeigen uns am besten die ihm untergeschobenen Schriften. Denn nicht nur bekam man seine echten Werke mit neuplatonischen Erläuterungen dazu, nicht nur wurde die Schrift "Über die Welt" unbedenklich als aristotelisch anerkannt, sondern er wurde auch als der Urheber betrachtet von vielen spätgriechischen Erzeugnissen, in denen ein pythagoreisierender Platonismus oder Neuplatonismus, oder gar ein wüster Synkretismus ganz offen gelehrt wurde. Als erstes Beispiel sei hier genannt das "Buch vom Apfel" [6], darin Aristoteles dieselbe Rolle spielt wie Sokrates in Platon's Phädon. Als nämlich der Philosoph seinem Ende nahe, besuchen ihn einige Schüler, die ihn frohen Mutes finden, was sie veranlasst, Belehrung über das Wesen und die Unsterblichkeit der Seele von ihrem hinscheidenden Meister zu erbitten. Dieser führt darauf etwa folgendes aus: Das Wesen der Seele besteht in Wissen, und zwar in seiner höchsten Form, der Philosophie. Eine vollkommene Erkenntnis der Wahrheit ist deshalb die Seligkeit, die nach dem Tode der wissenden Seele bevorsteht. Und wie das Wissen mit höherer Erkenntnis belohnt wird, so besteht die Strafe für Nichtwissen in tieferer Unwissenheit. Es gibt ja überhaupt im Himmel und auf Erden nichts anderes als Wissen und Nichtwissen und die Vergeltung, die beide in sich selbst finden. Auch ist weder die Tugend wesentlich vom Wissen verschieden, noch das Laster vom Nichtwissen: sie verhalten sich zu einander ähnlich wie das Wasser zum Eise, in verschiedener Form dasselbe. Im Wissen, dem göttlichen Wesen der Seele, findet diese naturgemäß ihre einzige wahre Freude, nicht aber in Essen und Trinken und sinnlicher Lust. Denn die Sinnenlust ist eine Flamme, die bloß auf kurze Zeit erwärmt; reines Licht aber, das weithin leuchtet, ist die denkende Seele, die ihre Erlösung aus der dunklen Sinnenwelt herbeisehnt. Darum fürchtet der Philosoph den Tod nicht, sondern tritt ihm freudig entgegen, wenn die Gottheit ruft. Der Genuss, den ihm sein beschränktes Wissen hier bietet, ist ihm eine Gewähr für die Wonne, die die Enthüllung des großen Unbekannten ihm verschaffen wird. Etwas davon weiß er ja jetzt schon, denn nur durch die Erkenntnis des Unsichtbaren ist die richtige Schätzung des Sinnenfälligen, deren er sich rühmen darf, überhaupt möglich. Wer sein Selbst in diesem Leben erkennt, besitzt gerade in dieser Selbsterkenntnis die Gewissheit, alle Dinge mit ewigem Wissen zu umfassen, d. h. unsterblich zu sein. 13. Zweitens sei die sogenannte "Theologie des Aristoteles" erwähnt. Es wird darin der göttliche Platon als der Idealmensch hingestellt, der durch ein intuitives Denken alle Dinge erkennt und also der logischen Hilfsmittel des Aristoteles nicht bedarf. Ja, die höchste Wirklichkeit, das absolute Sein, wird nicht durch Denken, sondern nur in einem ekstatischen Schauen ergriffen. "Öfter war ich," so redet hier Aristoteles-Plotin, "mit meiner Seele allein. Des Leibes entkleidet trat ich, reine Substanz, in mein Selbst hinein, von allem Äusseren zum Inneren zurückkehrend. Reines Wissen war ich da, Wissendes und Gewusstes zugleich. Wie wunderte ich mich, dass ich in meinem Selbst Schönheit und Glanz erblickte und mich als einen Teil der erhabenen göttlichen Welt erkannte, selbst mit schaffendem Leben begabt. In dieser Selbstgewissheit erhob ich mich über die Welt der Sinne, ja über die Geisterwelt empor zu dem göttlichen Stande, wo ich solch schönes Licht schaute, dass es keine Zunge aussprechen, kein Ohr vernehmen könnte." Im Mittelpunkte der Erörterungen steht auch in der Theologie die Seele. Alle wahre menschliche Wissenschaft ist Wissenschaft der Seele, Selbsterkenntnis, und zwar an erster Stelle Kenntnis des Wesens, hernach, aber weniger vollständig, der Wirkungen dieses Wesens. In solcher Erkenntnis, zu der nur äußerst wenige gelangen, besteht die höchste Weisheit, die sich in Begriffe nicht vollkommen fassen lässt, und die deshalb der Philosoph als weiser Künstler und Gesetzgeber in ewig schönen Bildern zur Darstellung bringt, uns Menschen zum Gottesdienste. Es zeigt sich eben darin der Weise als der überlegene, selbstgenügsame Zauberer, dessen Wissen die Menge beherrscht, weil diese im Banne der Dinge, der Vorstellungen und Begierden immer gefesselt bleibt. Die Seele steht in der Mitte des Alls. Über ihr sind Gott und der Geist, unter ihr die Materie und die Natur. Ihr Kommen aus Gott durch den Geist in die Materie, ihre Gegenwart im Körper, ihre Rückkehr nach oben, in diesen drei Stadien verläuft ihr Leben und das der Welt. Materie und Natur, Sinneswahrnehmung und Vorstellung verlieren hier fast ganz ihre Bedeutung. Alles ist vom Geist (nous, `aql), der Geist ist alle Dinge und im Geiste ist alles Eins. Auch die Seele ist Geist, freilich, solange sie in ihrem Körper weilt, Geist in Hoffnung, Geist in der Form der Sehnsucht. Sie sehnt sich nach oben, nach den guten, seligen Gestirnen, die, über Vorstellung und Strebung erhaben, ihre beschauliche Lichtexistenz führen. Das ist nun der orientalische Aristoteles, wie ihn die ersten Peripatetiker im Islam anerkannten. [7] 14. Dass die Orientalen sich nie zu einer reinen Auffassung der aristotelischen Philosophie durchgerungen haben, braucht uns nicht zu wundern. Die Mittel unserer Kritik, Echtes und Unechtes zu sondern, besaßen sie nicht. Sich in die griechische Kulturwelt hineinzuleben, musste ihnen sogar schwerer fallen als den christlichen Gelehrten des Mittelalters, das den lebendigen Zusammenhang mit dem Altertum nie ganz verloren hatte. Man blieb im Osten abhängig von neuplatonischen Bearbeitungen und Erklärungen. Fehlte ein Teil des wissenschaftlichen Systems, z. B. die aristotelische Politik, so war es selbstverständlich, dass die Gesetze oder der Staat Platons dafür eintraten. Nur wenigen kam der Unterschied Beider zum Bewusstsein. Es ist noch auf ein anderes Motiv zu achten. Schon in ihren neuplatonischen Quellen fanden die Muslime eine harmonisierende Auslegung der griechischen Philosophen vor, die sie wohl gezwungen waren, herüberzunehmen. Die ersten Anhänger des Aristoteles mussten ja polemisch und apologetisch vorgehen. Entgegen oder neben der Übereinstimmung der muslimischen Gemeinde brauchten sie eine einheitliche Philosophie, darin die Eine Wahrheit zu finden war. Dieselbe Verehrung, die Mohammed seinerzeit den heiligen Schriften der Juden und Christen gezollt hatte, fand sich später bei muslimischen Gelehrten in Bezug auf die Werke griechischer Wissenschaft. Nur zeigten die Gelehrten eine größere Vertrautheit mit ihren Vorbildern und geringere Originalität. Die alten Philosophen erhielten für sie eine Autorität, der man sich zu fügen hatte. Die ersten muslimischen Denker waren von der Überlegenheit griechischen Wissens derart überzeugt, dass sie nicht daran zweifelten, es habe die höchste Stufe der Gewissheit erreicht. Selbständig weiter zu forschen, war ein Gedanke, der nicht leicht aufkam im Gehirn des Orientalen, der sich einen Menschen ohne Lehrer nur als einen Schüler Satans vorzustellen vermag. Nach dem Vorgange hellenistischer Philosophen musste also der Versuch gemacht werden, zwischen Platon und Aristoteles die Übereinstimmung nachzuweisen, und besonders diejenigen Lehren, welche Anstoß erregten, entweder stillschweigend zu beseitigen oder in einem, der muslimischen Dogmatik nicht zu stark widerstreitenden Sinne darzustellen. Den Gegnern des Aristoteles oder der Philosophie überhaupt zu gefallen, hob man weise und erbauliche Sprüche aus echten und unechten Werken des Philosophen hervor, um auf diese Weise der Aufnahme seiner wissenschaftlichen Gedanken den Weg zu bereiten. Den Eingeweihten aber wurde die Lehre des Aristoteles, wie diejenige anderer Schulen und Sekten, als eine höhere Wahrheit hingestellt, zu der der positive Glaube der Menge und das mehr oder weniger begründete System der Theologen die Vorstufen bilden sollten. 15. Ein vom Bestande der übersetzten griechischen Werke abhängiger Eklektizismus ist die muslimische Philosophie immer geblieben. Der Verlauf ihrer Geschichte ist mehr ein Verdauungs- als ein Zeugungsprozess. Weder durch das Aufzeigen neuer Probleme noch durch eigentümliche Versuche, alte Fragen zu lösen, hat sie sich bedeutend hervorgethan. Wichtige Fortschritte des Denkens hat sie also nicht zu verzeichnen. Dennoch hat sie, historisch betrachtet, eine weit größere Bedeutung, als die einer bloßen Vermittlerin zwischen dem Altertum und der christlichen Scholastik. Die Aufnahme griechischer Ideen in die Mischkultur des Orients zu verfolgen, hat an sich als Gegenstand geschichtlichen Interesses einen ganz eigenen Reiz, zumal, wenn man dabei vergessen kann, dass es einmal Griechen gegeben. Wichtig wird aber auch die Betrachtung dieses Ereignisses, wenn es zu Vergleichen mit anderen Kulturen Veranlassung bietet. Die Philosophie ist eine so einzigartige, selbständig auf griechischem Boden erwachsene Erscheinung, dass man sie als den Bedingungen des allgemeinen Kulturlebens überhoben ansehen könnte, um sie rein aus sich selbst heraus zu erklären. Die Geschichte der Philosophie im Islam ist nun schon deshalb wertvoll, weil sich in ihr der erste Versuch darstellt, in größerem Umfange und mit größerer Freiheit als es in der altchristlichen Dogmatik geschehen, die Ergebnisse griechischen Denkens sich anzueignen. Die Erkenntnis der Bedingungen, die solches ermöglichten, wird uns, wenn auch mit Vorsicht und vorläufig wenigstens in sehr beschränktem Maße, Analogieschlüsse gestatten auf die Rezeption der griechisch-arabischen Wissenschaft im christlichen Mittelalter, und vielleicht ein wenig belehren über die Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt entsteht. Von einer muslimischen Philosophie ist eigentlich kaum zu reden. Aber es hat im Islam viele Männer gegeben, die nicht davon lassen konnten, zu philosophieren. Durch die griechischen Falten hindurch zeigt sich doch die Form ihrer eigenen Glieder. Es ist leicht, von der hohen Warte irgend einer Schulphilosophie auf jene Männer herabzublicken. Besser aber wird es für uns sein, sie kennen und in ihrer historischen Bedingtheit begreifen zu lernen. Wir müssen es der Einzelforschung überlassen, der Herkunft jedes Gedankens nachzugehen. Unser Zweck kann es nur sein im folgenden zu zeigen, was die Muslime aus dem vorgefundenen Materiale aufgebaut haben. II. PHILOSOPHIE UND ARABISCHES WISSEN. 1. Die Sprachwissenschaft. 1. Von muslimischen Gelehrten des zehnten Jahrhunderts wurden die Wissenschaften in arabische und in alte oder nichtarabische eingeteilt. Zu den ersteren gehörten Sprachwissenschaft, Pflichten- und Glaubenslehre, Litteraturkenntnis und Geschichte; zu den letzteren die philosophischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen. Im großen Ganzen ist die Einteilung richtig. Die letztgenannten Fächer sind nicht nur am meisten von fremden Einflüssen bestimmt, sondern auch nie recht populär geworden. Doch sind auch die sogenannten arabischen Wissenschaften nicht ganz rein einheimische Schöpfungen. Auch sie sind entstanden oder ausgebildet, wo im muslimischen Reiche Araber und Nichtaraber zusammentrafen und das Bedürfnis erwachte, über die den Menschen nächstliegenden Gegenstände, Sprache und Poesie, Recht und Religion, sofern sich darin Unterschiede oder Unzulänglichkeiten zeigten, nachzudenken. In der Weise, wie dieses geschah, spürt man deutlich den Einfluss von Nichtarabern, namentlich Persern, und immer bedeutender macht sich auch dabei die Einwirkung griechischer Philosophie geltend. 2. Die arabische Sprache, an deren Wortfülle, Formenreichtum und innerer Bildungsfähigkeit die Araber selbst sich besonders erfreuten, eignete sich vorzüglich zu einer Weltstellung. Besonders zeichnet sie sich, wenn man sie z. B. mit der schwerfälligen lateinischen oder auch mit der schwülstigen persischen vergleicht, durch kurze Abstraktbildungen aus, was dem wissenschaftlichen Ausdrucke zu gute kam. Sie ist der feinsten Nuancierung fähig, verführt aber auch durch eine reichentwickelte Synonymik dazu, von der aristotelischen Regel, dass in der strengen Wissenschaft der Gebrauch von Synonymen nicht zulässig sei, abzuweichen. Eine so elegante, ausdrucksfähige, aber schwierige Sprache, wie es die arabische war, musste, als sie die Bildungssprache der Syrer und Perser geworden, zu manchen Betrachtungen Veranlassung bieten. Vor allem machte das Studium des Korans, dessen Vortrag und Auslegung, eine eingehende Beschäftigung mit der Sprache notwendig. Ungläubige glaubten auch wohl, im heiligen Buche Sprachfehler nachweisen zu können. Man sammelte also aus alten Gedichten und der lebendigen Beduinensprache Beispiele, um die koranischen Ausdrücke zu belegen, woran sich wohl Bemerkungen über Sprachrichtigkeit im allgemeinen anschlossen. Im ganzen war der lebendige Brauch die Richtschnur, aber um die Autorität des Korans zu retten, ging es dabei gewiss nicht ohne Künsteleien ab. Den einfachen Gläubigen war dieses Verfahren immerhin etwas bedenklich. Masudi erzählt uns noch von einigen Grammatikern aus Basra, die auf einer Lustfahrt einen koranischen Imperativ durchconjugierten und deshalb (?) von den mit Dattelpflücken beschäftigten Landleuten durchgeprügelt wurden. 3. Die Araber führen die Sprachwissenschaft, wie so vieles Andere, auf Ali zurück, dem sogar die aristotelische Dreiteilung der Rede zugeschrieben wird. In Wirklichkeit sind die Anfänge in Basra und Kufa gemacht worden. Die erste Entwicklung liegt im Dunkeln, denn in der Grammatik des Sibawaih (gest. 786) haben wir eine fertige Gestalt, ein Riesenwerk, das, wie nachher Ibn Sina's Kanon der Medizin, die späteren Geschlechter sich nur als das Erzeugnis vieler zusammenarbeitender Gelehrten erklären konnten. Auch über die Unterschiede zwischen den Schulen von Basra und Kufa sind wir schlecht unterrichtet. Die Basrenser, wie später die Schule von Bagdad, sollen dem Qijas (der Analogie) einen großen Einfluss auf die Beurteilung sprachlicher Erscheinungen eingeräumt haben, während die Kufenser viele vom Qijas abweichende Spracheigenheiten für erlaubt hielten. Im Gegensatze zu den kufischen Grammatikern wurden aus dem Grunde die anderen Leute der Logik genannt. Ihre Terminologie wich von der kufischen im einzelnen ab. Viele, denen nach Ansicht der echten Araber die Logik den Kopf verdreht hatte, werden in der Meisterung der Sprache entschieden zu weit gegangen sein. Andererseits aber wurde die Willkür zur Regel erhoben. Dass die Schule von Basra sich zuerst logischer Hilfsmittel bediente, wäre kein Zufall. Überhaupt zeigte sich in Basra am ersten der Einfluss philosophischer Lehren, und unter ihren Grammatikern befanden sich viele Schiiten und Mutaziliten, die auch auf ihre Glaubenslehren einzuwirken fremder Weisheit gerne gestatteten. 4. Die Sprachwissenschaft, sofern sie nicht, von Gegenständen bestimmt, auf Sammlung von Beispielen, Synonymen u. s. w. sich beschränkte, wurde von der aristotelischen Logik beeinflusst. Syrer und Perser hatten schon vor muslimischer Zeit die Schrift peri hermêneias, mit stoischen und neuplatonischen Zusätzen, studiert. Ibn al-Moqaffa, der anfangs mit dem Grammatiker Chalil (s. unten) befreundet war, machte dann Alles, was sich sprachlich-logisches im Pahlawi vorfand, den Arabern zugänglich. Es wurden darnach die Satzarten, bald fünf, bald acht oder neun, und die drei Redeteile, Nomen, Verbum und Partikel, aufgezählt. In der Folgezeit nahmen einige, wie Dschahiz, unter die rhetorischen Figuren auch Schlussfiguren der Logik auf. Und in späteren Darstellungen wurde viel über Laut und Begriff gestritten und die Frage erörtert, ob die Sprache durch Satzung oder von Natur sei. Allmählich gewann die philosophische Ansicht, sie sei durch Satzung, das Übergewicht. Neben der Logik kommt hier noch der Einfluss der propädeutischen oder mathematischen Wissenschaften in Betracht. Wie die Prosa des Verkehrs und die Reime des Korans wurden die Verse der Dichter nicht bloß gesammelt, sondern auch nach bestimmten Gesichtspunkten, unter denen das Metrum, geordnet. Nach der Grammatik entstand die Metrik. Chalil (gest. 791), der Lehrer Sibawaih's, dem man die erste Anwendung des Qijas in der Sprachwissenschaft zuschreibt, soll auch die Metrik erfunden haben. Während man die Sprache als das nationale, conventionelle Element in der Poesie anzusehen lernte, glaubte man im Metrum das natürliche, allen Völkern gemeinsame zu finden. Thabit ibn Qorra (836-901) behauptete darum in seiner Anordnung der Wissenschaften, das Metrum sei etwas Wesentliches, die Metrik eine natürliche Wissenschaft, sie gehöre somit zur Philosophie. 5. Trotz alledem behielt die Sprachwissenschaft, die sich auf das Arabische beschränkte, ihre Eigentümlichkeiten, auf die hier einzugehen nicht am Platze ist. Jedenfalls ist sie eine großartige Schöpfung des fein beobachtenden und fleißig sammelnden arabischen Geistes, darauf die Araber stolz sein durften. Ein Apologet des zehnten Jahrhunderts, der sich gegen die griechische Philosophie wendet, sagte: "Wer die Feinheiten und Tiefen der arabischen Poesie und Metrik kennt, der weiß, dass sie alles dasjenige übertrifft, was die Leute als Beweise für ihre Meinungen anzuführen pflegen, welche in dem Wahne leben, dass sie die Wesenheiten der Dinge zu erkennen im Stande sind: Zahlen, Linien und Punkte. Ich kann den Nutzen dieser Dinge nicht einsehen, es sei denn, dass sie trotz des geringen Nutzens, den sie bringen, den Glauben schädigen und Dinge im Gefolge haben, gegen welche wir Gottes Beistand anrufen." Man wollte sich seine Freude an den Einzelheiten der Sprache durch allgemeine philosophische Spekulationen nicht trüben lassen. Manche Wortbildung, von den Übersetzern fremder Werke herrührend, wurde als barbarisch von puristischen Sprachlehrern verabscheut. Und weitere Verbreitung als die wissenschaftliche Sprachforschung fand die schöne Kunst der Kalligraphie, die sich, wie die arabische Kunst überhaupt, mehr dekorativ als konstruktiv, in edlen, feinen Formen entwickelte. In den Schriftzügen der arabischen Sprache zeigt sich uns noch die Subtilität des Geistes, der sie gebildet, zugleich aber auch ein Mangel an Energie, der sich in der ganzen Entwicklung arabischer Kultur bemerklich gemacht hat. 2. Die Pflichtenlehre. 1. Der gläubige Muslim hatte, sofern nicht das Herkommen seine Herrschaft behauptete, anfangs als Richtschnur seines Handelns und Urteilens das Wort Gottes und das Beispiel seines Propheten. Nachdem dieser gestorben war, folgte man, falls der Koran keine Auskunft erteilte, der Sunna Mohammeds, d. h. man that und entschied, wie der Überlieferung seiner Genossen nach Mohammed entschieden oder gehandelt hatte. Aber seit der Eroberung alter Kulturländer traten an den Islam ganz neue Ansprüche heran. Statt der einfachen Verhältnisse arabischen Lebens fanden sich dort Gewohnheiten und Einrichtungen vor, für die das heilige Gesetz keine Bestimmung bot und noch keine Tradition vorhanden oder ausgedeutet war. Jeden Tag häuften sich also die Einzelfälle, die nicht vorgesehen waren, und die man, sei es nach dem Herkommen oder nach eigenem Gutdünken beurteilen musste. In den altrömischen Provinzen, Syrien und Mesopotamien, wird dabei das römische Recht noch lange Zeit eine bedeutende Wirkung ausgeübt haben. Diejenigen Rechtslehrer nun, welche neben Koran und Sunna der eigenen Ansicht (ra'j, opinio) einen bestimmenden Einfluss auf das Recht zuerkannten, wurden Anhänger des Raj genannt. Als solcher ist besonders bekannt geworden Abu Hanifa von Kufa (gest. 767), der Stifter der hanefitischen Schule. Aber auch in Medina, vor und in der Schule des Malik (715-795) hat man anfangs ganz harmlos, wenn auch weniger weitgehend, dem Raj gehuldigt. Nur allmählich hat sich, im Kampfe gegen das zu vielen Willkürlichkeiten Veranlassung gebende Raj, die Meinung vorgedrängt, es sei in Allem der Tradition (hadîth) in Bezug auf die Sunna des Propheten zu folgen. Es wurden dann von überall her Traditionen gesammelt, gedeutet, auch massenhaft gefälscht, und eine Lehre von den Kriterien ihrer Echtheit ausgebildet, die aber mehr auf die äußere Bezeugung und die Zweckmäßigkeit des Überlieferten als auf Folgerichtigkeit und historische Treue Gewicht legte. Infolge dieser Entwicklung standen jetzt den Leuten des Raj, die hauptsächlich in Iraq (Babylonien) gefunden wurden, die Anhänger der Tradition von Medina entgegen. Auch Schafii (767-820), der Gründer der dritten Rechtsschule, der sich im allgemeinen an der Sunna hielt, wurde wohl im Gegensatz zu Abu Hanifa den Anhängern der Tradition beigezählt. 2. Ein neues Element brachte die Logik in diesen Streit hinein: das Qijas, die Analogie. Einzelne Qijase gab es natürlich schon früher, aber die Aufstellung des Qijas als eines Prinzipes, einer Grundlage oder Quelle des Rechtes setzt den Einfluss wissenschaftlicher Reflexion voraus. Wenn auch Raj und Qijas synonym gebraucht sein mögen, so haftet doch dem letzteren Ausdrucke weniger das Moment individueller Willkür an. Je mehr man sich daran gewöhnte, bei sprachlich-logischen Untersuchungen das Qijas anzuwenden, um so leichter konnte man auch dieses Prinzip in die Grundlehre der Gesetzeskunde aufnehmen, sei es nun, dass man von Fall zu Fall und von der Mehrzahl der Fälle auf die übrigen (analogisch) schloss, oder aber für verschiedene Fälle einen gemeinsamen Grund aufsuchte, aus dem das Verhalten im Einzelfall (syllogistisch) abzuleiten wäre. [8] Die Anwendung des Qijas scheint zunächst und zumeist in der hanefitischen, dann aber auch, obgleich in geringerem Umfange, in der schafiitischen Schule üblich gewesen zu sein. Im Zusammenhang damit wurde die Frage, ob die Sprache das Allgemeine auszudrücken vermöge oder bloß das Besondere bezeichnen könne, für die Pflichtenlehre von Bedeutung. Zu einem großen Ansehen hat das logische Prinzip des Qijas es nie gebracht. Vielmehr wurde, neben den historischen Grundlagen des Gesetzes, dem Koran und der Sunna, das Idschma d. h. die Übereinstimmung der Gemeinde, betont. Die Übereinstimmung der Gemeinde oder faktisch der einflussreichsten Gelehrten, die mit den Vätern und Lehrern der katholischen Kirche zu vergleichen sind, ist das dogmatische Prinzip, das, nur von wenigen angefochten, sich als das wichtigste Mittel zur Begründung der muslimischen Pflichtenlehre erwiesen hat. Nach Koran, Sunna und Idschma räumt aber die Theorie immer noch, an vierter Stelle, dem Qijas einen untergeordneten Platz ein. 3. Die muslimische Pflichtenlehre (al-fiqh = das Erkennen) umfasst das ganze Leben des Gläubigen, dem der Glaube selbst an erster Stelle zur Pflicht gemacht wird. Anfangs stieß sie, wie jede Neuigkeit, auf heftigen Widerstand. Gesetz ward hier zu Lehre, gläubiger Gehorsam zu grübelndem Wissen. Das forderte Widerspruch heraus, von einfachen Frommen und klugen Politikern zugleich. Aber nach und nach wurden die Wissenden oder Gesetzesgelehrten (ulamâ, im Westen faqihs) als die Erben der Propheten anerkannt. Die Pflichtenlehre hat sich vor der Glaubenslehre entwickelt und auch immer bis heute den ersten Platz zu behaupten gewusst. Fast jeder Muslim weiß etwas davon, weil es zur guten religiösen Erziehung gehört. Nach dem großen Kirchenvater Gazali ist das Fiqh das tägliche Brot gläubiger Seelen, während die Glaubenslehre nur als Medizin für Kranke einen Wert hat. Auf die fein ausgesponnene Kasuistik des Fiqh näher einzugehen, haben wir hier keine Veranlassung. Es handelt sich der Hauptsache nach um ein ideelles Recht, das in unserer mangelhaften Welt wohl nie rein zur Anwendung kommen kann. Seine Prinzipien und seine Stellung innerhalb des Islam kennen wir jetzt. Es sei nur noch die Einteilung der sittlichen Handlungen, wie die Pflichtenlehrer sie aufstellen, kurz erwähnt. Es gibt ihr zufolge 1. Handlungen, deren Ausübung unbedingte Pflicht ist und deshalb belohnt, deren Unterlassung bestraft wird; 2. gesetzlich anempfohlene Handlungen, die belohnt, deren Vernachlässigung aber nicht bestraft wird; 3. erlaubte, gesetzlich gleichgiltige Handlungen; 4. vom Gesetze missbilligte, aber nicht strafbare Handlungen; 5. gesetzlich verbotene Handlungen, die unbedingt Strafe fordern. [9] 4. Die Einwirkung griechischer Philosopheme auf die Ethik im Islam ist eine zweifache gewesen. Bei vielen Sektierern und Mystikern, sowohl orthodoxen als häretischen, findet sich eine asketische Ethik von pythagoreisch-platonischer Färbung. Sie findet sich ebenso bei Philosophen, denen wir in der Folge noch begegnen werden. In orthodoxen Kreisen aber fand der aristotelische Satz, dass Tugend in der richtigen Mitte bestehe, viel Anklang, weil ähnliches im Koran stand und überhaupt die Richtung des Islam eine katholische, die Gegensätze aussöhnende war. Mehr wohl als die Ethik wurde im muslimischen Reiche die Politik gepflegt. Politische Parteikämpfe gaben zuerst Veranlassung zu Verschiedenheit der Meinungen. Streitigkeiten über das Imâmat, d. h. die Herrschaft über die muslimische Gemeinde, durchziehen die ganze Geschichte des Islam. Es handelt sich aber durchweg mehr um Fragen persönlicher und praktischer als solche theoretischer Bedeutung, weshalb eine Geschichte der Philosophie sie nicht eingehend zu berücksichtigen braucht. Philosophisch Wertvolles kommt kaum dabei heraus. Schon im Laufe der ersten Jahrhunderte entwickelte sich ein festes kanonisches Staatsrecht, das aber, ähnlich der ideellen Pflichtenlehre, von starken Herrschern als theologische Grübelei nicht sonderlich beachtet wurde, dagegen von schwachen Fürsten erst recht nicht zur Anwendung gebracht werden konnte. Ebensowenig verlohnt es sich, die vielen, besonders in Persien beliebten Fürstenspiegel, an deren weisen Sittensprüchen und politisch-klugen Maximen die höfischen Kreise sich erbauten, näher zu betrachten. Das Schwergewicht philosophischer Bestrebungen im Islam liegt auf der theoretischen, intellektuellen Seite. Mit den thatsächlichen Vorgängen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens weiß man sich nur notdürftig abzufinden. Auch die Kunst der Muslime, obgleich sie viel mehr Originelles zeigt als ihre Wissenschaft, versteht es nicht, die spröden Stoffe zu beleben, sondern spielt mit zierlichen Formen. Die Poesie schafft kein Drama. Und ihre Philosophie ist nicht praktisch. 3. Die Glaubenslehre. 1. Im Koran war den Muslimen eine Religion, keine Lehre, Gesetze, aber keine Dogmen gegeben. Was sich darin der Logik widersetzte, was wir uns aus den wechselnden Lebensverhältnissen und den verschiedenen Stimmungen des Propheten erklären, wurde von den ersten Gläubigen einfach hingenommen, ohne zu fragen nach dem Wie und Warum. In den eroberten Ländern aber fand man eine ausgebildete christliche Dogmatik, sowie zoroastrische und brahmanische Lehren vor. Wie viel die Muslime den Christen verdanken, haben wir schon öfter betont. Die Glaubenslehre ist von christlichen Einflüssen wohl am meisten bestimmt worden. In Damaskus wirkten orthodoxe und monophysitische Lehren, in Basra und Bagdad vielleicht mehr nestorianische und gnostische Theoreme auf die Bildung muslimischer Dogmen ein. Litterarisches hat sich aus der ersten Zeit dieser Bewegung wenig erhalten. Man wird sich aber nicht irren, wenn man dem persönlichen Verkehre und dem schulmäßigen Unterricht eine bedeutende Wirkung zuschreibt. Wie noch heute, lernte man damals im Orient nicht viel aus Büchern, sondern mehr aus dem Munde des Lehrers. Die Ähnlichkeit zwischen den ältesten Glaubenslehren im Islam und den Dogmen des Christentums ist zu groß, dass man einen direkten Zusammenhang leugnen könnte. Die erste Frage nämlich, über die von muslimischen Gelehrten viel disputiert wurde, war die nach der Freiheit des Willens. Die Willensfreiheit nun wurde von den orientalischen Christen fast allgemein angenommen. Nie und nirgends hat man vielleicht über das Willensproblem, in der Christologie zunächst, aber auch in der Anthropologie, so viel hin und her geredet, wie in den christlichen Kreisen des Ostens zur Zeit der muslimischen Eroberung. Außer diesen zum Teil apriorischen Erwägungen gibt es auch vereinzelte Notizen, die darauf hindeuten, dass einige von den ersten Muslimen, welche die Willensfreiheit lehrten, christliche Lehrer hatten. Schon aus den gnostischen Systemen, nachher aber aus der Übersetzungslitteratur, gesellte sich zu den hellenistisch-christlichen eine Anzahl rein philosophischer Elemente. 2. Eine nach logischer oder dialektischer Methode, sei es mündlich oder schriftlich geäußerte, Behauptung nannten die Araber im allgemeinen, ganz besonders aber in der Glaubenslehre, einen Kalam (logos) und diejenigen, welche solche Behauptungen aufstellten, hießen mutakallimun. Von der einzelnen Behauptung wurde der Name auf das ganze System übertragen und darunter auch die einleitenden, grundlegenden Bemerkungen über Methode u. s. w. mitverstanden. Wir nennen die Wissenschaft des Kalam am besten theologische Dialektik oder einfach Dialektik und übersetzen im folgenden Mutakallimun mit Dialektiker. Der Name Mutakallimun, anfangs allen Dialektikern gemeinsam, ward später vorzugsweise den antimutazilitischen und orthodoxen Theologen beigelegt. In letzterem Falle wäre er dem Sinne nach gut mit Dogmatiker oder Scholastiker zu übersetzen. Hatten nämlich die ersten Dialektiker das Dogma noch zu bilden, die späteren brauchten es bloß darzulegen und zu begründen. Die Einführung der Dialektik war eine gewaltige Neuerung im Islam. Heftig wurde ihr von den Anhängern der Tradition widersprochen. Was über die Pflichtenlehre hinausging, hieß ihnen Ketzerei. Der Glaube sollte Gehorsam sein, nicht Erkenntnis, wie Murdschiten und Mutaziliten behaupteten. Die Spekulation wurde von diesen geradezu als eine Pflicht der Gläubigen hingestellt. Auch mit dieser Forderung söhnte die Zeit sich aus. Der Überlieferung nach hatte der Prophet schon gesagt: Das erste, was Gott geschaffen hat, ist das Wissen, oder: die Vernunft. 3. Groß ist die Anzahl verschiedener Meinungen, die zum Teil schon in der omajjadischen, hauptsächlich aber in der ersten abbasidischen Zeit laut wurden. Je weiter sie auseinander gingen, um so schwerer war es den Männern der Überlieferung, sich da hinein zu finden. Allmählich aber sonderten sich gewisse einheitliche Lehrgruppen aus, von denen das rationalistische System der Mutaziliten, der Nachfolger der Qadariten, die weiteste Verbreitung, besonders unter Schiiten, fand. Vom Chalifen Mamun bis Mutawakkil kam es sogar zur staatlichen Anerkennung. Früher von der weltlichen Macht unterdrückt und verfolgt, wurden die Mutaziliten jetzt selber Inquisitoren des Glaubens, denen das Schwert die Stelle des Beweises vertrat. Ungefähr zu derselben Zeit aber fingen auch ihre Gegner, die Traditionarier, damit an, ein Glaubenssystem aufzubauen. Überhaupt fehlte es nicht an Vermittelungen zwischen dem naiven Glauben der Menge und der Gnosis der Dialektiker. Dem spiritualistischen Gepräge des Mutazilitismus gegenüber trugen diese Vermittelungen in Bezug auf die Gotteslehre einen anthropomorphistischen, in Bezug auf Anthropologie und Kosmologie einen materialistischen Charakter. Die Seele z. B. wurde von ihnen körperlich oder als ein Accidens des Körpers aufgefasst, und das göttliche Wesen als ein menschlicher Körper vorgestellt. Den bildlichen Gott-Vater der Christen verabscheute die Religionslehre und Kunst der Muslime, aber abgeschmackte Grübeleien über die Gestalt Allah's gab es im Islam die Fülle. Einige gingen so weit, ihm sämtliche Körperglieder zuzusprechen, nur mit Ausnahme des Bartes und anderer Privilegien orientalischer Männer. Es ist unmöglich, all die dialektischen Sekten, die oft zunächst als politische Parteien aufgetreten waren, ausführlicher zu besprechen. Von philosophiegeschichtlichem Standpunkte genügt es auch, die mutazilitischen Hauptlehren, insoweit sie ein allgemeines Interesse beanspruchen dürfen, hier vorzuführen. 4. Die erste Frage nun betraf menschliches Handeln und menschliches Schicksal. Die Vorläufer der Mutaziliten, Qadariten genannt, lehrten die Willensfreiheit des Menschen. Auch noch in späterer Zeit, als ihre Spekulation sich mehr auf theologisch-metaphysische Probleme richtete, wurden die Mutaziliten immer zuerst bezeichnet als Anhänger der göttlichen Gerechtigkeit, die kein Böses verursache und nach seinem Verdienste den Menschen belohne oder strafe, dann aber, an zweiter Stelle, als Bekenner der Einheit Gottes, d. h. der Eigenschaftslosigkeit seines Wesens, an sich betrachtet. Auf die systematische Darstellung ihrer Lehren werden die Logiker (s. IV, 2 § 1) ihren Einfluss ausgeübt haben. Schon in der ersten Hälfte des zehnten Jahrhunderts fing das mutazilitische System mit dem Einheitsbekenntnis an und war die Lehre von Gottes Gerechtigkeit, die sich in allen seinen Werken kund gebe, an die zweite Stelle gerückt. Mit der Behauptung der Willensfreiheit sollte die menschliche Verantwortlichkeit, sowie die Heiligkeit Gottes, der nicht die sündigen Handlungen der Menschen unmittelbar hervorbringen könne, gerettet werden. Darum musste der Mensch Herr seiner Thaten sein, aber auch bloß dieser. Denn dass die Kraft, welche überhaupt zum Handeln befähigt, oder das Vermögen, sowohl Gutes als Böses zu thun, unmittelbar von Gott dem Menschen zukomme, wurde von wenigen bezweifelt. Daher die vielen, mit einer Kritik des philosophischen Zeitbegriffes verquickten, spitzfindigen Erörterungen über die Frage, ob das von Gott im Menschen geschaffene Vermögen der Handlung voraufgehe oder zeitlich damit zusammenfalle. Ginge nämlich die Kraft der That vorher, so müsste sie entweder bis zur That fortdauern, was ihrem accidentellen Charakter widerspreche (vgl. II, 3 § 12), oder aber schon vor der That aufhören zu existieren, und in diesem Falle wäre sie überhaupt entbehrlich. Vom menschlichen Handeln wurde die Spekulation weiter auf das Wirken der Natur übertragen. Statt Gott oder der Mensch hieß hier der Gegensatz Gott oder die Natur. Die hervorbringenden und zeugenden Kräfte der Natur wurden als Mittel oder nächste Ursachen anerkannt und von einigen zu erforschen gesucht. Die Natur selbst aber, wie die ganze Welt, war ihrer Ansicht nach ein Werk Gottes, eine Schöpfung seiner Weisheit. Wie die Allmacht Gottes im Sittlichen an seiner Heiligkeit oder Gerechtigkeit eine Schranke fand, so hier im Natürlichen an seiner Weisheit. Auch Übel und Böses in der Welt wurden aus der Weisheit Gottes, die Alles zum Besten schicke, erklärt. Erzeugnis oder Zweck göttlicher Thätigkeit ist es nicht. Gott könne zwar, so hatten Frühere behauptet, Böses und Unvernünftiges thun, er thäte es nur nicht. Dagegen lehrten die späteren Mutaziliten, Gott habe gar nicht die Macht, so etwas seinem Wesen Widerstreitendes zu thun. Von ihren darob entrüsteten Gegnern, die Gottes unbeschränkte Macht und seinen unergründlichen Willen unmittelbar in allem Handeln und Wirken thätig sich vorstellten, wurden sie wegen solcher Lehre mit den dualistischen Magiern verglichen. Der konsequente Monismus war auf Seiten dieser Gegner, die den Menschen und die Natur nicht neben und unter Gott zu Schöpfern ihrer Thaten oder Wirkungen machen möchten. 5. Die Mutaziliten hatten, wie schon aus dem Vorhergehenden erhellt, einen anderen Gottesbegriff als die Menge und die Traditionarier. Dies zeigte sich nun, im Fortgange der Spekulation, besonders deutlich in der Lehre von den göttlichen Eigenschaften. Von Anfang an war im Islam die Einheit Gottes stark betont. Das hinderte aber nicht, dass man ihm, nach menschlicher Analogie, viele schöne Namen gab und mehrere Attribute beilegte. Als die vorzüglichsten stellten sich, gewiss unter dem Einflusse christlicher Dogmatik, allmählich heraus: Wissen, Macht, Leben, Wille, Rede oder Wort, Gesicht und Gehör. Von diesen wurden Gesicht und Gehör zuerst in geistigem Sinne gedeutet oder ganz beseitigt. Aber mit irgend einer Vielheit gleichewiger Eigenschaften schien die absolute Einheit des göttlichen Wesens sich nicht vertragen zu wollen. Wäre das nicht die Trinität der Christen, die ja auch schon die drei Personen des Einen göttlichen Wesens als Eigenschaften gedeutet hatten? Teils suchte man nun, um dieser Inkonvenienz zu entgehen, einige Eigenschaften aus anderen begrifflich abzuleiten und auf eine, z. B. das Wissen oder die Macht, zurückzuführen, teils auch sie samt und sonders als Zustände des göttlichen Wesens zu fassen oder mit dem Wesen selbst zu identifizieren, wobei denn freilich ihre Bedeutung so ziemlich verschwand. Mitunter wurde versucht, durch Künsteleien des sprachlichen Ausdrucks noch etwas davon zu retten. Während z. B. ein Philosoph, die Eigenschaften leugnend, behauptete, Gott sei wissend seinem Wesen nach, drückte ein mutazilitischer Dialektiker das so aus: Gott ist wissend, aber durch ein Wissen, das er selbst ist. Nach Ansicht der Traditionarier ward auf diese Weise der Gottesbegriff allen Inhaltes beraubt. Über negative Bestimmungen, Gott sei nicht wie die Dinge dieser Welt, er sei über Raum, Zeit, Bewegung u. s. w. erhaben, kamen die Mutaziliten kaum hinaus. Aber dass er Schöpfer der Welt sei, daran hielten sie fest. Wenn man auch von Gottes Wesen wenig aussagen konnte, aus seinen Werken glaubte man ihn zu erkennen. Die Schöpfung war den Mutaziliten, wie ihren Gegnern, ein absoluter Akt Gottes, die Weltexistenz eine zeitliche. Energisch bekämpften sie die Lehre von der Weltewigkeit, die, durch die aristotelische Philosophie gestützt, im Orient weitverbreitet war. 6. Als eins von den ewigen Attributen Gottes fanden wir die Rede oder das Wort. Wahrscheinlich mit Anschluss an die christliche Logoslehre wurde nämlich die Ewigkeit des dem Propheten geoffenbarten Korans gelehrt. Das war nach den Mutaziliten geradezu Abgötterei, neben Allah an einen ewigen Koran zu glauben. Die mutazilitischen Chalifen verkündigten dagegen als Staatsdogma, der Koran sei geschaffen worden. Wer dies leugnete, wurde öffentlich bestraft. Obgleich nun die Mutaziliten mit diesem Dogma dem ursprünglichen Islam näher stehen mochten als ihre Gegner, so hat doch die Geschichte den letzteren Recht gegeben. Fromme Bedürfnisse waren eben mächtiger als logische Schlussfolgerungen. Viele Mutaziliten setzten sich, nach der Meinung ihrer Glaubensbrüder, über den Koran, das Wort Gottes, allzuleicht hinweg. Wenn es zu ihren Theorien nicht stimmte, wurde es aus- und umgedeutet. In Wirklichkeit galt manchem die Vernunft mehr als das offenbarte Buch. Aus der Vergleichung nicht nur der drei Offenbarungsreligionen, sondern auch dieser mit persischer und indischer Religionslehre und philosophischer Spekulation, ergab sich eine, die Gegensätze versöhnende, natürliche Religion. Aufgebaut wurde diese auf der Grundlage eines angeborenen, allgemeinnotwendigen Wissens, dass es Einen Gott gebe, der als weiser Schöpfer die Welt hervorgebracht und auch den Menschen mit Vernunft begabt habe, damit er seinen Schöpfer erkennen und Gutes und Böses unterscheiden könne. Dieser Natur- oder Vernunftreligion gegenüber sei dann die Erkenntnis der Offenbarungslehren etwas Hinzukommendes, ein erworbenes Wissen. Mit dieser Behauptung hatten die konsequentesten Mutaziliten sich von der Übereinstimmung der muslimischen Gemeinde losgesagt, sich also thatsächlich außerhalb des katholischen Glaubens gestellt. Anfangs beriefen sie sich noch auf jene Übereinstimmung. Sie konnten es thun, so lange die Regierung ihnen günstig gesinnt war. Es dauerte aber nicht lange. Bald erfuhren sie, was seitdem noch öfter erfahren wurde: die Völker lassen sich leichter von oben herab eine Religion als eine Aufklärung vorschreiben. 7. Nach diesem Überblick sehen wir uns einige von den bedeutendsten Mutaziliten näher an, damit dem allgemeinen Bilde nicht die individuellen Züge fehlen. Zuerst betrachten wir Abu-l-Hudhail al-Allaf, der um die Mitte des neunten Jahrhunderts starb. Er war ein berühmter Dialektiker, einer der ersten, die der Philosophie einen Einfluss auf ihre theologischen Lehren gestatteten. Dass eine Eigenschaft irgendwie einem Wesen inhärieren könne, lässt sich nach Abu-l-Hudhail nicht denken: entweder muss sie mit dem Wesen identisch oder davon verschieden sein. Doch sieht er sich nach einer Vermittlung um. Gott ist, nach ihm, wissend, mächtig, lebendig durch Wissen, Macht und Leben, die sein Wesen selbst sind. Wie auch schon von christlicher Seite geschehen war, nennt er jene drei Bestimmungen die Modi (wudschuh) des göttlichen Wesens. Auch Hören, Sehen u. a. lässt er sich als ewig in Gott gefallen, jedoch nur mit Rücksicht auf die später zu schaffende Welt. Übrigens mag es ihm und anderen von der Zeitphilosophie Berührten leicht genug gewesen sein, diese und ähnliche Ausdrücke, wie das Schauen Gottes am jüngsten Tage, [10] spiritualistisch zu deuten, da sie ja das Sehen und Hören überhaupt als geistige Akte auffassten. Abu-l-Hudhail behauptete z. B., die Bewegung sei sichtbar, tastbar aber nicht, weil sie kein Körper sei. Nicht ewig soll nun aber der Wille Gottes sein. Im Gegenteil nimmt Abu-l-Hudhail absolute Willensäußerungen an, sowohl von dem wollenden Wesen wie von dem gewollten Gegenstande verschieden. So nimmt das absolute Schöpfungswort eine Mittelstellung ein zwischen dem ewigen Schöpfer und der geschaffenen zeitlichen Welt. Diese Willensäußerungen Gottes sind eine Art Mittelwesen, mit den platonischen Ideen oder den Sphärengeistern zu vergleichen, aber wohl mehr als immaterielle Kräfte, denn als persönliche Geister gedacht. Von dem absoluten Schöpfungsworte unterscheidet Abu-l-Hudhail das accidentelle Offenbarungswort, das sich als Befehl und Verbot, in materieller, räumlicher Erscheinung an die Menschen kund gibt und also nur für diese zeitliche Welt Bedeutung hat. Die Möglichkeit, nach dem göttlichen Offenbarungsworte zu leben oder dem zu widerstreiten, ist folglich nur in diesem Leben vorhanden. Verpflichtendes Gebot und Verbot setzt Willensfreiheit und die Fähigkeit danach zu handeln voraus. Im zukünftigen Leben dagegen gibt es keine gesetzlichen Verpflichtungen, somit auch keine Freiheit mehr; Alles hängt dort von der absoluten Bestimmung Gottes ab. Auch wird es im Jenseits keine Bewegung geben, denn wie die Bewegung einmal angefangen hat, muss sie, am Ende der Welt, aufhören zur ewigen Ruhe. An eine körperliche Auferstehung dürfte also Abu-l-Hudhail wohl nicht geglaubt haben. Die menschlichen Handlungen unterscheidet er in natürliche und sittliche oder "Handlungen der Glieder und des Herzens". Sittlich ist eine Handlung nur, wenn wir sie frei verrichten. Die sittliche That ist des Menschen selbsterworbenes Eigentum, sein Wissen dagegen kommt ihm von Gott her zu, teils durch Offenbarung, teils durch natürliche Erleuchtung. Schon vor aller Offenbarung ist der Mensch von Natur verpflichtet, also auch wohl im Stande, Gott zu erkennen, Gutes und Böses zu unterscheiden, und tugendhaft, wahrhaftig und gerecht zu leben. 8. Ein merkwürdiger Mensch und Denker ist ein jüngerer Zeitgenosse und, wie es scheint, Schüler des Abu-l-Hudhail, gewöhnlich Al-Nazzam genannt. Er starb im Jahre 845. Ein phantastischer, unruhiger, ehrgeiziger Mann, kein folgerichtiger, aber doch ein kühner und ehrlicher Denker, so hat ihn Dschahiz, einer seiner Schüler, uns vorgestellt. Die Leute hielten ihn für einen Verrückten oder einen Ketzer. Vieles in seinen Lehren berührt sich mit dem, was den Orientalen als Philosophie des Empedokles und Anaxagoras bekannt war (vgl. auch Abu-l-Hudhail). Nach der Ansicht Nazzams kann Gott überhaupt kein Böses thun, ja er kann nur das, was er als das Beste für seine Diener erkennt. Seine Allmacht reicht auch nicht weiter als die wirkliche That. Wer könnte ihn daran hindern, die schöne Überfülle seines Wesens zu verwirklichen? Einen Willen im eigentlichen Sinne, der immer ein Bedürfnis voraussetze, ist Gott gar nicht beizulegen. Gottes Wille ist vielmehr nur eine Bezeichnung für seine Thätigkeit selbst oder für die den Menschen erteilten Befehle. Die Schöpfung ist ein einmaliger Akt, mit dem Alles zugleich erschaffen, sodass Eins im Andern enthalten ist und im Laufe der Zeit die verschiedenen Exemplare von Mineralien, Pflanzen und Tieren, sowie die vielen Adamskinder, nach und nach aus ihrem latenten Zustande in die Erscheinung treten. Mit den Philosophen verwirft Nazzam die Atomenlehre (s. II, 3 § 12), weiß sich dann aber das Durchlaufen einer bestimmten Strecke, wegen der unendlichen Teilbarkeit des Raumes, nur durch Sprünge zu erklären. Statt aus Atomen lässt er die körperlichen Substanzen aus Accidenzen zusammengesetzt sein. Wie sich Abu-l-Hudhail die Inhärenz von Eigenschaften in einem Wesen nicht denken konnte, so kann sich Nazzam das Accidens nur als die Substanz selbst oder als einen Teil der Substanz vorstellen. So ist das Feuer oder das Warme z. B. latent im Holze vorhanden, wird aber frei, wenn durch Reibung sein Antagonist, das Kalte, verschwindet. Es findet dabei eine Bewegung oder Umsetzung, aber keine qualitative Veränderung statt. Die sinnlichen Qualitäten, wie Farben, Geschmäcke und Gerüche, sind nach Nazzam Körper. Auch die Seele oder den Geist des Menschen fasst er als einen feinen Körper auf. Freilich ist die Seele des Menschen vorzüglichster Teil, sie durchdringt den Körper, ihr Organ, ganz und ist der wirkliche, wahrhafte Mensch zu nennen. Gedanken und Strebungen werden als Bewegungen der Seele definiert. In Glaubenssachen und Gesetzesfragen verwirft Nazzam sowohl die Übereinstimmung der Gemeinde als auch die analogische Interpretation des Rechtes, und beruft sich, schiitisch, auf den unfehlbaren Imam. Er hält es für möglich, dass alle Muslime eine irrige Lehre übereinstimmend zulassen, wie z. B. dass Mohammed im Unterschiede von anderen Propheten eine Mission für die ganze Menschheit habe. Gott sendet aber jeden Propheten zur ganzen Menschheit. Übrigens teilt Nazzam in Bezug auf die Erkenntnis Gottes und der sittlichen Pflichten durch die Vernunft die Ansicht des Abu-l-Hudhail. Von der unnachahmbaren Vortrefflichkeit des Korans ist er nicht sonderlich überzeugt. Es soll das ewige Wunder des Korans nur darin bestehen, dass die Zeitgenossen Mohammeds davon abgehalten wurden, dem Koran Ähnliches hervorzubringen. Von der muslimischen Eschatologie hat er wohl nicht viel gehalten. Wenigstens löst sich für ihn die Höllenqual in einen Verbrennungsprozess auf. 9. Aus der Schule Nazzams werden uns viele synkretistische Lehren überliefert, alle ohne Originalität. Von den Männern, die aus ihr hervorgegangen, ist der berühmteste der Schöngeist und Naturphilosoph Dschahiz (gest. 869), der vom echten Gelehrten verlangte, er solle das Studium der Theologie mit dem der Naturwissenschaft verknüpfen. In allen Dingen spürt er die Wirkungen der Natur, in diesen aber einen Hinweis auf den Schöpfer der Welt. Die menschliche Vernunft ist im Stande, den Schöpfer zu erkennen und ebenso das Bedürfnis nach einer prophetischen Offenbarung einzusehen. Des Menschen Verdienst ist nur sein Wollen, denn einerseits sind alle seine Thaten im Naturgeschehen verflochten, und andererseits ist sein ganzes Wissen notwendig von oben bestimmt. Doch scheint dem Wollen, das aus dem Wissen abgeleitet wird, keine große Bedeutung zuzukommen. Wenigstens wird der Wille im göttlichen Wesen ganz negativ gefasst, d. h. Gott wirke niemals unbewusst und mit Missfallen an seinem Werke. In alldem ist wenig Eigenes. Das Mittelmaß ist sein ethisches Ideal, aber auch seines Geistes Geschick. Nur im Kompilieren seiner vielen Schriften ist Dschahiz unmäßig gewesen. 10. Bei den älteren Mutaziliten überwiegen die ethischen und naturphilosophischen Erwägungen; bei den späteren gewinnen logisch-metaphysische Betrachtungen das Übergewicht. Besonders neuplatonische Einflüsse sind hier zu verspüren. Muammar, dessen Lebenszeit nicht näher bestimmt wird (etwa um 900 anzusetzen), hat manches mit den Obengenannten gemeinsam. Aber weit nachdrücklicher leugnet er die Existenz göttlicher Eigenschaften, die der absoluten Einheit des Wesens widersprechen. Gott ist über jede Vielheit hinaus. Er kennt weder sich selbst noch ein Anderes, denn das Wissen würde in ihm eine Vielheit voraussetzen. Auch ist er überewig zu nennen. Dennoch ist er als Schöpfer der Welt anzuerkennen. Freilich hat er nur Körper geschaffen, und diese schaffen selbst, sei es durch Naturwirkung, sei es mit Willen, ihre Accidenzen. Die Zahl dieser Accidenzen ist unendlich, denn sie sind ihrem Wesen nach nichts weiter als die begrifflichen Beziehungen des Denkens. Muammar ist Conceptualist. Bewegung und Ruhe, Gleichheit und Verschiedenheit u. s. w. sind nichts an sich, sondern haben nur eine begriffliche oder ideelle Wirklichkeit. Die Seele, die das wahre Wesen des Menschen sein soll, wird als eine Idee oder eine immaterielle Substanz gefasst. Wie sie sich dann zum Körper und zu dem göttlichen Wesen verhalte, wird nicht klargestellt. Die Überlieferung ist verworren. Des Menschen Wille ist frei, das Wollen eigentlich seine einzige That. Denn die äußere Handlung gehört dem Körper (vgl. Dschahiz). Die Schule von Bagdad, der Muammar anzugehören scheint, war conceptualistisch. Mit Ausnahme der allgemeinsten Bestimmungen, denen des Seins und des Werdens, ließ sie die Universalien nur als Begriffe Bestand haben. Näher dem Realismus stand Abu Haschim von Basra (gest. 933). Gottes Eigenschaften, sowie die Accidenzen oder Gattungsbegriffe überhaupt, fasste er als ein Mittleres zwischen Sein und Nichtsein auf. Er nannte sie Zustände oder Modi. Als Erfordernis alles Wissens bezeichnete er den Zweifel. Ein naiver Realist war er nicht. Auch mit dem Nichtsein trieben mutazilitische Denker ein dialektisches Spiel. Es werde gedacht, es müsse also dem Nichtsein wie dem Sein eine Art Wirklichkeit zukommen, folgerte man. Versucht doch der Mensch eher das Nichts zu denken, als dass er überhaupt nicht denke. 11. Im neunten Jahrhundert hatten sich im Kampfe gegen die Mutaziliten mehrere dialektische Systeme ausgebildet, von denen u. a. das karramitische sich lange über das zehnte Jahrhundert hinaus erhielt. Aus den Reihen der Mutaziliten aber erstand der Mann, der die Gegensätze zu vermitteln berufen war, und der das zunächst im Osten, später im ganzen Islam als orthodox anerkannte Lehrsystem aufstellte. Es war al-Aschari (873-935), der es verstand, Gotte zu geben, was Gottes, und dem Menschen, was des Menschen ist. Den groben Anthropomorphismus der antimutazilitischen Dialektiker wies er ab, Gott über alles Körperliche und Menschliche hinausrückend, ihm aber seine Allmacht und Allwirksamkeit lassend. Die Natur büßte bei ihm alle ihre Wirksamkeit ein, dem Menschen aber wurde ein gewisses Verdienst vorbehalten, darin bestehend, dass er den von Gott in ihm geschaffenen Handlungen seine Zustimmung erteilen, sich dieselben als seine Thaten aneignen könne. Auch wurde dem Menschen sein sinnlich-geistiges Wesen nicht verkümmert. Er durfte hoffen auf die Auferstehung des Fleisches und das Schauen Gottes. Was die koranische Offenbarung betrifft, unterschied Aschari zwischen einem ewigen Worte in Gott und dem in der Zeit geoffenbarten Buche, wie wir es besitzen. Bei der Ausführung seiner Lehren zeigte sich Aschari in keiner Weise originell, sondern er fasste nur Gegebenes vermittelnd zusammen, was denn nicht ohne Widersprüche gelingen wollte. Die Hauptsache jedoch war, dass seine Kosmologie, Anthropologie und Eschatologie, zur Erbauung frommer Seelen, nicht allzu weit von dem Wortlaute der Tradition sich entfernten, und dass seine Theologie, infolge einer etwas vergeistigten Auffassung Gottes, auch höher Gebildete nicht ganz unbefriedigt ließ. Aschari stützt sich auf die Offenbarung des Korans. Eine davon unabhängige Vernunfterkenntnis in Bezug auf göttliche Dinge erkennt er nicht an. Die Sinne sollen im allgemeinen nicht täuschen, dagegen wohl unser Urteil. Zwar erkennen wir Gott mit unserer Vernunft, aber nur aus der Offenbarung, der einzigen Quelle solchen Wissens. Gott ist nun, nach Aschari, zunächst der allmächtige Schöpfer. Ferner ist er allwissend, er weiß, was die Menschen thun und was sie thun wollen, was geschieht und wie das, was nicht geschieht, wenn es geschähe, geschehen wäre. Dazu kommen Gott alle Bestimmungen zu, die irgend eine Vollkommenheit ausdrücken, nur dass sie Gott in einem anderen, höheren Sinne eignen als den Geschöpfen. In Schöpfung und Erhaltung der Welt ist Gott die einzige Ursache; alles Weltgeschehen rührt fortwährend unmittelbar von ihm her. Der Mensch aber ist sich des Unterschiedes zwischen seinen unwillkürlichen Bewegungen, wie Zittern und Beben, und seiner mit Willen und Wahl ausgeführten Handlungen wohl bewusst. 12. Das Eigentümlichste, was die Dialektik der Muslime ausgebildet hat, ist ihre Atomenlehre. Die Entwicklung dieser Lehre liegt noch fast ganz im Dunkeln. Schon von Mutaziliten, besonders aber von deren Gegnern vor Aschari ist sie vertreten worden. Unsere Darstellung zeigt, wie sie sich in der ascharitischen Schule erhalten, zum Teil vielleicht erst ausgebildet hat. Die Atomenlehre der muslimischen Dialektiker hat ihre Quelle allerdings in griechischer Naturphilosophie, aber ihre Aufnahme und Weiterbildung sind von den Bedürfnissen theologischer Polemik und Apologetik bestimmt, wie sich dies ähnlich bei einzelnen Juden und bei gläubigen Katholiken beobachten lässt. Dass man, im Islam, den Atomismus aufgegriffen habe, nur weil Aristoteles ihn bekämpfte, ist nicht wohl glaublich. Wir haben hier einen verzweifelten Kampf um ein religiöses Gut zu verzeichnen, dabei die Waffen nicht gewählt werden. Der Zweck entscheidet. Die Natur soll nicht aus sich selbst heraus, sondern aus einem göttlichen Schöpfungsakte erklärt; nicht als eine ewige göttliche Ordnung, sondern als ein Geschöpf vergänglichen Daseins diese Welt angesehen werden. Als freiwirkender, allmächtiger Schöpfer soll Gott gedacht und benannt werden, nicht als unpersönliche Ursache oder ruhender Urgrund. An der Spitze der muslimischen Dogmatik steht daher seit alter Zeit die Schöpfungslehre als ein Zeugnis gegen die heidnisch-philosophische Ansicht von der Ewigkeit der Welt und von den Wirkungen der Natur. Was wir von der Sinnenwelt wahrnehmen, so reden diese Atomisten, sind vorübergehende Accidenzen, die jeden Augenblick kommen und gehen. Das Substrat dieses Wechsels sind die (körperlichen) Substanzen, die, weil in oder an ihnen Veränderungen vorgehen, nicht unveränderlich gedacht werden können. Sind sie, die Substanzen, veränderlich, dann können sie auch nicht dauerhaft sein, denn Ewiges ändert sich nicht. Folglich ist Alles in der Welt, da Alles sich ändert, entstanden, von Gott erschaffen. Das ist der Ausgangspunkt. Von der Veränderlichkeit alles Existierenden wird geschlossen auf den ewigen, unveränderlichen Schöpfer. Die Späteren aber schließen, unter dem Einfluss muslimischer Philosophen, von der Kontingenz oder Possibilität alles Endlichen auf das notwendig-existierende Wesen Gottes. Kehren wir zur Welt zurück. Sie besteht aus Accidenzen und deren Substrate, die Substanzen. Substanz und Accidens oder Qualität sind die zwei Kategorien, mittelst derer die Wirklichkeit begriffen wird. Die übrigen Kategorien fallen entweder unter die der Qualität oder lösen sich in Verhältnisse und Denkbestimmungen auf, denen, objektiv, nichts entspricht. Die Materie als Möglichkeit ist nur im Denken, die Zeit ist nichts anderes als Koexistenz verschiedener Gegenstände oder simultane Beziehung der Vorstellung, und Raum und Größe kommen zwar den Körpern zu, nicht aber den einzelnen Teilen (Atomen), aus denen die Körper zusammengesetzt sind. Was von den Substanzen überhaupt ausgesagt werden kann, sind Accidenzen. Ihre Anzahl ist, an jeder einzelnen Substanz, zahlreich oder gar, wie einige behaupten, unendlich, da von beliebigen gegensätzlichen Bestimmungen, zu denen auch die negativen gehören, jeder Substanz entweder die eine oder die andere zukomme. Das negative Accidens hat um nichts weniger Realität als das positive. Gott schafft auch die Privation und die Vernichtung, wofür es denn freilich nicht leicht ist, das Substrat ausfindig zu machen. Und da jedes Accidens immer nur seinen Sitz in irgend einer Substanz haben kann, und nicht in einem anderen Accidens, so gibt es in Wirklichkeit kein Allgemeines, mehreren Substanzen Gemeinsames. Die Universalien sind in keiner Weise in den Einzeldingen, sie sind Begriffe. Somit gibt es keine Verbindung zwischen den Substanzen, sie stehen getrennt für sich als Atome, die einander gleich sind. Eigentlich haben sie eine größere Ähnlichkeit mit den Homöomerien des Anaxagoras als mit den kleinsten Stoffteilchen der Atomisten. Sie sind an sich unräumlich (ohne makan), haben aber ihren Ort (hajjiz) und füllen durch ihre Position den Raum aus. Es sind also unausgedehnte, punktuell gedachte Einheiten, aus denen die räumliche Körperwelt aufgebaut wird. Zwischen ihnen soll es ein Leeres geben, denn sonst wäre, da die Atome nicht in einander eindringen, jede Bewegung unmöglich. Alle Veränderung aber wird auf Vereinigung und Trennung, Bewegung und Ruhe zurückgeführt. Sonstige, wirksame Beziehungen zwischen den Atomen-Substanzen gibt es nicht. Sie sind einmal da und freuen sich ihres Daseins, haben aber gar nichts mit einander zu thun. Die Welt ist eine diskontinuierliche Masse, ohne lebendige Wechselwirkung. Das Altertum hatte dieser Auffassung vorgearbeitet, u. a. auch mit seiner Lehre von dem diskontinuierlichen Charakter der Zahl. Wurde die Zeit nicht als die Zahl der Bewegung definiert? Warum sollte man nun nicht jene Lehre auf Raum, Zeit und Bewegung übertragen? Die Dialektiker thaten es, und es mag auch die Skepsis der Alten dabei mitgewirkt haben. Wie die substanzielle Körperwelt wurden auch Raum, Zeit und Bewegung in Atome ohne Ausdehnung, in Momente ohne Dauer zerlegt. Die Zeit wird eine Aufeinanderfolge von vielen einzelnen Jetzt, und zwischen je zwei Zeitmomenten gibt es ein Leeres. Ebenso verhält es sich mit der Bewegung: zwischen je zwei Bewegungen gibt es eine Ruhe. Eine schnelle und eine langsame Bewegung besitzen dieselbe Geschwindigkeit, nur hat die letztere mehr Ruhepunkte. Um dann aber über den leeren Raum, das unausgefüllte Zeitmoment und die Ruhepause zwischen zwei Bewegungen hinauszukommen, wird die Lehre vom Sprunge benutzt. Von Raumpunkt zu Raumpunkt soll die Bewegung, von Moment zu Moment die Zeit weiterspringen. Diese phantastische Lehre brauchte man eigentlich gar nicht. Sie war eine Antwort auf naives Fragen. Konsequent hatte man die ganze räumlich-zeitlich bewegte Körperwelt in Atome mit deren Accidenzen zerstückt. Wohl behaupteten einige, dass zwar die Accidenzen jeden Augenblick schwinden, die Substanzen dagegen dauernden Bestand haben, aber andere machten da keinen Unterschied. Wie die Accidenzen, so lehrten sie, bestehen auch die Substanzen, die ja Raumpunkte sind, nur einen Zeitpunkt. Jeden Augenblick schafft Gott die Welt aufs neue, sodass ihr jetziger Zustand weder mit dem unmittelbar vorhergehenden noch mit dem gleich folgenden in irgend einem wesentlichen Zusammenhange steht. Es gibt also eine Reihe aufeinander folgender Welten, die sich nur scheinbar als eine Welt darstellen. Dass es für uns so etwas wie Zusammenhang oder Kausalität in den Erscheinungen gibt, rührt nur daher, dass es Allah nach seinem unergründlichen Willen heut oder morgen nicht beliebt, die Gewohnheit des Geschehens durch ein Wunder zu unterbrechen, was er aber jeden Augenblick zu thun im Stande ist. Wie aller Kausalzusammenhang nach dem atomistischen Kalam verschwindet, wird sehr gut durch das klassische Beispiel vom schreibenden Menschen ausgedrückt. Gott schafft nämlich in ihm, und zwar an jedem Zeitpunkte aufs neue, zuerst den Willen, dann das Vermögen zu schreiben, darauf die Bewegung der Hand, und endlich die Bewegung der Feder. Eins ist dabei völlig unabhängig von dem Andern. Wenn man nun dagegen einwendet, dass mit der Kausalität oder der Regelmäßigkeit des Weltgeschehens auch die Möglichkeit alles Wissens aufgehoben sei, so erwidert der gläubige Denker, Allah wisse ja Alles vorher schon, er schaffe nicht nur die Dinge der Welt und was sie zu wirken scheinen, sondern auch das Wissen darum in der menschlichen Seele, und wir brauchen nicht weiser zu sein als Er. Er weiß es am besten. Allah und die Welt, Gott und der Mensch, über diese Gegensätze konnte die muslimische Dialektik nicht hinaus kommen. Außer Gott gibt es nur Platz für körperliche Substanzen und deren Accidenzen. Das Dasein menschlicher Seelen als unkörperlicher Substanzen, sowie überhaupt die Existenz reiner Geister, beides von Philosophen und, weniger bestimmt, von einigen Mutaziliten gelehrt, wollte nicht recht stimmen zu der muslimischen Lehre von der Transcendenz Gottes, der keinen Genossen hat. Die Seele gehört zu der Körperwelt. Leben, Empfindung, Beseeltheit sind ebenso Accidenzen wie Farbe, Geschmack und Geruch, Bewegung und Ruhe. Einige nehmen nur ein Seelenatom an, nach anderen sind mehrere feine Seelenatome unter die Körperatome gemischt. Das Denken haftet jedenfalls an einem einzigen Atom. 13. Nicht alle guten Muslime konnten sich bei der Dialektik beruhigen. Der fromme Diener Gottes möchte doch auf andere Weise seinem Herrn etwas näher kommen. Dieses Bedürfnis, schon anfangs im Islam vorhanden, durch christliche und persisch-indische Einflüsse verstärkt und unter entwickelteren Kulturverhältnissen mächtig angewachsen, hat im Islam eine Reihe von Erscheinungen hervorgerufen, die man als Mystik und Sufismus [11] zu bezeichnen pflegt. In dieser Entwicklung eines muslimischen Heiligenwesens und Mönchtums hat sich die Geschichte christlicher Mönche und Klöster in Syrien und Ägypten, auch diejenige indischer Büßer wiederholt. Im Grunde haben wir es hier also mit religiöser oder geistiger Praxis zu thun. Aber die Praxis spiegelt sich immer im Denken, sie erhält ihre Theorie. Man bedurfte, um ein intimeres Verhältnis mit der Gottheit zu Stande zu bringen, vielfach symbolischer Handlungen und vermittelnder Personen. Diese nun versuchten es, sich und den Eingeweihten die Geheimnisse der Symbole zu enthüllen und außerdem ihre eigene vermittelnde Stellung in der Stufenordnung des Alls zu begründen. Besonders neuplatonische Lehren, teilweise aus der trüben Quelle des Pseudo-Dionysios des Areopagiten und des heiligen Hierotheos (Stephen bar Sudaili?) mussten dazu herhalten. Auch scheint der indische Yoga, wenigstens in Persien, bedeutend eingewirkt zu haben. Meistens hielt sich die Mystik in den Schranken der Orthodoxie, die immer auch verständig genug war, Dichtern und Schwärmern etwas nachzusehen. In Bezug auf die Lehre, dass Gott alles in allem wirke, waren Dialektiker und Mystiker einverstanden. Dass aber Gott auch alles in allem sei, wurde von der extremen Mystik hinzugefügt. Daraus entwickelte sich ein heterodoxer Pantheismus, der die Welt zum leeren Scheine und das menschliche Ich zum Gotte machte. So wird die Einheit Gottes zur Alleinheit, seine Allwirksamkeit zur Allwesenheit. Höchstens gibt es außer Gott noch die Eigenschaften oder Zustände der sufischen zu Ihm sich hinbewegenden Seele. Eine Psychologie des Gefühles wird von sufischen Lehrern entwickelt. Während, nach ihnen, unsere Vorstellungen von außen an die Seele herankommen und unsere Strebungen eine Veräußerlichung des Inneren bedeuten, besteht das wahre Wesen unserer Seele aus gewissen Zuständen oder Gefühlen der Lust und Unlust. Das wesentlichste von allen ist die Liebe. Weder Furcht noch Hoffnung, sondern die Liebe erhebt uns zu Gott. Kein Wissen und kein Wollen, sondern die Vereinigung mit dem Geliebten heißt Seligkeit. Weit gründlicher als von den Dialektikern wird von diesen Mystikern die Welt, und schließlich auch die Menschenseele vernichtet. Von jenen ist sie der schaffenden Willkür, von diesen dem erleuchtenden, liebenden Wesen Gottes zum Opfer dargebracht worden. In der Sehnsucht nach dem Einen Geliebten wird die verwirrende Mannigfaltigkeit der Dinge, wie sie unseren Sinnen und der Vorstellung erscheint, abgestreift. Alles wird, im Sein wie im Denken, auf einen Punkt konzentriert. Als Gegensatz denke man sich echtes Griechentum. Dort wünschte man sich die Zahl der Sinne größer, um etwas mehr von dieser schönen Welt erkennen zu können. Diese Mystiker aber schelten die Vielheit der Sinne, weil sie Verwirrung in ihr Glück hineinbringt. Doch macht die menschliche Natur sich überall geltend. Jene Welt und Sinnen entsagenden Männer schwelgen oft bis in ein hohes Alter hinein in den sinnlichsten Phantasien. Dass viele sich gar wenig um die Glaubenslehre kümmerten, und dass die asketische Moral der Sufis öfter in das Gegenteil sich verwandelte, braucht uns nach alledem nicht zu wundern. Die Entwicklung des Sufismus im einzelnen zu verfolgen, ist mehr eine Aufgabe für die Religions- als für die Philosophiegeschichte. Auch finden wir die philosophischen Elemente, die darin aufgenommen wurden, bei den muslimischen Philosophen, denen wir im folgenden begegnen werden. 4. Litteratur und Geschichte. 1. Arabische Poesie und Annalistik haben sich unabhängig von Schulgelehrsamkeit ausgebildet. Im Laufe der Zeit aber wussten Litteratur und Geschichtschreibung sich nicht von fremden Einflüssen rein zu erhalten. Mit einigen Andeutungen, dies zu erhärten, müssen wir uns hier begnügen. Einen Bruch mit der poetischen Tradition des Arabertums, wie ihn das Christentum in der germanischen Welt verursachte, bedeutete die Einführung des Islam nicht. Schon die weltliche Litteratur der Omajjadenzeit überlieferte viele Weisheitssprüche, zum Teil aus der altarabischen Poesie, die der Koranpredigt Konkurrenz machten. Abbasidenchalife, wie Mansur, Harun und Mamun, waren litterarisch gebildeter als Karl der Große. Ihre Söhne wurden nicht nur mit Koranlektüre erzogen, sondern auch mit den alten Dichtern und der Volksgeschichte bekannt gemacht. Dichter und Litteraten wurden an die Höfe gezogen und fürstlich belohnt. Dort erfuhr dann die Litteratur den Einfluss gelehrter Bildung und philosophischer Spekulation, wenn auch in den meisten Fällen recht oberflächlich. Dies zeigt sich vor allem in skeptischen Äußerungen, frivoler Verspottung des Heiligsten und Verherrlichung des Sinnengenusses. Daneben aber drangen weise Sprüche, ernste Betrachtungen, mystische Spekulationen in die anfangs nüchtern-realistische Poesie der Araber ein. Statt der sinnlichen Frische der Darstellung trat ein ermüdendes Spiel mit Gedanken und Gefühlen, wenn nicht gar mit leeren Worten, Metren und Reimen, ein. 2. Der hässliche Abu-l-Atahia (748-828) redet in seiner süßlichen Poesie fast immer von unglücklicher Liebe und Verlangen nach dem Tode. Seine Weisheit spricht er in diesen Versen aus: Lass nach dem Zweifel den Verstand sich richten: Vor Sünde schützt am besten das Verzichten. Wer nur einiges Verständnis für das Leben und für Naturpoesie besitzt, wird sich an seinen Weltentsagungsgedichten ebensowenig erfreuen können, wie an den der Form nach zwar epigrammatischen, dem Inhalte nach aber furchtbar langweiligen Versen des Mutanabbi (905-965), den man wohl als den größten arabischen Dichter gefeiert hat. Ebenso hat man über Gebühr Abu-l-Ala al-Maarri (973-1058) als philosophischen Dichter erhoben. Seine, mitunter ganz ehrenwerten Gesinnungen und verständigen Ansichten sind weder Philosophie noch ist der gekünstelte und oft banale Ausdruck dafür Poesie. Als Philologe oder Historiker hätte dieser Mann bei günstigeren Verhältnissen (er war blind und nicht übermäßig reich) vielleicht in der niederen Kritik etwas leisten können. Nun aber muss er statt Begeisterung für das Leben freudenlose Entsagung predigen, an den politischen Verhältnissen, den Anschauungen der gläubigen Menge und den wissenschaftlichen Behauptungen der Gelehrten herumnörgeln, ohne selbst etwas Positives aufstellen zu können. Es fehlt ihm fast ganz die Gabe der Kombination. Analysieren kann er, aber er findet keine Synthese. Sein Wissen ist unfruchtbar. Der Baum seiner Erkenntnis hat die Wurzeln in der Luft, wie er selbst in einem seiner Briefe, wohl in anderem Sinne, eingesteht. Er lebt als strenger Cölibatär und Vegetarianer, wie es sich für einen Pessimisten geziemt. Es ist ja Alles, wie er in seinen Gedichten ausspricht, eitel Tand. Das Geschick ist blind, die Zeit verschont weder den König, der des Lebens genießt, noch den Frommen, der seine Nächte durchwacht. Auch der widervernünftige Glaube löst uns des Daseins Rätsel nicht. Was es hinter dem bewegten Himmel geben mag, bleibt uns ewig verborgen. Religionen, welche da eine Aussicht eröffnen, sind vom Eigennutz erfunden. Allerhand Sekten und Parteiungen werden von den Mächtigen benutzt, ihre Gewalt zu sichern. Die Wahrheit darüber darf man nur leise sagen. Darum ist es das klügste, sich von der Welt entfernt zu halten, uneigennützig Gutes zu thun, weil dies tugendhaft und schön ist, ohne irgendwelche Aussicht auf Belohnung. Andere Schöngeister hatten eine praktischere Philosophie und wussten sich besser in der Welt geltend zu machen. Sie huldigten der klugen Lehre des Theaterdirektors aus Goethes Faust: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. Der vollendetste Typus dieser Art ist Hariri (1054-1122), dessen Held, der Bettler und Landstreicher Abu Zaid von Serug als höchste Weisheit lehrt: Hetze, statt gehetzt zu werden; Welt ist all ein Wald für Hatzen. Wenn der Falke dir entgangen, Nimm fürlieb nur mit dem Spatzen; Und erhältst du nicht den Thaler, So begnüg' dich mit dem Batzen. [12] 3. Wie die Poesie, so zeichnete sich auch die Annalistik der alten Araber durch scharfe Erfassung des Einzelnen aus, war aber einer Gesamtauffassung der Ereignisse nicht fähig. Mit der gewaltigen Ausdehnung des Reiches erweiterte sich dann der Blick. Zunächst wurde ein großes Material gesammelt. Mehr als die religiösen Pilgerzüge förderten Reisen zur Sammlung von Traditionen, zum Zwecke der Verwaltung und des Handels, oder auch zur Befriedigung der Neugier unternommen, das geschichtliche und geographische Wissen. Eigentümliche Methoden der Forschung, auf den Wert der Überlieferung als Quelle unseres Wissens sich beziehend, wurden ausgearbeitet. Mit derselben Subtilität, wie in der Grammatik, ein ausgedehntes Feld der Beobachtung ins Unendliche einteilend, mehr arabeskenhaft als übersichtlich, bildete sich so eine Logik der Geschichte aus, die dem orientalischen Auge um vieles schöner erscheinen musste als das aristotelische Organon in seinem strengen Aufbau. Von vielen wurde die Überlieferung, mit deren Beglaubigung man es in der Regel praktisch weniger genau nahm als in der Theorie, dem Sinnenzeugnisse gleichgesetzt, und dem Verstandesurteile, das ja so leicht Fehlschlüsse zulasse, vorgezogen. Es gab aber immer Leute, die unparteiisch sich widersprechende Berichte neben einander überlieferten. Andere, obgleich mit Schonung für die Gefühle und Bedürfnisse der Gegenwart, hielten ihr mehr oder weniger begründetes Urteil über Vergangenes nicht zurück, wie es denn oft leichter ist, aus der Geschichte als aus dem Leben klug zu werden. Neue Gegenstände der Forschung, neue Betrachtungsweisen traten hinzu. Die Erdkunde nahm, z. B. in der Klimatogeographie, Naturphilosophisches auf, die Geschichtsschreibung zog auch das geistige Leben, Glauben und Sitte, Litteratur und Wissenschaft in den Bereich ihrer Darstellung. Die Bekanntschaft mit anderen Ländern und Völkern forderte vielfach zum Vergleiche auf. Und es kam also ein internationales, humanistisches Element herein. 4. Ein Vertreter humanistischer Sinnesweise ist Masudi (gest. etwa 956). Er hat Interesse und Verständnis für Alles, was menschlich ist. Überall lernt er von den Menschen, denen er begegnet, und infolgedessen ist die Bücherlektüre, die seine Einsamkeit ausfüllt, nicht unfruchtbar. Weder die enge Praxis des Lebens und Glaubens, noch die luftigen Spekulationen der Philosophie sagen ihm zu. Er kennt sein Talent. Und er findet bis zuletzt, wenn er fern von der Heimat in Ägypten sein Alter verbringt, seinen Trost, die Medizin seiner Seele, in dem Studium der Geschichte. Die Geschichte ist ihm die allesumfassende Wissenschaft, seine Philosophie, die die Wahrheit dessen, was war und ist, darzustellen hat. Auch die Weltweisheit mit ihrer Entwicklung wird der Geschichte zum Gegenstande. Ohne diese wäre ja alles Wissen längst zu Grunde gegangen. Denn die Gelehrten kommen und gehen, aber die Geschichte verzeichnet ihre Geistesthaten und stellt dadurch die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart her. Ohne Vorurteil berichtet sie über die Ereignisse und über die Ansichten der Menschen. Freilich, die Synthese der Thatsachen und die eigene Meinung des Verfassers herauszufinden, das überlässt Masudi oft dem verständigen Leser. Nach ihm darf rühmend hervorgehoben werden der Geograph Maqdasi (oder Muqaddasi, schrieb im Jahre 985), der viele Länder durchreiste und in den verschiedensten Berufen auftrat, das Leben seiner Zeit kennen zu lernen. Er ist ein wahrer Abu Zaid von Serug (vgl. II, 4 § 2), nur dass er einen Zweck hat. Kritisch geht er ans Werk. Er hält sich zu der Wissenschaft, die man durch Forschen und Nachfragen, nicht durch Traditionsglauben oder reine Vernunftschlüsse gewinnt. Was Geographisches im Koran steht, erklärt er sich aus dem engen Gesichtskreise der Araber, dem Allah sich anbequemt haben soll. Sine ira et studio beschreibt er nun die Länder und Völker, die er mit eigenen Augen sah. Er will an erster Stelle Selbsterlebtes darstellen, dann was er von glaubwürdigen Leuten vernommen, und endlich was er in Büchern gefunden. Aus seiner Selbstcharakteristik sind die folgenden Sätze zusammengezogen: "Ich habe allgemeine Bildung und Pflichtenlehre unterrichtet, bin als Prediger aufgetreten und habe von dem Minarete der Moscheen den Gebetsruf erschallen lassen. Gelehrten Sitzungen und frommen Übungen habe ich beigewohnt. Ich habe Suppe mit den Sufis, Brei mit den Mönchen und Schiffskost mit den Matrosen gegessen. Manchmal war ich die Eingezogenheit selbst, dann wieder aß ich verbotene Speisen gegen mein besseres Wissen. Ich ging mit den Einsiedlern des Libanons um und dann wieder lebte ich am fürstlichen Hofe. Kriege habe ich mitgemacht, auch saß ich gefangen und wurde als Spion in den Kerker geworfen. Mächtige Fürsten und Minister gaben mir Gehör, dann schloss ich mich wieder einer Räuberbande an oder saß als Kleinhändler auf dem Markte. Viel Ehren und Ansehen genoss ich, aber ebenso musste ich Schimpfworte hören und mich zum Eide erniedrigen, als ich der Ketzerei oder schlechter Handlungen verdächtigt ward." [13] Wir sind heutigen Tages gewöhnt, uns den Orientalen in beschaulicher Ruhe, Glauben und Sitte der Väter ergeben, vorzustellen. Ganz richtig ist die Vorstellung nicht. Aber weit weniger als zu der gegenwärtigen Lage stimmt sie zu der Verfassung des Islam in den ersten vier Jahrhunderten, als dieser sich anschickte, den Besitz nicht nur der äußeren Güter der Welt, sondern auch der geistigen Errungenschaften der Menschheit zu ergreifen. III. DIE PYTHAGOREISCHE PHILOSOPHIE. 1. Die Naturphilosophie. 1. Euklid und Ptolemäus, Hippokrat und Galen, einiges von Aristoteles, dazu ein umfangreiches neupythagoreisches und neuplatonisches Schrifttum, damit sind die Elemente der arabischen Naturphilosophie bezeichnet. Es ist eine Popularphilosophie, die, besonders durch die Sabier von Harran vermittelt, bei Schiiten und anderen Sekten Aufnahme fand, und die in der Folge nicht nur höfische Kreise, sondern auch eine ganze Masse von Gebildeten und Halbgebildeten ergriff. Einzelheiten aus den Schriften des "Logikers" Aristoteles wurden aufgenommen, aus der Meteorologie, aus der ihm zugeschriebenen Schrift Über die Welt, aus dem Buch der Tiere, der Psychologie u. s. w., aber der Geist des Ganzen ist von Pythagoras-Platon, von Stoikern und von späten Astrologen und Alchemisten bestimmt. Menschliche Neugierde und frommer Sinn, die Gottes Geheimnisse aus seinen Geschöpfen herauslesen möchten, gehen dabei über das praktische Bedürfnis, das etwas Rechenkunst für die Verteilung der Erbschaft und für den Handel, auch etwas Astronomie für die Zeitbestimmung gottesdienstlicher Verrichtungen brauchte, weit hinaus. Von überall her holt man sich seine Weisheit herbei. Es bekundet sich darin eine Gesinnung, die von Masudi richtig formuliert wurde: es sei das Gute anzuerkennen, ob es sich beim Feinde oder beim Freunde finde. Sollte doch Ali, der Fürst der Gläubigen, gesagt haben: "Die Weltweisheit ist das verirrte Schaf des Gläubigen, nimm es wieder auf, wenn auch von den Ungläubigen". 2. Der Patron mathematischer Studien im Islam ist Pythagoras. Zwar wird Griechisches und Indisches gemischt, aber Alles unter neupythagoreische Gesichtspunkte gestellt. Ohne das Studium der mathematischen Disziplinen: Arithmetik und Geometrie, Astronomie und Musik, wird Keiner, so heißt es, zum Philosophen oder gebildeten Arzt. Die Zahlenlehre, höher geschätzt als die Messkunde, weil sie weniger zur Anschauung spricht und den Geist dem Wesen der Dinge näher bringen soll, gibt zu den ausschweifendsten Spielereien Veranlassung. Gott ist selbstverständlich die große Eins, von der Alles ausgeht, selbst keine Zahl, sondern Ursache der Zahl. Vor allem aber wird die Vierzahl, die Zahl der Elemente u. s. w., von den Naturphilosophen bevorzugt. Bald kann man über nichts im Himmel und auf Erden mehr reden und schreiben, es sei denn in viergliedrigen Sätzen und viergeteilten Abhandlungen. Von der Mathematik kam man schnell und leicht zur Astronomie und Astrologie hinüber. Die altorientalische Praxis, die man vorfand, wurde schon von den Hofastrologen der Omajjaden, eingehender aber am abbasidischen Hofe weitergeführt. Man gelangte dabei zu Spekulationen, die dem Offenbarungsglauben zuwiderliefen und deshalb von den Hütern der Religion niemals gebilligt werden konnten. Für den Gläubigen bestand nur der Gegensatz: Gott und Welt, oder dieses Leben und das zukünftige. Für den Astrologen aber gab es zwei Welten, eine himmlische und eine irdische, und Gott und das Jenseits lagen in weiter Ferne. Je nachdem nun das Verhältnis zwischen den Himmelskörpern und den Dingen unter dem Monde vorgestellt wurde, bildete sich eine verständige Astronomie oder eine phantastische Astrologie heraus. Ganz frei vom astrologischen Wahne waren nur wenige. Solange nämlich das ptolemäische System die Wissenschaft beherrschte, war es einem gänzlich Ungebildeten leichter, den Unsinn zu verspotten, als es dem gelehrten Forscher war, ihn zu überwinden. War ihm doch diese Erde mit ihren Lebewesen ein Erzeugnis himmlischer Kräfte, ein Abglanz himmlischen Lichtes, ein Nachklang der ewigen Sphärenharmonie. Wer nun den Sternen- und Sphärengeistern Vorstellung und Willen zuschrieb, ließ sie die Stelle der göttlichen Vorsehung vertreten, führte auf ihre Thätigkeit also Gutes und Böses zurück und suchte aus dem Stande ihrer Körper, mittelst derer sie nach dauernden Gesetzen auf das Irdische wirken, die zukünftigen Ereignisse zu erkunden. Andere freilich bezweifelten diese Vorsehung zweiter Ordnung, sei es aus Erfahrungs- und Vernunftgründen, sei es aus dem peripatetischen Glauben, dass die seligen himmlischen Wesen reine denkende Geister seien, über Vorstellung und Willen, somit über alle sinnliche Besonderheit erhaben, sodass ihre fürsorgliche Wirkung nur das Wohl des Ganzen bezwecke, niemals aber auf die Einzelpersönlichkeit oder das Einzelgeschehen sich beziehen könne. 3. Auf dem Gebiete der Naturwissenschaften haben muslimische Gelehrte ein reiches Material zusammengebracht, zu einer wirklich wissenschaftlichen Behandlung ist es aber kaum irgendwo gekommen. In den einzelnen Naturwissenschaften, deren Ausbildung hier nicht verfolgt werden kann, hielt man sich an überlieferten Systemen. Um die Weisheit Gottes und die Wirkungen der Natur, die als eine Kraft oder eine Emanation der Weltseele gefasst wurde, zu ergründen, wurden alchemistische Versuche angestellt, die Zauberkräfte der Talismane geprüft, die Einflüsse der Musik auf Tier- und Menschenseele erforscht, physiognomische Beobachtungen gemacht, die Wunder des Schlaf- und Traumlebens, der Wahrsagerei und Prophetie zu deuten versucht u. s. w. Im Mittelpunkt des Interesses stand natürlich der Mensch als Mikrokosmos, der sämtliche Elemente und Kräfte des Alls in sich vereinigen soll. Als das Wesentliche am Menschen galt die Seele. Ihr Verhältnis zur Weltseele und ihr zukünftiges Los waren Gegenstände der Forschung. Aber auch über die Vermögen der Seele und deren Lokalisierung in Herz und Hirn wurde viel spekuliert. Einige hielten sich an Galen, andere gingen über ihn hinaus und ließen den fünf äußeren Sinnen fünf innere entsprechen, eine Lehre, die, nebst ähnlichen Naturgeheimnissen, auf Apollonius von Tyane zurückgeführt wurde. Es versteht sich, dass bei dem Studium der mathematischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen die verschiedensten Verhaltungsweisen gegenüber den Religionslehren möglich waren. Doch wurden die propädeutischen Wissenschaften, sobald sie selbständig auftraten, dem Glauben immer gefährlich. Mit der Astronomie verband sich leicht die Annahme von der Weltewigkeit, von einer ungeschaffenen Materie, von Ewigkeit her bewegt. Und wenn die Himmelsbewegung ewig, dann wohl auch der irdische Wechsel. Ewig sind, so wird von manchem gelehrt, alle Reiche der Natur, ewig ist auch das Menschengeschlecht und dreht sich im Kreise herum. Nichts Neues gibt es auf der Welt, wie alles Andere wiederholen sich Ansichten und Begriffe der Menschen. Was nur möglicherweise gethan, behauptet, gewusst werden kann, ist schon dagewesen und wird einmal wieder da sein. Darüber ließ sich nun trefflich reden und klagen, ohne dass die Wissenschaft viel dadurch gefördert wurde. 4. Etwas nützlicher schien die Wissenschaft der Medizin zu sein, die aus naheliegenden Gründen von den hohen Herren begünstigt wurde. Nicht am wenigsten ihretwegen beauftragten die Chalifen so viele Männer mit dem Übersetzen griechischer Werke. Kein Wunder also, dass der Einfluss mathematisch-naturwissenschaftlicher Lehren, sowie der Logik, auch in die Medizin eindrang. Der alte Mediziner war geneigt, sich mit hergebrachten Zauberformeln und anderen von der Erfahrung erprobten Mitteln zu begnügen. Aber die moderne Gesellschaft des neunten Jahrhunderts forderte vom Arzte philosophisches Wissen. Er sollte die "Naturen" der Nahrungs-, Genuss- und Heilmittel, die Mischungen des Körpers und in jedem Falle die Einwirkungen der Gestirne kennen. Der Arzt war der Bruder des Astrologen, dessen Wissen ihm imponierte, weil es einen erhabeneren Gegenstand hatte als die medizinische Praxis. Er sollte beim Alchemisten in die Schule gehen und nach mathematisch-logischen Methoden seine Kunst ausüben. Es genügte den Bildungsfanatikern des neunten Jahrhunderts nicht, dass der Mensch nach dem Qijas, d. h. logisch richtig zu sprechen, zu glauben und sich zu benehmen hatte, er musste sich außerdem nach dem Qijas kurieren lassen. Wie über die Grundlagen der Glaubens- und Pflichtenlehre, wurde, am Hofe Wathik's (842-847), über die Prinzipien der Medizin in gelehrten Sitzungen disputiert. Es fragte sich nämlich, mit Anlehnung an eine galenische Schrift, ob die Medizin auf Überlieferung, Erfahrung oder Vernunfterkenntnis beruhe, oder aber ob sie durch logische Deduktion (Qijas) auf mathematisch-naturwissenschaftliche Sätze sich stütze. 5. Die hier flüchtig skizzierte Naturphilosophie galt den meisten Gelehrten des neunten Jahrhunderts als Philosophie schlechthin, im Gegensatz zu der theologischen Dialektik, und wurde als pythagoreisch bezeichnet. Auch in das zehnte Jahrhundert ging sie hinüber und ihr bedeutendster Vertreter wurde der berühmte Arzt Razi (gest. 923 oder 932). Dieser war in Rai geboren und mathematisch gebildet und hatte dann mit großem Fleiße Medizin und Naturphilosophie studiert. Der Dialektik war er abhold, er kannte die Logik nur bis zu den kategorischen Figuren der ersten Analytik. Nachdem er als Direktor des Krankenhauses seiner Vaterstadt und in Bagdad thätig gewesen war, ging er auf Reisen und hielt sich an verschiedenen Fürstenhöfen auf, u. a. bei dem Samaniden Mansur ibn Ishaq, dem er ein medizinisches Werk widmete. Vom ärztlichen Berufe und dem dazu erforderlichen Studium hat Razi eine hohe Meinung. Die tausendjährige Weisheit der Bücher schätzt er mehr als die Erfahrungen des Einzelnen in einem kurzen Leben, zieht aber diese den nicht erfahrungsmäßig erprobten Folgerungen der "Logiker" vor. Das Verhältnis zwischen Leib und Seele denkt er sich von der Seele bestimmt. Es sollen also die Zustände und Leiden der Seele aus der Physiognomie sich erkennen lassen, der Mediziner soll zugleich Seelenarzt sein. Er verfasste darum auch eine geistige Medizin, eine Art Diätetik der Seele. Um die Vorschriften des muslimischen Gesetzes, das Weinverbot u. s. w., kümmerte er sich dabei nicht. Sein Libertinismus scheint ihn aber zum Pessimismus geführt zu haben. Er fand nämlich mehr Übel als Gutes in der Welt und bezeichnete die Lust als Abwesenheit von Unlust. Wie hoch Razi den Aristoteles und Galen schätzte, um ein tieferes Verständnis ihrer Werke hat er sich doch nicht sonderlich bemüht. Eifrig betrieb er die Alchemie, seiner Ansicht nach eine in der Existenz einer Urmaterie begründete wirkliche Kunst, die den Philosophen unerlässlich sei, glaubte auch, sie wäre von Pythagoras, Demokrit, Platon, Aristoteles und Galen ausgeübt worden. Entgegen der peripatetischen Lehre nahm er an, der Körper habe das Prinzip der Bewegung in sich selbst, was allerdings ein fruchtbarer Gedanke in der Naturwissenschaft hätte werden können, wenn er anerkannt und weiter ausgebildet worden wäre. Razis Metaphysik geht aus von alten Lehren, die seine Zeitgenossen dem Anaxagoras, Empedokles, Mani u. A. zuschrieben. An der Spitze seines Systems stehen fünf gleichewige Prinzipien, der Schöpfer, die Universalseele, die erste oder Urmaterie, der absolute Raum und die absolute Zeit oder ewige Dauer. Damit sind die notwendigen Bedingungen der wirklich existierenden Welt gegeben. Die einzelnen Sinneswahrnehmungen setzen überhaupt eine Materie voraus, wie die Zusammenfassung verschiedener wahrgenommener Gegenstände einen Raum. Die wahrgenommenen Veränderungen zwingen uns ferner zur Annahme einer Zeit. Die Existenz lebendiger Wesen führt uns auf eine Seele, und dass einige von diesen lebendigen Wesen mit Vernunft begabt sind, d. h. befähigt, die Künste zur höchsten Vollkommenheit zu bringen, dies nötigt uns an einen weisen Schöpfer zu glauben, dessen Vernunft alles aufs beste angeordnet hat. Trotz der Ewigkeit seiner fünf Prinzipien spricht Razi also von einem Schöpfer und gibt auch eine Schöpfungsgeschichte. Zuerst nämlich wurde ein einfaches, reines, geistiges Licht erschaffen, die Materie der Seelen, welche lichtartige, einfache, geistige Substanzen sind. Jene Lichtmaterie oder die Oberwelt, aus der die Seelen herkamen, heißt auch Vernunft oder Licht vom Lichte Gottes. Dem Lichte folgt der Schatten, aus dem, zum Dienste der vernünftigen Seele, die animalische Seele geschaffen wird. Zugleich aber mit dem einfachen, geistigen Lichte war schon anfangs ein zusammengesetztes da, das ist der Körper, aus dessen Schatten nun die vier Naturen, Wärme und Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit, hervorgehen. Aus diesen vier Naturen werden zuletzt sämtliche himmlische und irdische Körper gebildet. Aber das Alles geschieht von Ewigkeit her, ohne zeitlichen Anfang, denn Gott war nie ohne Thätigkeit. Dass Razi Astrolog war, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. Die Himmelskörper bestehen ja nach ihm aus denselben Elementen wie die irdischen Dinge und diese sind den Einwirkungen jener fortwährend ausgesetzt. 6. Razi hatte sich nach zwei Seiten hin polemisch zu verhalten. Er bekämpfte einerseits die muslimische Einheit Gottes, die keine ewige Seele, Materie, Raum und Zeit neben sich duldet, andererseits aber wendete er sich gegen das dahritische System, das keinen Weltschöpfer anerkennt. Dieses System, das von muslimischen Schriftstellern öfter, mit dem gehörigen Abscheu natürlich, erwähnt wird, scheint, wenn auch zahlreiche, doch keine bedeutende Vertreter gefunden zu haben. Die Anhänger des Dahr (s. I, 2 § 2) werden als Materialisten, Sensualisten, Atheisten, Anhänger der Seelenwanderung u. s. w. uns vorgeführt, aber Genaueres über ihre Lehren erfahren wir nicht. Die Dahriten hatten jedenfalls nicht das Bedürfnis, alles Seiende auf ein Prinzip zurückzuführen, das geistigen Wesens und schaffenden Wirkens war. Und eines solchen Prinzipes bedurfte die muslimische Philosophie, sollte sie sich mit der Glaubenslehre auch nur einigermaßen vertragen. Dazu eignete sich die Naturphilosophie nicht, weil diese mehr Interesse zeigte für die mannigfachen und oft gegensätzlichen Wirkungen der Natur als für den Einen Urgrund des Alls. Besser aber erfüllte diesen Zweck der neuplatonische Aristotelismus, dessen logisch-metaphysische Spekulation darauf ausging, alles Seiende auf ein höchstes Sein zurückzuführen oder alle Dinge aus einem obersten Wirkungsprinzip abzuleiten. Doch bevor wir uns dieser Richtung des Denkens, die schon im neunten Jahrhundert sich zu zeigen anfing, zuwenden, haben wir noch über einen Versuch zu berichten, die Naturphilosophie mit den Lehren des Glaubens zu einer Religionsphilosophie zu verschmelzen. 2. Die treuen Brüder von Basra. 1. Im Orient, wo jede Religion einen Staat im Staate bildete, trat eine politische Partei, schon damit sie überhaupt Anhänger gewinne, immer zugleich als religiöse Sekte auf. Prinzipiell kannte nun der Islam keinen Unterschied zwischen den Menschen, keine Kasten oder Stände. Aber Besitz und Bildung haben überall dieselbe Wirkung. Und in ihrem Gefolge fing man an, Grade der Frömmigkeit und Stufen der Erkenntnis aufzustellen, danach Gemeinde oder Partei sich einteilen ließe. So entstanden geheime Gesellschaften mit verschiedenen Graden, deren höchster oder nächsthöchster eine Geheimlehre besaß, die der neupythagoreischen Naturphilosophie manches entlehnte. Zu ihrem Zwecke, Eroberung politischer Macht, war jedes Mittel erlaubt. Für die Eingeweihten wurde der Koran allegorisch ausgelegt. Zwar führte man diese geheime Weisheit auf Propheten mit biblischen und koranischen Namen zurück, es steckten aber heidnische Philosophen dahinter. Die Philosophie wurde ganz zu einer politischen Mythologie umgebildet. Die hohen Geister und Seelen, die theoretische Denker in Gestirnen und Planeten erkannten, verkörperten sich für die Realpolitik in menschliche Wesen, denen zur Gründung eines irdischen Reiches der Gerechtigkeit behülflich zu sein, als religiöse Pflicht verkündigt ward. Man kann die Gesellschaften, die solches betrieben, am besten mit Vereinen vergleichen, wie sie bis auf den Saint-Simonismus und verwandte Erscheinungen dieses Jahrhunderts, in Ländern, wo die Geistesfreiheit beschränkt ist, aufzutreten pflegen. Urheber einer solchen Bewegung war, in der zweiten Hälfte des neunten Jahrhunderts, das Haupt der Karmatenpartei, Abdallah ibn Maimun. Er war ein persischer Augenarzt, in der Schule der Naturphilosophen gebildet. Gläubige und Freidenker wusste er in einen Bund zusammenzuschließen, um den Versuch zu machen, die abbasidische Regierung zu stürzen. Dem Einen war er ein Gaukler, dem Andern ein frommer Asket oder ein gelehrter Philosoph. Seine Farbe war weiß, weil seine Religion die des reinen Lichtes, zu dem die Seele nach ihren irdischen Wanderungen aufsteigen sollte. Verachtung des Körpers, Geringschätzung der materiellen, allen Bundesbrüdern gemeinsamen Güter wurde gepredigt, sowie Hingebung an den Bund, Treue und Gehorsam bis in den Tod gegen seine Oberen. Denn der Bund stufte sich in Graden ab. Nach der Stufenfolge des Seins, Gott, Vernunft, Seele, Raum und Zeit, stellte man sich die Offenbarung Gottes in der Geschichte und in der Verfassung seines Bundes vor. 2. Die Hauptstätten der karmatischen Wirksamkeit waren Basra und Kufa. Nun aber finden wir in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts in Basra eine kleine Gesellschaft von Männern, deren Bund vier Grade haben soll. Inwiefern es den Brüdern gelungen ist, die ideelle Gliederung ihres Bundes zu verwirklichen, wissen wir freilich nicht. Dem ersten Grade gehören die jungen Männer von 15 bis 30 Jahren an, deren Seelen in natürlicher Weise ausgebildet werden. Als Schüler haben sie sich ganz ihren Lehrern zu fügen. Der zweite Grad (30-40 Jahre) wird in die Weltweisheit eingeführt und bekommt eine analoge Erkenntnis der Dinge. Im dritten Grade (40-50 Jahre) wird das göttliche Weltgesetz in adäquater Form erkannt, es ist das die Stufe der Propheten. Im höchsten Grade endlich, wenn man über 50 Jahre hinaus ist, erlebt man, wie die seligen Engel, die wahre Wirklichkeit der Dinge. Man ist da über Natur, Lehre und Gesetz erhaben. Aus diesem Brüderbunde ist uns eine stufenmäßig fortschreitende Encyklopädie der damaligen Wissenschaften erhalten. Sie besteht aus 51 (ursprünglich vielleicht 50) Abhandlungen, die inhaltlich verschiedener Art und Herkunft sind, sodass es den Redaktoren oder Compilatoren nicht gelungen ist, eine durchgängige Übereinstimmung herzustellen. Im allgemeinen aber findet sich in dieser Encyklopädie ein eklektischer Gnostizismus auf naturphilosophischer Grundlage mit politischem Hintergrunde. Mit mathematischen Betrachtungen, voll Zahlen- und Buchstabenspiel hebt die Darstellung an, durch Logik und Physik, aber Alles auf die Seele und ihre Kräfte beziehend, schreitet sie fort, um endlich in mystisch-zauberischer Weise sich der Erkenntnis der Gottheit zu nähern. Das Ganze stellt sich als die Lehre einer verfolgten Sekte dar, ab und zu blickt das Politische hindurch. Wir sehen noch etwas von Leiden und Kampf, von Bedrückungen, denen die Männer dieser Encyklopädie oder ihre Vorgänger ausgesetzt waren, von Hoffnung, die sie hegen, von Duldung, die sie predigen. Sie suchen in dieser spiritualistischen Philosophie Trost oder Erlösung, sie ist ihre Religion. Treu bis zum Tode, heißt es, sollen die Brüder sein, denn für der Freunde Wohl in den Tod zu gehen, das ist der wahre heilige Krieg. Auf der Pilgerfahrt des Lebens durch diese Welt, so wird die verpflichtete Reise nach Mekka allegorisiert, soll Einer dem Andern mit allen Mitteln beistehen. Die Reichen sollen von ihren materiellen, die Weisen von ihren geistigen Gütern den Anderen mitteilen. Doch ist das Wissen, wie wir es in der Encyklopädie haben, wohl hauptsächlich den Eingeweihten der höchsten Grade vorbehalten worden. Es scheint nun allerdings dieser Bund der treuen Brüder von Basra, wie vielleicht eine Zweigniederlassung in Bagdad, ein stilles Dasein geführt zu haben. Die Brüder mögen sich zu den Karmaten etwa verhalten haben wie die ruhigeren Taufgesinnten zu den revolutionären Wiedertäufern des Königs von Sion. Als Mitglieder des Bundes und Verfasser der Encyklopädie werden uns von Späteren genannt: Abu Sulaiman Mohammed ibn Muschir al-Busti, genannt al-Muqaddasi, Abu-l-Hasan Ali ibn Harun al-Zandschani, Mohammed ibn Achmed al-Nahradschuri, al-Aufi und Zaid ibn Rifaa. Zur Zeit ihres Wirkens hatte das Chalifat seine weltliche Macht schon ganz dem schiitischen Bujidenhause (945) abtreten müssen. Wahrscheinlich begünstigte dieser Umstand das Hervortreten mit einer Encyklopädie, in der schiitische und mutazilitische Lehren mit den Ergebnissen der Philosophie zu einem populären System zusammengefasst waren. 3. Die Brüder bekennen sich selbst zum Eklektizismus. Sie wollen die Weisheit aller Völker und Religionen sammeln. Noah und Abraham, Sokrates und Platon, Zoroaster und Jesus, Mohammed und Ali sind ihre Propheten. Sokrates, Jesus und seine Apostel, sowie die Aliden, werden als heilige Märtyrer ihres Vernunftglaubens verehrt. Das Religionsgesetz in seinem buchstäblichen Sinne heißt gut für den gemeinen Mann, eine Medizin für schwache und kranke Seelen; für starke Geister aber ist die tiefere philosophische Einsicht. Der Körper wird dem Tode geweiht, Sterben bedeutet Auferstehen zum reinen Leben des Geistes, für diejenigen nämlich, die schon während ihres Erdendaseins durch philosophische Betrachtungen aus sorglosem Schlummer und thörichtem Schlaf erwacht sind. Mit endlosen Wiederholungen, durch Legenden und Sagen spätgriechischer, jüdisch-christlicher, persischer oder indischer Herkunft, wird dieses eingeschärft. Alles Vergängliche wird dabei zum Gleichnis. Auf den Trümmern der positiven Religion und der naiven Ansicht baut sich eine spiritualistische Philosophie auf, alles Wissen und Streben der Menschheit, sofern es in den Gesichtskreis der Brüder getreten ist, umfassend. Der Zweck ihres Philosophierens heißt das Gottähnlichwerden der Seele, soweit es Menschen möglich ist. In der Darstellung treten, aus begreiflichen Gründen, die negativen Tendenzen der Brüder etwas zurück. Am rücksichtslosesten aber tritt ihre Kritik der menschlichen Gesellschaft und der positiven Religionen hervor in dem Buche vom Tier und Mensch, wo die Einkleidung es ihnen ermöglicht, die Tiere sagen zu lassen, was aus menschlichem Munde zu hören, bedenklich werden könnte. 4. Der eklektische Charakter und die in den Unterteilen wenig systematische Art der Darstellung erschwert es, die Philosophie der Brüder einheitlich zu entwickeln. Doch sollen hier die wichtigsten Sätze, wenn auch mitunter in loser Verknüpfung, zusammengereiht werden. Die Geistesthätigkeit des Menschen zerfällt, nach der Encyklopädie, in Kunst und Wissenschaft. Wissen nun ist die Form des Gewussten in der wissenden Seele oder eine höhere, feinere, geistigere Existenzweise des im Stoffe Wirklichen. Kunst dagegen ist das Hervorgehenlassen der Form aus der Künstlerseele in die Materie hinein. Das Wissen ist potentiell in der Seele des Schülers vorhanden, wird aber erst aktuell durch die belehrende Thätigkeit eines Meisters, der das Wissen als ein Wirkliches in sich trägt. Woher aber hat es der erste Meister? Nach den Philosophen, so antworten die Brüder, hat er es sich durch eigenes Nachdenken erworben, nach den Theologen durch prophetische Erleuchtung erhalten, nach unserer Meinung aber gibt es verschiedene Wege oder Vermittelungen, zum Wissen zu gelangen. Aus der Mittelstellung der Seele zwischen Körper- und Geisteswelt ergeben sich schon drei Wege oder Quellen der Erkenntnis. Die Seele erkennt nämlich das, was unter ihr steht, durch die Sinne, das, was über ihr ist, durch logische Folgerung, und endlich sich selbst durch vernünftige Betrachtung oder unmittelbare Anschauung. Von diesen Arten ist die Selbsterkenntnis die gewisseste und vorzüglichste. Das menschliche Wissen erweist sich, wenn es darüber hinauszugehen versucht, vielfach beschränkt. Über Fragen, wie Weltentstehung und Weltewigkeit, soll man deshalb nicht gleich philosophieren, sondern sich zunächst an dem Einfacheren versuchen. Und nur durch Weltentsagung und gerechten Wandel erhebt die Seele sich allmählich zur reinen Erkenntnis des Höchsten. 5. Nach der weltlichen Bildung in Sprachwissenschaft, Poesie und Geschichte und nach der religiösen Erziehung und Glaubenslehre, soll das philosophische Studium mit den mathematischen Disziplinen anfangen. Alles wird hier neupythagoreisch-indisch dargestellt. Nicht nur die Zahlen, auch die Buchstaben werden zu kindischen Spielereien benutzt. Es kam da den Brüdern besonders zu statten, dass das arabische Alphabet 28 = 4 × 7 Buchstaben zählt. Statt nach sachlichen Gesichtspunkten zu verfahren, wird durch alle Wissenschaften hindurch nach sprachlichen Analogien und Zahlenverhältnissen phantasiert. Die Arithmetik untersucht nicht die Zahl als solche, sondern deren Bedeutsamkeit. Es wird nicht für die Erscheinungen ein zahlenmäßiger Ausdruck gesucht, sondern nach dem System der Zahlen werden die Dinge gedeutet. Die Zahlenlehre ist göttliche Weisheit, die über den Dingen ist, denn die Dinge sind erst den Zahlen nachgebildet. Das absolute Prinzip alles Seienden und Gedachten ist die Eins. Daher steht die Wissenschaft der Zahl am Anfang, in der Mitte und am Ende aller Philosophie. Die Geometrie mit ihren anschaulichen Figuren dient nur dazu, Anfängern das Verständnis zu erleichtern, wahre, reine Wissenschaft aber ist allein die Arithmetik. Doch wird auch die Geometrie eingeteilt in eine sinnliche, die Linien, Flächen und Körper zum Gegenstande hat, und eine reine oder geistige, die von den Dimensionen oder Eigenschaften der Dinge, Länge, Breite und Tiefe, handelt. Der Zweck sowohl der Arithmetik als der Geometrie ist, die Seele vom Sinnlichen auf das Geistige hinzuführen. Zuerst führen sie uns dann zur Betrachtung der Gestirne. In der Astrologie bietet nun die Encyklopädie, wie nicht anders zu erwarten ist, höchst phantastische, zum Teil sich widersprechende Lehren. Durch das Ganze geht die Überzeugung hindurch, dass die Gestirne nicht bloß Zukünftiges vorhersagen, sondern dass sie alles Geschehen unter dem Monde direkt beeinflussen oder bewirken. Sowohl Glück als Unglück kommt von ihnen her. Jupiter, Venus und die Sonne führen Glück, Saturn, Mars und der Mond dagegen Unglück herbei, und die Wirkungen des Merkur sind aus Gutem und Bösem gemischt. Merkur ist der Herr der Bildung und der Wissenschaft; ihm verdanken wir unsere Erkenntnis, die Gutes und Böses umfasst. So hat denn auch jeder andere Planet seinen eigenen Wirkungskreis, und der Mensch empfindet in seinem Leben, wenn er nicht vorzeitig weggerafft wird, nach und nach die Einflüsse sämtlicher Himmelskörper. Der Mond lässt seinen Körper wachsen und Merkur bildet seinen Geist aus. Dann beherrscht ihn Venus. Die Sonne gibt ihm Familie, Reichtum oder Herrschaft, Mars Tapferkeit und Edelsinn. Darauf bereitet er sich, unter Jupiters Führung, durch religiöse Übungen zur Reise ins Jenseits vor und gelangt unter dem Einflusse Saturns zur Ruhe. Viele Menschen aber leben nicht lange genug oder sind nicht in der Lage, ihre natürlichen Anlagen in ungestörter Folge zu entwickeln. Darum schickt Gott ihnen gnädig seine Propheten, nach deren Lehre man sich auch in kurzer Frist und unter ungünstigen Verhältnissen vollständig ausbilden kann. 6. Nach der Encyklopädie ist der Mathematik die Logik verwandt. Wie nämlich die Mathematik vom Sinnlichen zum Geistigen hinführt, so nimmt auch die Logik eine Mittelstellung zwischen Physik und Metaphysik ein. Die Physik hat es mit den Körpern, die Metaphysik mit den reinen Geistern zu thun, die Logik aber behandelt die Begriffe dieser sowie die Vorstellungen jener in unserer Seele. Doch steht die Logik der Mathematik an Umfang und Bedeutung nach. Denn das Mathematische wird nicht nur als ein Mittleres, sondern auch als das Wesen des Alls gefasst. Hingegen bleibt die Logik ganz auf die seelischen Gebilde als ein Mittleres zwischen Körper und Geist beschränkt. Die Dinge richten sich nach den Zahlen, unsere Vorstellungen und Begriffe aber nach den Dingen. Die logischen Betrachtungen der Brüder knüpfen sich an Porphyrs Einleitung und die Kategorien, die Hermeneutik und die Analytiken des Aristoteles. Eigentümliches bieten sie nicht oder sehr wenig. Zu den fünf Worten des Porphyr wird als sechstes das Individuum hinzugefügt, wohl der Symmetrie wegen. Drei davon, Gattung, Art, Individuum, heißen dann objektive, und drei, Differenz, Proprium, Accidens, begriffliche Bestimmungen. Die Kategorien sind Gattungsbegriffe, von denen der erste die Substanz, die neun anderen deren Accidenzen bezeichnen. Durch Einteilung in Arten wird ferner das ganze System der Begriffe entwickelt. Außer der Einteilung aber gibt es noch drei logische Methoden: Analyse, Definition und Deduktion. Die Analyse ist die Methode für Anfänger, weil sie das Individuelle erkennen lässt. Subtiler aber, das Geistige uns erschließend, sind die Definition, welche die Arten, und die Deduktion, welche die Gattungen in ihrem Wesen ergründet. Über das Dasein der Dinge belehren uns die Sinne, der Dinge Wesenheit aber wird durch Nachdenken erkannt. Was die Sinne uns zu erkennen geben, ist wenig, wie die Buchstaben des Alphabets; bedeutender schon, wie die Worte, sind die Prinzipien der Vernunfterkenntnis; das Wichtigste aber sind die aus jenen Prinzipien abgeleiteten Sätze, die der menschliche Geist sich selbst erwirbt oder aneignet, im Unterschiede von demjenigen Wissen, das ihm die Natur oder die göttliche Offenbarung erteilt hat. 7. Von Gott, dem höchsten Sein, der über alle Unterschiede und Gegensätze, auch des Körperlichen und Geistigen, erhaben ist, wird die ganze Welt auf dem Wege der Emanation abgeleitet. Wenn mitunter von einer Schöpfung die Rede ist, so ist das als eine Anbequemung an den theologischen Sprachgebrauch aufzufassen. Folgendermaßen stellt sich nun die Stufenreihe der emanierten Wesen dar: 1. der schaffende Geist (nous, `aql); 2. der leidende Geist oder die Allseele; 3. die erste Materie; 4. die wirkende Natur, eine Kraft der Weltseele; 5. der absolute Körper, auch zweite Materie genannt; 6. die Sphärenwelt; 7. die Elemente der sublunarischen Welt; 8. die aus diesen Elementen zusammengesetzten Mineralien, Pflanzen und Tiere. Das sind also acht Wesen, die zusammen mit Gott, der absoluten Eins, die in und mit jedem Dinge ist, die Reihe der den neun Grundzahlen entsprechenden Urwesen vollenden. Geist, Seele, Urmaterie und Natur sind einfach, mit dem Körper aber betreten wir das Gebiet des Zusammengesetzten. Alles ist hier entweder Materie oder Form, Substanz oder Accidens. Die ersten Substanzen sind Materie und Form, die ersten Accidenzen oder Eigenschaften Raum, Bewegung und Zeit, denen man wohl im Sinne der Brüder den Ton und das Licht hinzufügen könnte. Die Materie ist eins, alle Vielheit und Verschiedenheit rührt von den Formen her. Die Substanz wird auch als die konstituierende, materielle, das Accidens als die vollendende, geistige Form bezeichnet. Klar spricht die Encyklopädie sich nicht aus. Jedenfalls aber wird die Substantialität mehr im Allgemeinen als im Besonderen gesucht und die Form der Materie vorgezogen. Wie ein Gespenst schreckt die substantielle Form von jedem Eingehen auf das Materielle ab. Wie Herren nach ihrer Willkür wandern die Formen durch die niedere Welt der Materie. Von einer inneren Beziehung zwischen Materie und Form ist keine Spur zu entdecken. Nicht nur gedanklich, sondern auch real lassen sie sich trennen. Hieraus lässt sich schon ein Begriff von der Naturgeschichte der Brüder bilden. Man hat sie als Darwinisten des zehnten Jahrhunderts hingestellt. Nichts ist weniger richtig. Zwar ergeben die verschiedenen Reiche der Natur, nach der Encyklopädie, eine aufsteigende und zusammenhängende Reihe. Aber nicht nach der Körperbildung wird das Verhältnis bestimmt, sondern nach der inneren Form oder der Seelensubstanz. In mystischer Weise wandert die Form vom Niederen zum Höheren und umgekehrt, nicht nach inneren Bildungsgesetzen oder durch Anpassung an das Äußere modifiziert, sondern nach den Einwirkungen der Gestirne und, wenigstens beim Menschen, nach praktischem und theoretischem Verhalten. Eine Entwicklungsgeschichte in modernem Sinne zu geben, lag den Brüdern ganz fern. Ausdrücklich betonen sie z. B., Pferd und Elephant seien menschenähnlicher als der Affe, obgleich beim letzteren die körperliche Übereinkunft größer. Aber der Körper ist ja etwas ganz Nebensächliches in ihrem System, der Tod des Körpers heißt die Geburt der Seele. Nur die Seele ist ein wirkendes Wesen, das sich den Körper schafft. 8. Die Naturlehre der Brüder geht demnach fast vollständig in Psychologie auf. Beschränken wir uns hier auf die menschliche Seele. Sie steht in der Mitte des Alls. Wie die Welt ein großer Mensch, ist der Mensch eine kleine Welt. Die menschliche Seele ist von der Weltseele emaniert, und die Seelen sämtlicher Individuen bilden zusammen eine Substanz, die man den absoluten Menschen oder den Geist der Menschheit nennen könnte. Jede Einzelseele aber steckt in der Materie und muss sich allmählich zum Geiste hinbilden. Dazu hat sie viele Vermögen oder Kräfte. Von diesen sind die theoretischen Vermögen die vorzüglichsten, denn in der Erkenntnis besteht das Leben der Seele. Die Seele des Kindes ist zunächst wie ein weißes Blatt. Was die fünf Sinne ihr zuführen, wird, vorn, mitten und hinten im Gehirne, erstens vorgestellt, zweitens beurteilt und drittens aufbewahrt. Durch das Vermögen der Sprache und die Schreibkunst, womit die entsprechende Fünfzahl innerer Sinne erreicht ist, wird dann der Vorstellungsinhalt verwirklicht. Unter den äußeren Sinnen geht das Gehör dem Gesichte voran, denn dieses bezieht sich, ein Sklave des Augenblickes, auf das sinnlich Gegenwärtige, dagegen das Gehör auch Vergangenes erfasst und die Harmonie der tönenden Sphären empfindet. Gehör und Gesicht bilden zusammen die Gruppe geistiger Sinne, deren Wirkung zeitlos von statten gehen soll. Während nun der Mensch die äußeren Sinne mit den Tieren gemein hat, so bekundet sich in der Urteilskraft, in der Sprache und im Handeln die spezifisch menschliche Vernunft. Diese urteilt über gut und böse, nach welchem Urteile der Wille sich entscheidet. Besonders aber ist die Bedeutung der Sprache für das Erkenntnisleben der Seele hervorzuheben. Ein Begriff, der nicht durch irgend einen Ausdruck in irgend einer Sprache bezeichnet werden kann, ist eben kein denkbarer Begriff. Das Wort ist der Körper des Gedankens, der rein für sich nicht bestehen kann. Wie aber diese Auffassung vom Verhältnis zwischen Begriff und Ausdruck zu sonstigen Meinungen der Brüder stimmen soll, ist nicht einzusehen. 9. Auf ihrer höchsten Stufe wird die Lehre der Brüder Religionsphilosophie. Eine Versöhnung zwischen Wissenschaft und Leben, Philosophie und Glauben ist ihre Absicht. Da sind nun die Menschen sehr verschieden. Der gewöhnliche Mensch braucht einen sinnlichen Gottesdienst. Aber wie die Seele des gemeinen Mannes Tier- und Pflanzenseele unter sich hat, so stehen über ihr die Seele des Philosophen und des Propheten, dem sich der reine Engel anschließt. Auf den höheren Stufen erhebt sich die Seele auch über die niedere Volksreligion, deren sinnliche Vorstellungen und Gebräuche. Als die vollkommenere religiöse Offenbarung erschien den Brüdern wohl das Christentum, auch der zoroastrische Glaube. Unser Prophet Mohammed, sagen sie, wurde an ein ungebildetes Volk von Wüstenbewohnern geschickt, die weder von der Schönheit dieser Welt noch von dem geistigen Charakter der jenseitigen eine richtige Vorstellung besaßen. Die grobsinnlichen Ausdrücke des Korans, dem Verständnis jenes Volkes angepasst, sollen von den höher Gebildeten in spiritualistischem Sinne verstanden werden. Aber auch die anderen Volksreligionen haben die Wahrheit nicht rein. Über sie alle hinaus gibt es einen Vernunftglauben, für den die Brüder sogar eine metaphysische Ableitung versuchen. Zwischen Gott und sein erstes Geschöpf, den schaffenden Geist, wird als Hypostase das göttliche Weltgesetz (nâmûs) eingeschoben. Es ist das die über Alles sich erstreckende weise Anordnung eines barmherzigen Schöpfers, der Niemandem Böses will. Den Glauben an einen zornigen Gott, an Höllenstrafen und dergleichen erklären die Brüder für widervernünftig. Ein solcher Glaube thut der Seele weh. Die unwissende, sündige Seele findet schon in diesem Leben, in ihrem eigenen Leibe die Hölle. Auferstehung dagegen heißt die Trennung der Seele von ihrem Körper. Und die große Auferstehung am jüngsten Tage ist die Trennung der Allseele von der Welt, ihre Rückkehr zu Gott. Das Ziel sämtlicher Religionen ist ja die Hinwendung zu Gott. 10. Die Ethik der Brüder hat einen asketisch-spiritualistischen Charakter, obgleich sich auch hier der Eklektizismus zeigt. Gut handelt nach ihr der Mensch, wenn er der richtigen Natur folgt, lobenswert ist die freie That der Seele, vortrefflich sind die aus vernünftiger Überlegung hervorgegangenen Handlungen, und einer Belohnung, d. h. der Erhebung zur himmlischen Sphärenwelt wert ist endlich die Befolgung des göttlichen Weltgesetzes. Dazu bedarf es der Sehnsucht nach oben. Die höchste Tugend ist deshalb die Liebe, die nach Vereinigung mit Gott, dem ersten Geliebten, hinstrebt, die sich aber auch in diesem Leben als religiöse Duldung und Schonung aller Geschöpfe bethätigt. Ihr Gewinn im Diesseits ist Seelenruhe, Herzensfreiheit, Frieden mit der ganzen Welt, und im Jenseits das Aufsteigen zum ewigen Lichte. Nach alledem braucht es uns nicht zu wundern, dass dem Leibe viel Schlechtes nachgesagt wird. Unser wahres Wesen heißt die Seele, unseres Daseins höchster Zweck soll es sein, mit Sokrates dem Geiste, mit Christus dem Gesetz der Liebe zu leben. Dennoch ist der Leib zu schonen und zu pflegen, damit die Seele Zeit habe, sich vollkommen zu entwickeln. In diesem Sinne wird von den Brüdern ein menschliches Bildungsideal aufgestellt, dessen Züge den Charakteren verschiedener Völker entlehnt sind. Der ideale, sittlich vollkommene Mensch soll nämlich ostpersischer Abstammung sein, arabisch seinem Glauben nach, von iraqischer (babylonischer) Bildung, erfahren wie ein Hebräer, ein Christusjünger in seinem Wandel, fromm wie ein syrischer Mönch, ein Grieche in den Einzelwissenschaften, ein Inder in der Deutung aller Geheimnisse, endlich aber und zuhöchst ein Sufi in seinem ganzen Geistesleben. 11. Der Versuch einer Versöhnung, die auf diese Weise zwischen Wissen und Glauben sollte hergestellt werden, hat nach keiner Seite befriedigt. Auf die allegorische Koraninterpretation der Brüder blickten die theologischen Dialektiker herab, wie heutzutage unsere Gottesgelehrten auf die neutestamentliche Exegese des Grafen Tolstoi. Und die reineren Aristoteliker betrachteten die pythagoreisch-platonische Richtung der Encyklopädie wie ein heutiger Philosophieprofessor Spiritismus, Occultismus und derartige Erscheinungen anzusehen pflegt. Aber in der breiten Masse der gebildeten oder halbgebildeten Welt haben die Schriften oder doch die Ansichten der treuen Brüder von Basra eine bedeutende Wirkung erzielt, von der die vielen, meist jungen Handschriften der umfangreichen Encyklopädie beredtes Zeugnis ablegen. Bei vielen Sekten innerhalb der islamischen Welt, Batiniten, Ismaeliten, Assasinen, Drusen, oder wie sie sonst heißen mögen, finden wir der Hauptsache nach dieselben Lehren wieder. Vorzugsweise in dieser Form hat sich griechische Weisheit im Osten acclimatisieren können, während die aristotelische Schulphilosophie fast nur im Treibhause fürstlicher Gönner gedeihen wollte. Der große Kirchenvater Gazali that die Weisheit der Brüder gar leicht als Popularphilosophie ab, scheute sich aber nicht, von ihnen das Gute herüberzunehmen. Er verdankt ihrem Gedankenkreise mehr, als er wohl selbst eingestehen mochte. Auch von anderen, besonders in encyklopädischen Werken, sind ihre Abhandlungen ausgenutzt worden. Die Wirkung der Encyklopädie dauert noch fort im muslimischen Osten. Vergebens hat man sie, zusammen mit den Schriften Ibn Sina's, im Jahre 1150 zu Bagdad verbrannt. IV. DIE NEUPLATONISCHEN ARISTOTELIKER DES OSTENS. 1. Kindi. [14] 1. Kindi steht in mannigfachen Beziehungen zu den mutazilitischen Dialektikern und den neupythagoreischen Naturphilosophen seiner Zeit und wir hätten ihn also schon vor Razi (s. III, 1 § 5) unter den letzteren behandeln können. Doch hat ihn die Tradition einstimmig als den ersten Peripatetiker im Islam hingestellt. Mit welchem Rechte, wird sich, soweit es aus den wenigen mangelhaft erhaltenen Schriften dieses Philosophen möglich ist, im folgenden ergeben. Abu Jaqub ibn Ishaq al-Kindi (d. h. aus dem Stamme Kinda) war arabischer Abstammung, und wurde deshalb, im Unterschiede von seinen vielen nichtarabischen Genossen, die sich mit Weltweisheit abgaben, der arabische Philosoph genannt. Er führte seinen Stammbaum auf die alten Kinda-Fürsten zurück. Ob er dazu das Recht besaß, lassen wir dahingestellt bleiben. Jedenfalls hatte der südarabische Kindastamm es in der äußeren Kultur weiter gebracht als andere Stämme. Viele Kinditen hatten sich auch schon früh in Iraq (Babylonien) angesiedelt, wo dann unser Philosoph in Kufa, davon sein Vater Statthalter war, geboren wurde, vermutlich am Anfange des neunten Jahrhunderts. Seine Erziehung erhielt er wahrscheinlich teilweise in Basra, ferner in Bagdad, also in den Mittelpunkten der damaligen Bildung. Hier lernte er persische Kultur und griechisches Wissen höher schätzen als alte Arabertugend und muslimischen Glauben. Er behauptete sogar, wohl nach anderen, Kachtan, der Stammvater der Südaraber, sei ein Bruder Jaunan's gewesen, von dem die Griechen herstammen. So etwas konnte man sagen in Bagdad, am abbasidischen Hofe, wo man keine Nationalität kannte und die alten Griechen bewunderte. Wie lange und in welcher Stellung Kindi am Hofe weilte, ist nicht bekannt. Er wird als Übersetzer griechischer Werke ins Arabische genannt und soll die Arbeiten anderer verbessert haben, u. a. die sogenannte Theologie des Aristoteles. Zahlreiche Diener und Schüler, deren Namen uns überliefert sind, waren vermutlich unter seiner Aufsicht damit beschäftigt. Ferner mag er dem Hofe als Astrologe oder Arzt, vielleicht auch bei der Finanzverwaltung, Dienste geleistet haben. Später aber wurde er entfernt, als er von der orthodoxen Restauration unter Mutawakkil (847-861) mit betroffen ward, und seine Bibliothek eine Zeit lang konfisziert. In Bezug auf seinen Charakter sagt ihm die Überlieferung nach, er sei geizig gewesen, was übrigens viele andere Schöngeister und Bücherliebhaber sollen gewesen sein. Ebensowenig wie Kindi's Geburts-, ist sein Todesjahr bekannt. Er scheint also in Ungnaden oder doch in untergeordneter Stellung gestorben zu sein. Dass Masudi (s. II, 4 § 4), der ihn sehr schätzte, ganz darüber schweigt, ist befremdend. Höchstwahrscheinlich lebte er noch nach dem Jahre 870, wie aus einer seiner astrologischen Abhandlungen hervorgeht. Der Ablauf einer kleinen Weltperiode stand damals bevor, und das wurde von den Karmaten zur Stürzung des Fürstenhauses benutzt. Da war nun aber Kindi reichsfreundlich genug, den von einer Konjunktion bedrohten Bestand des Staates um etwa 450 Jahre zu verlängern. Sein fürstlicher Gönner konnte zufrieden sein und die Geschichte hat sich bis auf ein halbes Jahrhundert gefügt. 2. Kindi war ein Polyhistor, er hatte die ganze gelehrte Bildung seiner Zeit in sich aufgenommen. Als Geograph, Kulturhistoriker und Mediziner mag er eigene Beobachtungen angestellt und mitgeteilt haben, ein schöpferischer Geist ist er keinesfalls gewesen. Seine theologischen Ansichten zeigen mutazilitisches Gepräge. Er schrieb nämlich über das menschliche Vermögen zu handeln und die Zeit seines Entstehens, ob vor oder zugleich mit der That. Ausdrücklich betonte er die Gerechtigkeit und die Einheit Gottes. Gegen die damals als indisch oder brahmanisch bekannte Theorie, als einzige Erkenntnisquelle reiche die Vernunft aus, verteidigte er die Prophetie, suchte diese aber mit der Vernunft in Einklang zu bringen. Seine Kenntnis verschiedener Religionssysteme forderte ihn zur Vergleichung auf. Als allen gemeinsam fand er den Glauben heraus, dass die Welt das Werk einer ewigen einheitlichen Ursache sei, für die unser Wissen keine nähere Bezeichnung besitze. Es sei aber die Pflicht der Einsichtigen, diese Ursache als göttlich anzuerkennen. Die Gottheit selbst habe ihnen dazu den Weg gezeigt, auch Gesandte geschickt zum Zeugnis, die den Gehorsamen ewige Glückseligkeit verheißen, den Ungehorsamen aber entsprechende Bestrafung androhen sollen. 3. Kindi's eigentliche Philosophie ist, wie diejenige seiner Zeitgenossen, an erster Stelle Mathematik und Naturphilosophie, wobei dann Neuplatonisches und Neupythagoreisches ineinanderfließen. Es wird nach ihm keiner Philosoph ohne das Studium der Mathematik. Phantastisches Spiel mit Zahlen und Buchstaben findet sich öfter in seinen Schriften. Er wandte auch die Mathematik auf die Medizin an in der Lehre von den zusammengesetzten Heilmitteln. Er gründete nämlich die Wirkung dieser Mittel, ähnlich derjenigen der Musik, auf die geometrische Proportion. Es handelt sich hier um die Proportionalität der sinnlichen Qualitäten: warm, kalt, trocken und feucht. Soll ein Heilmittel im ersten Grade warm sein, dann muss es das Doppelte an Wärme besitzen von der gleichmäßigen Mischung, im zweiten Grade das Vierfache u. s. w. Die Entscheidung darüber scheint Kindi dem Sinne, besonders dem Geschmacke anvertraut zu haben, sodass wir bei ihm eine Ahnung von der Proportionalität der Sinnesempfindungen hätten. Das war nun, wenn überhaupt originell, bei ihm wohl nichts anderes als eine mathematische Spielerei. Cardan aber, ein Philosoph der Renaissance, hat ihn wegen dieser Lehre noch zu den zwölf subtilsten Geistern gerechnet. 4. Die Welt ist nach Kindi, wie oben schon gesagt, ein Werk Gottes, dessen Wirken aber von oben nach unten vielfach vermittelt wird. Alles Höhere wirkt auf das Niedere ein, nicht aber das Verursachte auf seine über ihm auf der Stufe des Seins stehende Ursache. In allem Weltgeschehen ist nun eine durchgängige Ursächlichkeit, die es uns ermöglicht, aus der Erkenntnis der Ursache, der Himmelskörper z. B., Zukünftiges vorherzusagen. Auch haben wir an einem vollständig erkannten Einzelwesen einen Spiegel, darin der ganze Zusammenhang der Welt zu schauen. Dem Geiste gehört die höhere Wirklichkeit und alle Wirksamkeit an. Seinem Wunsche gemäß hat sich die Materie zu gestalten. Und zwischen dem göttlichen Geiste und der materiellen Körperwelt steht die Seele in der Mitte. Sie ist es, die die Sphärenwelt erst geschaffen hat. Von dieser Weltseele ist die menschliche Seele ein Ausfluss. Ihrer Natur nach, d. h. in ihren Wirkungen, ist die letztere an die Mischung ihres Körpers gebunden, aber ihrem geistigen Wesen nach ist sie davon unabhängig, treffen sie also auch nicht die Einwirkungen der Gestirne, die sich auf das Natürliche beschränken. Unsere Seele, so führt Kindi aus, ist eine einfache, unvergängliche Substanz, aus der Welt der Vernunft in die Sinnenwelt herabgekommen, aber mit Erinnerung an ihren früheren Zustand ausgestattet. Sie findet sich hier nicht heimisch, denn sie hat viele Bedürfnisse, deren Befriedigung ihr versagt bleibt, und die deshalb von schmerzlichen Gefühlen begleitet sind. Es ist eben nichts beständig in dieser Welt des Entstehens und Vergehens, in der man dessen, was man liebt, jeden Augenblick beraubt werden kann. Beständigkeit gibt es nur in der Welt der Vernunft. Wenn wir also unsere Wünsche erfüllt sehen wollen und nicht dessen beraubt werden, was uns teuer ist, so müssen wir uns den ewigen Gütern der Vernunft zuwenden, der Furcht Gottes, der Wissenschaft und den guten Werken. Wenn wir aber nur den materiellen Gütern nachgehen und glauben, sie uns erhalten zu können, so streben wir etwas nach, das in Wirklichkeit nicht existiert. 5. Dieser ethisch-metaphysischen Dualität des Sinnlichen und Geistigen entspricht die Lehre Kindi's vom Wissen. Unsere Erkenntnis ist danach entweder sinnliche oder Vernunfterkenntnis; was dazwischen, die Phantasie oder die Vorstellungskraft, heißt mittleres Vermögen. Die Sinne erfassen nun das Einzelne oder die materielle Form, die Vernunft aber das Allgemeine, Arten und Gattungen, oder die geistige Form. Und wie das Wahrgenommene mit der Sinneswahrnehmung eins ist, so ist es auch das von der Vernunft Erfasste mit der Vernunft selbst. Zum ersten Male taucht hier nun die Lehre von der Vernunft oder vom Geiste (nous, `aql) in einer Gestalt auf, wie sie, nur etwas modifiziert, bei den späteren muslimischen Philosophen einen großen Platz einnimmt. Sie ist charakteristisch für den ganzen Verlauf der Philosophie im Islam. Wie im Universalienstreite des christlichen Mittelalters sich doch auch ein objectiv-wissenschaftliches Interesse kundgibt, so zeigt sich in den philosophischen Erörterungen der Muslime über den denkenden Geist vor allem das subjektive Bedürfnis intellektueller Bildung. Kindi unterscheidet einen vierfachen Geist [15]: erstens den Geist, der immer wirklich ist, die Ursache und das Wesen alles Geistigen in der Welt, also wohl Gott oder der erste geschaffene Geist; zweitens den Geist als vernünftige Anlage oder Potenz der menschlichen Seele; drittens als Habitus oder wirklichen Besitz der Seele, dessen sie sich jeden Augenblick bedienen kann, wie z. B. der Schreiber seiner Kunst; endlich viertens als Thätigkeit, wodurch das, was die Seele als ein Wirkliches in sich hat, in die äußere Wirklichkeit übergeführt wird. Letztere Thätigkeit scheint, nach Kindi, die eigene That des Menschen zu sein, während er die Überführung der Potenz zum Habitus oder die Verwirklichung des Möglichen von der ersten Ursache, dem ewigwirklichen Geiste herleitet. Den wirklichen Geist haben wir also von oben erhalten und es heißt der dritte `aql deshalb `aql mustafad, lat. intellectus adeptus sive adquisitus. Die Grundanschauung des Altertums, alles Wissen um die Dinge müsse von außen an uns herankommen, geht in dieser Form, in der Lehre vom `aql mustafad oder dem Geiste, den wir von oben bekommen, durch die arabische Philosophie und dann in die christliche hinein. Leider ist die Lehre in Bezug auf diese Philosophie selbst nahezu richtig. Der thätige Geist, der sie geschaffen, ist in Wirklichkeit der neuplatonische Aristoteles. Das Höchste, was er besitzt, hat der Mensch ja immer seinem Gotte oder den Göttern zugeschrieben. Muslimische Theologen schrieben der göttlichen Wirksamkeit unmittelbar die sittlichen Handlungen des Menschen zu. Nach den Philosophen aber ist das Wissen mehr als die That. Diese, auf die niedere, sinnliche Welt sich richtend, mag des Menschen Eigentum sein; sein höchstes Wissen aber, die reine Vernunft, kommt von oben her, vom göttlichen Wesen. Es ist klar, dass die Lehre vom Geiste, wie sie bei Kindi vorliegt, auf die Nus-Lehre des Alexander von Aphrodisias im zweiten Buche über die Seele zurückgeht. Aber Alexander behauptete ausdrücklich, nach Aristoteles gebe es einen dreifachen Nus. Kindi sagt dagegen, er stelle die Meinung des Platon und Aristoteles dar. Neupythagoreisches und Neuplatonisches verknüpfen sich hier. In allem muss die Vierzahl nachgewiesen werden, und Platon und Aristoteles sollen übereinstimmen. 6. Ziehen wir die Summe. Kindi ist mutazilitischer Theolog und neuplatonischer Philosoph mit neupythagoreischen Zuthaten. Sokrates, der Märtyrer des athenischen Heidentumes, ist sein Ideal, über ihn, sein Schicksal und seine Lehre hat er mehrere Schriften verfasst. Platon und Aristoteles sucht er in neuplatonischer Weise zu vereinigen. Trotzdem nennt ihn die Überlieferung den ersten, der in seinen Schriften dem Aristoteles folgte. Nicht ganz ohne Grund fürwahr. In seinem langen Schriftenverzeichnisse nimmt Aristoteles einen hervorragenden Platz ein. Er begnügte sich nicht mit bloßem Übersetzen, sondern studierte die übersetzten Werke, versuchte es auch sie zu verbessern und zu erläutern. Die aristotelische Physik, mit der Erklärung des Alexander von Aphrodisias, hat jedenfalls bedeutend auf ihn gewirkt. Behauptungen, wie dass die Welt nicht der Wirklichkeit, sondern nur der Potenz nach unendlich sei, dass die Bewegung stetig und dergleichen mehr deuten darauf hin. Die damaligen Naturphilosophen, wie noch die treuen Brüder, sagten z. B., die Bewegung sei ebensowenig stetig wie die Zahl. Ferner aber wandte Kindi sich entschieden von der wundersüchtigen Zeitphilosophie ab, indem er die Alchemie für Schwindel erklärte. Er hielt es für menschenunmöglich, was die Natur allein hervorzubringen im Stande ist. Wer sich denn auch mit alchemistischen Versuchen abgebe, betrüge, seiner Meinung nach, sich selbst oder andere. Diese Ansicht Kindi's hat der berühmte Mediziner Razi zu widerlegen versucht. 7. Sowohl als Lehrer wie als Schriftsteller hat Kindi hauptsächlich durch seine Mathematik, Astrologie, Geographie und Medizin gewirkt. Sein treuester und gewiss bedeutendster Schüler war Achmed ibn Mohammed al-Tajjib al-Sarachsi (gest. 899), Verwaltungsbeamter und Freund des Chalifen Mutadid, dessen Nachlässigkeit oder Willkür er zum Opfer fiel. Er befasste sich mit Geheimwissenschaft und Astrologie, bemühte sich, aus den Wundern der Schöpfung die Weisheit und Macht des Schöpfers zu erkennen, und trieb Geographie und Geschichte. Bekannter ist ein anderer Schüler Kindi's geworden, Abu Maschar (gest. 885), der aber seinen Ruhm ganz der Astrologie zu verdanken hat. Dieser soll von einem fanatischen Gegner der Philosophie, durch ein oberflächliches Studium der Mathematik zur Beschäftigung mit der Astrologie gereizt, als er schon 47 Jahre alt war, ein Verehrer Kindi's geworden sein. Ob nun das Dichtung oder Wahrheit, auf jeden Fall ist ein solcher Bildungsgang charakteristisch für das neugierige Haschen nach halbverstandenem Wissen, das den ersten Jahrhunderten der arabischen Wissenschaft eigentümlich ist. Die Schule Kindi's ist in keiner Weise über den Meister hinausgegangen. Von ihrer litterarischen Thätigkeit ist uns fast nur in einzelnen Zitaten etwas erhalten. Möglich wäre es allerdings, dass in den Abhandlungen der treuen Brüder sich einiges gerettet hätte. Doch lässt sich dies beim jetzigen Stande der Wissenschaft nicht bestimmen. 2. Farabi. 1. Im zehnten Jahrhundert werden von den Naturphilosophen die Logiker oder Metaphysiker unterschieden. Diese befolgen eine strengere Methode als die Dialektiker und behandeln andere Gegenstände als die Physiker. Von Pythagoras haben sie sich losgesagt, um sich der Führung des Aristoteles, freilich in neuplatonischer Gestalt, anzuvertrauen. Wir haben es da mit zwei Richtungen wissenschaftlichen Interesses zu thun. Die Naturphilosophen interessieren sich mehr oder weniger für die Fülle konkreter Erscheinungen der Natur, wie der Länder- und Völkerkunde. Sie untersuchen überall die Wirkungen der Dinge, glauben auch das Wesen nur in der Wirkung zu erkennen. Wenn sie zwar über Natur, Seele und Geist zum göttlichen Wesen hinaufsteigen, so bestimmen sie dieses doch nur oder vorzugsweise als erste Ursache, als weisen Schöpfer, dessen Güte und Weisheit aus seinen Werken hervorgehe. Ganz anders verhalten sich die Logiker. Das Einzelgeschehen hat für sie untergeordneten Wert, nicht weiter, als es aus dem Allgemeinen ableitbar sich erweist. Gehen die Physiker von den Wirkungen aus, die Logiker wollen aus ihren Gründen die Dinge begreifen. Sie fragen überall nach dem Begriff oder dem Wesen der Dinge, bis zum Höchsten. Gott, um mit einem Beispiele den Gegensatz greifbar hinzustellen, ist ihnen nicht zunächst der weise Schöpfer, sondern das notwendig-existierende Wesen. Die Logiker folgen zeitlich den Physikern nach, wie denn auch von der mutazilitischen Dialektik (s. II, 3 § 4 und 5) zuerst Gottes Wirken, darauf sein Wesen in den Kreis der Betrachtung gezogen wurde. Als den bedeutendsten Vertreter der naturphilosophischen Richtung haben wir Razi kennen gelernt. Die logisch-metaphysischen Bestrebungen, denen Kindi u. a. vorgearbeitet, erreichen ihren Höhepunkt in Razi's jüngerem Zeitgenossen Abu Nasr Mohammed ibn Mohammed ibn Tarchan ibn Uzlag al-Farabi. 2. Über den äußeren Lebens- und Bildungsgang Farabis ist wenig Sicheres zu sagen. Er war ein stiller Mann, der im Schatten der Macht, zuletzt als Sufi gekleidet, sich einem philosophisch-beschaulichen Leben hingab. Sein Vater soll persischer Heerführer gewesen sein. In Wasidsch, einem kleinen befestigten Orte des Bezirkes Farab, im Türkenlande Transoxanien, wurde er geboren. In Bagdad erhielt er, teilweise von einem christlichen Lehrer, Johanna ibn Hailan, seine Ausbildung. Diese umfasste sowohl Litterarisches als Mathematisches, also Trivium und Quadrivium im Sinne des christlichen Mittelalters. Von seiner mathematischen Bildung zeugen noch einige seiner Schriften, namentlich über Musik. Die Legende lässt ihn alle Sprachen der Welt (70) reden. Aus seinen Werken erhellt, was schon a priori wahrscheinlich, dass er Türkisch und Persisch verstand. Das Arabisch schreibt er klar und nicht ohne Reiz. Nur schadet die Vorliebe für Synonymen und parallele Satzglieder dann und wann der Präzision des philosophischen Ausdruckes. Die Philosophie, in die Farabi eingeweiht wurde, stammte aus der Schule von Merw. Vielleicht hatte diese sich schon mehr metaphysischen Fragen zugewandt als die naturphilosophische Richtung der Harranier und Basrenser. Von Bagdad, wo er lange Zeit gelebt und gewirkt, siedelte Farabi, wohl infolge der politischen Wirren, nach Haleb (Aleppo) an den glänzenden Hof Saif-addaula's über. Nur soll er nicht am Hofe, sondern in Naturzurückgezogenheit die letzten Jahre verbracht haben. Auf einer Reise starb er in Damaskus, Dezember des Jahres 950, wo ihm, wie berichtet wird, sein Fürst in sufischem Gewande die Leichenrede hielt. Er soll 80 Jahre alt geworden sein. Dass er ein hohes Alter erreicht hat, ist wahrscheinlich. Sein Zeit- und Studiengenosse Abu Bischr Matta starb 10 Jahre früher und sein Schüler Abu Zakarija Jachja ibn Adi im Jahre 974, 81 Jahre alt. 3. Die zeitliche Reihenfolge der Schriften Farabis ist nicht festgestellt. Kleinere Abhandlungen, in denen er sich mit den Dialektikern und Naturphilosophen berührt, dürften, wenn sie überhaupt echt in der überlieferten Gestalt, populäre oder Jugendschriften sein. Seine Entwicklung wendete sich dem aristotelischen Schrifttum zu, weshalb ihn der Orient den zweiten Lehrer, d. h. den zweiten Aristoteles nannte. Seit seiner Zeit steht die Zahl und Folge der aristotelischen oder doch dem Aristoteles zugeschriebenen Werke, die man nach seinem Vorgange paraphrasierte und kommentierte, im allgemeinen fest. Zuerst die acht logischen Schriften, Kategorien, Hermeneutik, erste und zweite Analytik, Topik, Sophistik, Rhetorik und Poetik, denen die Isagoge des Porphyr voraufgeht. Dann folgen die acht Schriften zur Physik, auscultatio physica, de coelo et mundo, de generatione et corruptione, die Meteorologie, die Psychologie, de sensu et sensato, das Buch der Pflanzen und das der Tiere. Endlich schließen sich an Metaphysik, Ethik, Politik u. a. Die sogenannte Theologie des Aristoteles hat Farabi noch für ein echtes Werk gehalten. In neuplatonischer Weise und mit einiger Accommodation an den muslimischen Glauben sucht er die Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles nachzuweisen. Nicht sondernde Kritik, eine geschlossene Weltanschauung ist ihm Bedürfnis. Die Befriedigung dieses mehr religiösen als wissenschaftlichen Bedürfnisses lässt ihn über philosophische Differenzen hinwegsehen. Platon und Aristoteles sollen sich von einander nur unterscheiden durch ihre Methode, im sprachlichen Ausdruck und in ihrem Verhalten zum praktischen Leben. Ihre Weisheitslehre aber ist dieselbe. Sie sind die Imame, d. h. die höchsten Autoritäten in der Philosophie, und da sie Beide selbständige, originelle Geister gewesen, gilt ihre übereinstimmende Autorität dem Farabi mehr als der Glaube der ganzen muslimischen Gemeinde, die mit blindem Zutrauen Einem Führer folgt. 4. Farabi wird den Ärzten zugezählt, doch scheint er die Kunst nicht praktisch geübt zu haben. Er widmete sich der Heilkunst der Seele ganz. Seelenreinheit nannte er die Bedingung und die Frucht alles Philosophierens, Wahrheitsliebe forderte er auch gegen Aristoteles. Geometrie und Logik sollen dann das Urteil bilden für das Studium der Natur- und Geisteswissenschaften. Den einzelnen Disziplinen aber schenkt Farabi wenig Beachtung, er konzentriert sich auf Logik, Metaphysik und die Prinzipien der Physik. Die Philosophie ist ihm die Wissenschaft alles Seienden als solchen, bei deren Erwerb man der Gottheit ähnlich wird. Sie ist die eine, allesumfassende Wissenschaft, die uns das einheitliche Weltbild vorführt. Den Dialektikern wirft Farabi vor, dass sie ungeprüft die Sätze des gemeinen Bewusstseins als Grundlage für ihre Beweise benutzen, den Naturphilosophen, dass sie sich immer nur mit den Wirkungen der Dinge befassen, also nie über die Gegensätze des Weltgeschehens hinaus zu einer einheitlichen Auffassung des Alls gelangen. Den ersteren gegenüber will er das Denken begründen, im Gegensatze zu den letzteren den Einen Urgrund alles Seienden erforschen. Wir werden folglich seiner historischen und dogmatischen Stellung am besten gerecht, wenn wir zuerst seine Logik, darauf die Metaphysik und zuletzt seine Physik und praktische Philosophie zur Darstellung bringen. 5. Farabis Logik ist keine reine Analyse wissenschaftlichen Denkens, sondern enthält auch viele sprachliche Bemerkungen und erkenntnistheoretische Erörterungen. Wie die Grammatik sich auf die Sprache eines Volkes beschränkt, so soll die Logik dagegen den sprachlichen Ausdruck der Gesamtvernunft aller Völker heranziehen. Von den einfachsten Elementen der Sprache zu den zusammengesetzten hat sie fortzuschreiten, vom Wort zum Satze, zur Rede. Nach der Beziehung ihrer Gegenstände zur Wirklichkeit zerfällt die Logik in zwei Teile: der erste Teil umfasst die Lehre von den Begriffen und Definitionen (tasawwur), der zweite diejenige von den Urteilen, Schlüssen und Beweisen (tasdiq). Die Begriffe, mit denen die Definitionen in ganz äußerlicher Weise zusammengestellt werden, haben an sich keine Beziehung zur Wirklichkeit, d. h. sie sind weder wahr noch falsch. Unter Begriffen versteht Farabi hier die einfachsten seelischen Gebilde, d. h. sowohl die aus sinnlicher Wahrnehmung stammenden Vorstellungen einzelner Gegenstände als die ursprünglichen dem Geiste eingeprägten Begriffe, wie das Notwendige, das Wirkliche, das Mögliche. Solche Vorstellungen und Begriffe sind unmittelbar gewiss. Man kann den Sinn des Menschen darauf hinlenken, seine Seele darauf aufmerksam machen, sie ihm aber nicht vordemonstrieren, nicht aus Bekanntem ableitend sie erklären, da sie an sich im höchsten Grade klar sind. Aus der Zusammensetzung von Vorstellungen oder Begriffen ergeben sich Urteile, die nun entweder wahr oder falsch sein können. Durch Schluss und Beweis geht die Begründung der Urteile auf einige dem Verstande ursprünglich gegebene, unmittelbar einleuchtende, nicht weiter begründbare Sätze zurück. Solche Sätze, die Grundsätze oder Axiome aller Wissenschaft, soll es geben für die Mathematik, die Metaphysik und die Ethik. Die Lehre vom Beweise, wie von Bekanntem, Begründetem aus wir zur Erkenntnis eines Unbekannten gelangen, ist nach Farabi die eigentliche Logik. Dazu bildet die Kenntnis der Hauptbegriffe (Kategorien), ihrer Zusammensetzung im Urteil (Hermeneutik) und im Schlusse (erste Analytik) nur die Einleitung. Und in der Beweislehre kommt es darauf an, die Normen zu ermitteln einer allgemeingültigen, notwendigen Wissenschaft, was die Philosophie sein soll. Als oberste Norm gilt hier der Satz des Widerspruchs, wodurch in einem einheitlichen Denkakte die Wahrheit oder Notwendigkeit zugleich mit der Unwahrheit oder Unmöglichkeit des Gegenteiles erkannt wird. Dementsprechend soll die platonische Dichotomie als wissenschaftliche Methode der aristotelischen Polytomie vorzuziehen sein. Ferner begnügt Farabi sich nicht mit der formalen Seite der Beweislehre. Diese soll mehr sein als eine Methodologie, die den richtigen Weg zur Wahrheit zeigt, sie soll selbst Wahrheit zeigen, Wissenschaft erzeugen. Sie betrachtet die Urteile nicht bloß als Material für die Schlussform, sondern untersucht auch ihren Wahrheitsgehalt in Beziehung auf die Einzelwissenschaften. Nicht nur Hilfsmittel ist sie, sie ist vielmehr ein Teil der Philosophie. Die Beweislehre geht, wie wir sahen, auf notwendiges Wissen aus, dem notwendigen Sein entsprechend. Außer diesem aber ist das große Gebiet des Möglichen da, von dem wir nur ein wahrscheinliches Wissen erhalten können. Die verschiedenen Grade der Wahrscheinlichkeit nun oder die Art und Weise, in der wir zu einer Wissenschaft des Möglichen gelangen, werden in der Topik erörtert. Daran schließen sich Sophistik, Rhetorik und Poetik, die sonst hauptsächlich praktische Ziele verfolgen. Zusammen aber mit der Topik werden sie bei Farabi zu einer Dialektik des Scheines. Nur auf den notwendigen Sätzen der zweiten Analytik, so führt er aus, lässt sich wahre Wissenschaft aufbauen, aber von den topischen (dialektischen) bis zu den poetischen Urteilen stuft sich das Wahrscheinliche zum bloßen Scheine der Wahrheit ab. Am tiefsten steht also die Poesie, die nach Farabis Ansicht ein lügnerisches und unsittliches Gerede ist. Im Anschluss an Porphyrs Isagoge hat unser Philosoph sich auch über die Universalienfrage geäußert. Das Besondere findet er nicht nur in den Dingen und in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auch im Denken. Ebenso ist das Allgemeine nicht bloß, accidentell, in den Einzeldingen, sondern auch, substantiell, im Geiste. Der menschliche Geist abstrahiert das Allgemeine von den Dingen, vor diesen war es aber schon an sich. Dem Sinne nach findet somit der dreifache Unterschied des ante rem, in re, post rem sich bereits bei Farabi. Gehört zu den Universalien auch das bloße Sein? Ist die Existenz überhaupt ein Prädikat? Diese Frage, die soviel Unheil in der Philosophie gestiftet, wurde von Farabi völlig richtig beantwortet. Die Existenz ist nach ihm eine grammatische oder logische Beziehung, aber keine Kategorie der Wirklichkeit, die etwas von den Dingen aussagt. Die Existenz eines Dinges ist nichts außer dem wirklichen Dinge selbst. 6. Die logische Richtung des Denkens macht sich auch in der Metaphysik geltend. An Stelle des Veränderlichen und des Ewigen treten die Begriffe des Möglichen und des Notwendigen hervor. Alles Seiende ist nämlich nach Farabi entweder ein notwendiges oder ein mögliches; ein Drittes gibt es nicht. Da nun alles Mögliche zu seiner Verwirklichung eine Ursache voraussetzt, die Reihe der Ursachen aber nicht ins Unendliche gehen kann, so sehen wir uns genötigt, ein notwendig Seiendes anzunehmen, das ursachlos, höchst vollkommen, ewig vollwirklich, sich selbst genügend, ohne jede Veränderung, als absoluter Geist, reine Güte, Denken, Denkendes und Gedachtes in einem Wesen, die alles übersteigende Güte und Schönheit seines Wesens liebt. Dieses Wesen kann nicht bewiesen werden, denn es ist selbst der Beweis und der Urgrund aller Dinge. Wahrheit und Wirklichkeit fallen in diesem Wesen zusammen. In seinem Begriffe liegt es, dass es einzig ist, denn wenn es zwei erste, absolute Wesen gäbe, müssten sie teils gleich, teils von einander verschieden sein, wodurch aber die Einfachheit eines jeden aufgehoben wäre. Ein allervollkommenstes Wesen muss einzig sein. Dieses Erste, Eine, wahrhaft Wirkliche nennen wir Gott. Und da in Ihm alles eins ist, auch ohne Artdifferenz, so gibt es keine Definition für sein Wesen. Doch legt ihm der Mensch die schönsten, die höchsten Werte des Lebens zum Ausdruck bringenden Namen bei, weil im mystischen Drange dazu die Worte ihre gewöhnliche Bedeutung verlieren, über jeden Widerspruch hinaus. Einige Namen beziehen sich auf das Wesen, andere auf sein Verhältnis zur Welt, ohne jedoch die Einheit des Wesens zu beeinträchtigen. Alle sind sie aber metaphorisch zu verstehen, nur nach schwacher Analogie vermögen wir sie aufzufassen. Eigentlich sollten wir von Gott, dem vollkommensten Wesen, auch den vollständigsten Begriff haben. Sind doch unsere mathematischen Begriffe vollkommener als die physischen, weil sie sich auf vollkommenere Gegenstände beziehen. Aber mit dem Allervollkommensten ergeht es uns wie mit dem hellsten Lichte: wegen der Schwäche unserer Augen können wir es nicht vertragen. So haften auch an unserem Erkennen die Mängel der Materie. 7. Besser als an sich vermögen wir Gott zu sehen in der Stufenordnung der aus ihm hervorgehenden Wesen. Von Ihm, dem Einzigen, ist das All, denn sein Wissen ist die höchste Macht. Indem er sich selbst erkennt, wird die Welt. Nicht ein allmächtiger Schöpferwille, sondern die Erkenntnis des Notwendigen ist die Ursache aller Dinge. Von Ewigkeit her sind in Gott die Formen oder Vorbilder der Dinge und ewig geht auch aus ihm sein Ebenbild hervor, das zweite All genannt oder der erste geschaffene Geist, der die äußerste Himmelsphäre bewegt. Diesem Geiste folgen, einer aus dem anderen, die acht Sphärengeister, die alle einzig in ihrer Art, vollkommen und Schöpfer der Himmelskörper sind. Diese neun Geister, himmlische Engel genannt, bilden zusammen die zweite Stufe des Seins. Auf der dritten Stufe steht die in der Menschheit thätige Vernunft, heißt auch der heilige Geist, der Himmel und Erde verbindet; auf der vierten Stufe befindet sich die Seele. Beide, Vernunft und Seele, bleiben nicht rein für sich in ihrer Einheit, sondern vervielfältigen sich nach der Vielheit menschlicher Wesen. Als Wesen fünfter und sechster Ordnung erscheinen zuletzt Form und Materie, mit denen die Reihe geistigen Seins abgeschlossen ist. Die drei ersten Stufen, Gott, Sphärengeister und thätige Vernunft, bleiben Geist an sich, die drei folgenden aber, Seele, Form und Materie, obgleich unkörperlich, gehen doch ein Verhältnis zum Körper ein. Entsprechend denen des Geistigen hat auch das Körperliche, das der Imagination des Geistes entspringen soll, sechs Stufen: Himmelskörper, Menschenkörper, Tierkörper, Pflanzenkörper, Mineral und Element. Wahrscheinlich zeigen sich in diesen Spekulationen nach der Dreizahl noch die Einflüsse der christlichen Lehrer Farabis. Für sie bedeutete nämlich die Dreizahl, was den Naturphilosophen die Vierzahl war. Auch die Terminologie stimmt dazu. Das ist aber nur äußerlich; der Inhalt ist Neuplatonismus. Als ein ewiger, intellektueller Prozess erscheint hier die Schöpfung oder Emanation der Welt. Indem der erste geschaffene Geist seinen Urheber denkt, entsteht der zweite Sphärengeist; indem er, sich selbst denkend, sich substanziert, geht aus ihm der erste Körper, die oberste Himmelsphäre, hervor. Und so geht es weiter bis zu der niedersten Sphäre, der des Mondes, in notwendiger Folge. Ganz nach dem ptolemäischen Sphärensystem, wie es jeder Gebildete, wenigstens aus Dantes Komödie, kennt, in neuplatonischer Ableitung. Es bilden die Sphären zusammen eine ununterbrochene Ordnung, denn alles Seiende ist eine Einheit. Schöpfung und Erhaltung der Welt ist ein und dasselbe. Und nicht nur die Einheit des göttlichen Wesens bildet sich in der Welt ab, sondern in ihrer schönen Ordnung drückt sich auch die göttliche Gerechtigkeit aus. Die logische Weltordnung ist zugleich eine sittliche. 8. Die irdische Welt unter dem Monde ist natürlich ganz von der Welt der Himmelsphären abhängig. Doch trifft die Einwirkung von oben erstens, wie wir a priori erkennen, die notwendige Ordnung des Ganzen, zweitens zwar auch das Einzelne, aber nur insofern dies in natürlicher Wechselwirkung begründet ist, also nach Regeln, welche die Erfahrung uns lehrt, stattfindet. Die Astrologie, die alles Zufällige, Außerordentliche, den Gestirnen und ihren Konjunktionen zuschreibt, wird von Farabi bekämpft. Vom Zufälligen gibt es kein sicheres Wissen, und viel des irdischen Geschehens trägt, wie ja auch Aristoteles gelehrt, in hohem Grade den Charakter des Zufälligen oder des Möglichen an sich. Dagegen hat die himmlische Welt eine andere, vollkommenere Natur, die nach notwendigen Gesetzen wirkt. Sie kann dieser irdischen Welt nur Gutes spenden, warum es ganz verfehlt ist, zu behaupten, von einigen Gestirnen käme Glück, von anderen jedoch Unglück her. Die Natur der Himmel ist Eine und gleichmäßig gut. Der Schluss, zu dem nach diesen Erwägungen Farabi gelangt, ist denn auch dieser: demonstrative, ganz sichere Erkenntnis gibt nur die mathematische Astronomie, ein wahrscheinliches Wissen gewährt die physikalische Himmelskunde, einen ganz unsicheren Glauben aber verdienen die Sätze und Weissagungen der Astrologie. Gegenüber der Einfachheit der Himmelswelt haben wir unter dem Monde das Reich der vier Naturen, also der Gegensätze und der Veränderung. Von den Elementen bis zum Menschen gibt es auch hier in der Vielheit die Einheit der aufsteigenden Reihe. Wenig Eigentümliches weiß Farabi darüber vorzubringen. Seinem logischen Standpunkte treu kümmert er sich weniger um die Naturwissenschaften, zu denen er wohl unbedenklich, auf die ursprüngliche Einheit der Materie sich stützend, die Alchemie wird gezählt haben. Wir wenden uns gleich seiner Lehre vom Menschen oder von der menschlichen Seele zu, die einiges Interesse darbietet. 9. Die Kräfte oder Teile der menschlichen Seele sind nach Farabi nicht koordiniert, sondern bilden eine aufsteigende Reihe. Das niedere Vermögen ist Materie für das höhere und dieses die Form für jenes; das höchste aber, das Denken, ist immateriell, Form für alle vorhergehenden Formen. Aus dem Sinnlichen erhebt das Leben der Seele sich durch die Vorstellung zum Denken. In allen Vermögen aber ist ein Streben oder Wollen enthalten. Jede Theorie hat die praktische Kehrseite. Von den Wahrnehmungen der Sinne sind Neigung und Abneigung unzertrennlich. Zu ihren Vorstellungen verhält sich die Seele zustimmend oder ablehnend, indem sie bejaht und verneint. Das Denken endlich richtet über Gutes und Böses, gibt dem Willen seine Motive und bildet Kunst und Wissenschaft aus. Alles Wahrnehmen, Vorstellen und Denken hat irgend ein Streben zur notwendigen Folge, wie die Wärme aus der Substanz des Feuers hervorgeht. Die Seele ist die Vollkommenheit (Entelechie) des Körpers, aber die Vollkommenheit der Seele ist der Geist (`aql). Nur der Geist ist der wahre Mensch. 10. Vom Geiste ist demnach zumeist die Rede. Im menschlichen Geiste erhebt sich alles Irdische zu einer höheren Existenzweise, die den Kategorien des Körperlichen enthoben ist. Als Anlage oder Potenz ist nun der Geist in der Seele des Kindes vorhanden. Indem er dann die Körperformen mittelst der Sinne und der Vorstellung in der Erfahrung erfasst, wird er auch wirklich zum Geiste. Diese Überführung von der Möglichkeit zur Wirklichkeit, das Zustandekommen der Erfahrung also, ist aber nicht des Menschen eigene That, sondern wird von dem übermenschlichen Geiste, der aus dem letzten Sphärengeist, dem des Mondes, hervorgegangen ist, bewirkt. Als Spende von oben, nicht als eine in geistigem Ringen erarbeitete Erkenntnis stellt sich so das menschliche Wissen dar. Im Lichte des über uns stehenden Geistes erblickt unser Verstand die Formen des Körperlichen. Dabei erweitert sich aber die Erfahrung zur Vernunfterkenntnis. Die Erfahrung nämlich umfasst nur die von der Stoffwelt abstrahierten Formen. Es gibt ja aber auch Formen oder allgemeine Wesenheiten vor und über den stofflichen Dingen, in den reinen Geistern der Sphären. Von diesen "getrennten Formen" erhält der Mensch jetzt Kunde; nur durch ihre Einwirkung wird ihm seine wirkliche Erfahrung erklärlich. Die höhere Form wirkt immer nur auf die zunächst ihr folgende, von Gott bis zum Geiste der Menschheit. Nach oben hin verhält sich jede Zwischenform empfangend, nach unten aber gebend thätig. Im Verhältnis zum menschlichen Geiste, der von oben beeinflusst wird (`aql mustafad), ist also der übermenschliche, aus dem letzten Sphärengeist hervorgegangene Geist thätig oder schaffend zu nennen (`aql fu ``âl.). Doch ist er nicht immer thätig, weil er an der Materie eine Schranke seiner Wirksamkeit hat. Gott aber ist der vollwirkliche, ewigthätige Geist. Im Menschen ist der Geist dreifach: als möglich, als wirklich, als von oben bewirkt. Das heißt aber im Sinne Farabis dies: des Menschen geistige Anlage (1) wird durch Erfahrungswissen (2) hindurch geführt zur Erkenntnis des Übersinnlichen (3), das aller Erfahrung vorhergeht und selbst die Erfahrung bewirkt. Die Stufen des Geistes und seiner Erkenntnis entsprechen den Stufen des Seins. Sehnsüchtig strebt das Niedere dem Höheren zu und das Höhere hebt das Niedere zu sich empor. Der über uns stehende Geist, der allem Irdischen die Formen verliehen hat, sucht diese zertrennten Formen wieder zusammenzubringen, dass sie in Liebe sich einigen. Zunächst sammelt er sie im Menschen. Darauf, dass derselbe Geist, der dem Körperlichen die Gestalt verlieh, auch dem Menschen die Idee gibt, beruht nun aber die Möglichkeit und die Wahrheit menschlicher Erkenntnis. Die zerstreuten Formen des Irdischen finden sich im menschlichen Geiste wieder, wodurch dieser dem letzten Himmelsgeiste ähnlich wird. Vereinigung mit dem Himmelsgeiste, dadurch er sich Gott nähert, ist Ziel und Glück des Menschengeistes. Ob nun eine solche Vereinigung vor dem Tode des Menschen möglich sei, ist nach Farabi zweifelhaft oder ganz zu verneinen. In diesem Leben ist Vernunfterkenntnis das Höchste, was erreicht werden kann. Aber die Trennung vom Körper gibt der vernünftigen Seele die völlige Freiheit des Geistes. Besteht sie dann aber noch als Individualseele? Oder ist sie nur ein Moment der höheren Weltvernunft? Dunkel, und nicht in allen Schriften übereinstimmend, drückt Farabi sich darüber aus. Die Menschen, so heißt es, sterben hin, ein Geschlecht folgt dem andern und Gleiches verbindet sich mit Gleichem, Jedes in seiner Ordnung. Unendlich, weil nicht an den Raum gebunden, mehren sich die vernünftigen Seelen, wie Gedanke zu Gedanken, Kraft zu Kraft hinzukommt. Jede Seele denkt sich selbst und alle andern, die ihr gleich sind, und je mehr sie denkt, um so intensiver ist ihre Freude (vgl. unten § 13). 11. Wir kommen zur praktischen Philosophie. In Ethik und Politik treten wir in ein etwas näheres Verhältnis zum Leben und Glauben der Muslime. Einige allgemeine Gesichtspunkte seien hervorgehoben. Wie die Logik die Prinzipien des Wissens, so soll die Ethik die Grundsätze des Handelns darstellen. Nur dass hier Übung und Erfahrung etwas mehr gewertet werden, als in der Erkenntnistheorie. In der Ausführung schließt sich Farabi teils dem Platon, teils dem Aristoteles an, teils geht er auch in mystisch-asketischer Weise über sie hinaus. Den Theologen gegenüber, die zwar ein Vernunftwissen, aber keine Vernunftgesetze des Handelns anerkennen, betont Farabi öfter, die Vernunft bestimme, ob etwas gut sei oder böse. Wie sollte die von oben her uns erteilte Vernunft nicht das Handeln bestimmen, da ja im Wissen die höchste Tugend besteht? Wenn einer, so erklärt Farabi höchst bezeichnend, alles wüsste, was in den Schriften des Aristoteles steht, danach aber nicht handelte, während ein anderer in seinem Sinne handelte ohne davon zu wissen, so wäre dem ersteren der Vorzug zu geben. Die Erkenntnis steht höher als die sittliche That, sonst könnte sie diese nicht bestimmen. Von Natur aus begehrt die Seele. Insofern sie wahrnimmt und vorstellt, kommt ihr, wie den Tieren, ein Wille zu. Aber Wahlfreiheit hat allein der Mensch, da dieselbe auf vernünftiger Überlegung beruht. Die Sphäre der Freiheit ist das reine Denken. Es ist das also eine Freiheit, die von den Motiven des Denkens abhängig ist, eine Freiheit, die zugleich Notwendigkeit ist, weil sie in letzter Instanz von dem vernünftigen Wesen Gottes bestimmt ist. In diesem Sinne ist Farabi Determinist. Die so gefasste Freiheit des Menschen kann sich, wegen des Widerstandes der Materie, in der Herrschaft über das Sinnliche nur unvollkommen bethätigen. Vollkommen wird sie erst nach der Befreiung der vernünftigen Seele von den Banden des Stoffes und den Hüllen des Irrtums, im Leben des Geistes. Das aber ist die höchste Glückseligkeit, die nur ihrer selbst willen erstrebt wird, somit das Gute schlechthin. Und dieses Gute sucht die Menschenseele, wenn sie sich dem Geiste über ihr zuwendet, wie die Seelen der Himmel, als sie sich dem Höchsten nähern. 12. Schon die Ethik nimmt wenig Rücksicht auf die wirklichen sittlichen Verhältnisse. Noch weiter aber entfernt Farabi sich von der Wirklichkeit in seiner Politik. Das platonische Staatsideal geht für seine orientalische Anschauungsweise fast ganz in den philosophischen Herrscher auf. Von einem natürlichen Bedürfnis zusammengeführt, haben die Menschen sich dem Willen eines Einzigen unterworfen, in welchem der Staat, ob er nun gut oder böse, gleichsam verkörpert ist. Deshalb sind die Staaten schlecht, wenn ihr Haupt in Bezug auf die Prinzipien des Guten entweder unwissend oder im Irrtum oder gar verderbt ist. Der gute oder vorzügliche Staat dagegen hat nur Eine Art, darin der Philosoph Herrscher ist. Mit allen menschlichen und philosophischen Tugenden stattet Farabi seinen Fürsten aus: es ist Platon in Mohammeds Prophetenmantel. In der Beschreibung der den idealen Fürsten vertretenden Herrscher -- es können mehrere zugleich sein, auch können Fürst und Minister sich in Herrschertugend und Weisheit teilen -- nähern wir uns der muslimischen Staatslehre jener Zeit. Aber die Ausdrücke sind verhüllt. Die richtige Abstammung eines Fürsten z. B. und die Pflicht der Führung in den heiligen Krieg werden nicht klar bezeichnet. Es bleibt doch alles in philosophischem Nebel schweben. 13. Im Staate, der mit der Religionsgemeinschaft zusammenfällt, ist die Sittlichkeit allein vollkommen. Nach dem Zustande des Staates bestimmt sich also nicht nur das zeitliche Schicksal seiner Bürger, sondern auch ihr zukünftiges Los. Die Seelen der Bürger im "unwissenden" Staate sind ohne Vernunft, als sinnliche Formen kehren sie zu den Elementen wieder, damit sie sich aufs neue mit anderen Wesen, Menschen oder Tieren, verbinden. In den "irrenden" und "verderbten" Staaten ist allein der Führer verantwortlich, seiner wartet Strafe im Jenseits; die irregeführten Seelen aber teilen das Schicksal der Unwissenden. Dagegen bestehen nur die guten wissenden Seelen fort, sie gehen ein in die Welt des reinen Geistes. Je höher die Stufe des Wissens, die sie in diesem Leben erreicht, um so höher wird nach dem Tode ihre Stelle in der Ordnung des Alls sein, um so intensiver ihre selige Lust. Vermutlich sind derartige Ausdrücke nur die Hülle eines mystisch-philosophischen Glaubens von dem Aufgehen des menschlichen Geistes in den Weltgeist, zuletzt in Gott. Denn, so lehrt Farabi, in absteigender Betrachtung (logisch-metaphysisch) ist die Welt etwas anderes als Gott, im Aufsteigen aber erkennt die Seele das Diesseits als identisch mit dem Jenseits, weil Gott in allem, ja in seiner Einheit das All selbst ist. 14. Überblicken wir jetzt Farabis System, so zeigt es sich als einen ziemlich konsequenten Spiritualismus, genauer bestimmt Intellektualismus. Das Körperliche, Sinnenfällige entspringt der Imagination des Geistes, man könnte es als "verworrene Vorstellung" bezeichnen. Das einzige wahre Sein ist Geist, aber verschieden abgestuft. Ganz einfach rein ist nur Gott, und die ewig aus ihm hervorgehenden Geister, einer aus dem andern, haben schon die Vielheit in sich. Die Zahl der selbständigen Geister wird nach dem ptolemäischen Weltsystem bestimmt und entspricht der himmlischen Hierarchie. Je weiter vom Ersten entfernt, um so weniger hat einer am Sein des reinen Geistes teil. Von dem letzten Weltgeiste kommt dem Menschen sein Wesen, d. h. die Vernunft zu. Alles ist ohne Lücke, die Welt ist ein gut und schön geordnetes Ganzes. Übel und Böses sind nur eine notwendige Folge der Endlichkeit im Einzelnen, wodurch die Güte des Alls um so deutlicher hervortritt. Ob die schöne Ordnung der Welt, von Ewigkeit her aus Gott emaniert, jemals wird zerstört werden können oder auch in Gott zurückfließen? Ein fortwährendes Zurückströmen zur Gottheit gibt es wohl. Die Sehnsucht der Seele geht nach oben, fortschreitendes Wissen läutert sie und führt sie hinauf. Aber wie weit? Philosophen und Propheten haben es nicht klar sagen können. Beide, die Philosophie und die Prophetie, leitet Farabi von dem schaffenden Weltgeiste über uns her. Hin und wieder spricht er sich über die Prophetie aus, als ob diese die höchste Stufe menschlichen Erkennens und Handelns darstelle. Das kann aber nicht seine wirkliche Meinung sein, ist wenigstens nicht die Konsequenz seiner theoretischen Philosophie. Ihr zufolge gehört alles Prophetische in Traum, Gesicht, Offenbarung u. s. w. dem Kreise der Vorstellung an, steht also in der Mitte zwischen sinnlicher Wahrnehmung und reiner Vernunfterkenntnis. Wenn er nun auch in seiner Ethik und Politik der Religion eine hohe erzieherische Bedeutung beimisst, so bleibt sie doch immer an absolutem Werte der Erkenntnis durch reine Vernunft nachstehen. Farabi hat im Intellektuellen für ein Ewiges gelebt. Ein König an Geist, ein Bettler an Besitz, war es ihm bei seinen Büchern und den Vögeln und Blumen seines Gartens wohl. Seinem Volke, der muslimischen Gemeinde, konnte er nur wenig sein. In seiner Staats- und Sittenlehre war für weltliche Geschäfte und für den heiligen Krieg keine rechte Stelle. Seine Philosophie befriedigte kein sinnliches Bedürfnis und widersprach dem sinnlich-geistigen Vorstellungsleben, wie es sich besonders in Kunstschöpfungen und religiösen Phantasien äußert. Er verlor sich in den Abstraktionen des reinen Geistes. Als frommer, heiliger Mann wurde er von Mitlebenden angestaunt, von wenigen Schülern als personifizierte Weisheit verehrt, von den echten Gelehrten des Islam aber für alle Zeit verketzert. Grund gab es freilich genug dafür. Wie die Naturphilosophie leicht zu Naturalismus und Atheismus führte, so leitete der Monotheismus der Logiker unmerklich zum Pantheismus hinüber. 15. Viel Schule hat Farabi nicht gemacht. Bekannt geworden ist Abu Zakarija Jachja ibn Adi, ein jakobitischer Christ, als Übersetzer aristotelischer Werke. Mehr genannt worden aber ist ein Schüler des letzteren, mit Namen Abu Sulaiman Mohammed ibn Tahir ibn Bahrain al-Sidschistani, der in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts in Bagdad die Gelehrten seiner Zeit um sich versammelte. Die Gespräche, welche sie da führten und die philosophischen Belehrungen, die der Meister erteilte, sind uns zum Teil erhalten. Wir sehen deutlich den Ausgang der Schule. Wie die Naturphilosophie in Geheimwissenschaft verlief und die Schule Kindis sich von der Philosophie ab mathematischem und physikalischem Einzelwissen zuwandte, so geht hier die logische Richtung Farabis in Wortphilosophie über. In Distinktionen und Begriffsbestimmungen bewegt sich das Gespräch. Auch werden Einzelheiten aus der Philosophiegeschichte und den besonderen Wissenschaften ohne systematischen Zusammenhang erörtert. Fast nirgends zeigt sich ein sachliches Interesse. Die menschliche Seele rückt ganz in den Vordergrund, ähnlich wie bei den treuen Brüdern, nur dass diese mehr die wunderbaren Wirkungen der Seele, jene Logiker aber ihr vernünftiges Wesen und ihre Erhebung in das Übervernünftige betrachten. Statt mit Zahlen und Buchstaben, wie bei den Brüdern, wird in Sidschistanis Gesellschaft mit Worten und Begriffen gespielt. Das Ende ist in beiden Fällen ein mystischer Sufismus. Es ist demnach nicht zu verwundern, dass in den gelehrten Sitzungen Abu Sulaimans, über die sein Schüler Tauhidi (gest. 1009) Bericht erstattet, Empedokles, Sokrates, Platon u. a. mehr genannt werden als Aristoteles. Eine sehr gemischte Gesellschaft findet sich da in jenen Sitzungen zusammen. Es wird nicht gefragt, welchem Lande man entstamme, welcher Religion man angehöre. Man lebt der Überzeugung, die von Platon hergeleitet wird, in jeder Meinung stecke etwas von der Wahrheit, wie in allen Dingen ein gemeinsames Sein und in allen Wissenschaften eine und dieselbe wirkliche Erkenntnis. Nur unter dieser Annahme scheint es begreiflich, dass jeder zunächst seine eigene Meinung für die wahre, und die von ihm gepflegte Wissenschaft für die vorzüglichste halten könne. Eben deswegen gibt es auch keinen Zwiespalt zwischen Religion und Philosophie, wie heftig man es von beiden Seiten behaupten möge. Die Philosophie bestätigt vielmehr die Lehren der Religion, wie diese die Resultate jener vervollkommnet. Ist die philosophische Erkenntnis Wesen und Ziel der menschlichen Seele, so ist der religiöse Glaube ihr Leben oder der Weg zu dem Ziele. Da nämlich die Vernunft Gottes Statthalter auf Erden ist, so ist es unmöglich, dass Vernunft und Offenbarung sich widersprechen. Einzelnes hervorzuheben aus den Gesprächen, deren Grundstimmung wir angegeben, verlohnt sich nicht. Kulturhistorisch ist die Erscheinung Sidschistanis und seines Kreises wichtig, aber für die Fortbildung der Philosophie im Islam hat sie keine Bedeutung. Was für Farabi wirklich das Leben seines Geistes war, wird in dieser Gesellschaft gar oft zum Gegenstande geistreicher Unterhaltung. 3. Ibn Maskawaih. 1. Wir sind an die Wende des zehnten und elften Jahrhunderts gelangt. Farabis Schule scheint auszusterben und Ibn Sina, der die Philosophie seines Vorgängers zu neuem Leben erwecken sollte, ist noch ein Jüngling. Hier aber haben wir eines Mannes zu gedenken, der zwar dem Kindi näher als dem Farabi verwandt ist, doch auch, wegen der Gemeinsamkeit ihrer Quellen, in wesentlichen Punkten mit dem letzteren übereinstimmt. Sein Beispiel zeigt zugleich, dass die hellsten Köpfe der Zeit nicht gesonnen waren, Farabi auf das Gebiet logisch-metaphysischer Spekulationen zu folgen. Dieser Mann ist der Arzt, Philolog und Historiker Abu Ali ibn Maskawaih, der Schatzmeister und Freund des Sultans Adudaddaula war und hochbetagt im Jahre 1030 starb. U. a. hat er uns eine bis heute im Orient geschätzte philosophische Ethik hinterlassen. Sie ist eine Mischung aus Platon, Aristoteles, Galen und dem muslimischen Religionsgesetz, doch herrscht darin Aristoteles vor. Mit einer Abhandlung über das Wesen der Seele hebt sie an. 2. Die menschliche Seele, so führt Ibn Maskawaih aus, ist eine unkörperliche, einfache, sich ihres Seins, Wissens und Wirkens bewusste Substanz. Dass sie geistiger Natur sein muss, folgt schon daraus, dass sie die entgegengesetzten Formen zugleich in sich aufnimmt, z. B. die Vorstellung von weiß und schwarz, während ein Körper nur eins von beiden auf einmal aufnehmen kann. Ferner nimmt sie sowohl die Formen des Sinnlichen wie des Geistigen in gleicher, geistiger Weise auf, denn die Länge ist in der Seele nicht lang, wird auch im Gedächtnis nicht länger. Weit über ihren Körper geht sodann das Wissen und Wirken der Seele hinaus, ja die ganze Sinnenwelt genügt ihr nicht. Überdies besitzt sie eine ursprüngliche Vernunfterkenntnis, die ihr nicht von den Sinnen zugekommen sein kann, denn durch dieselbe bestimmt sie, bei der Vergleichung und Unterscheidung des von der sinnlichen Wahrnehmung ihr Dargebotenen, Wahres und Falsches, die Sinne beaufsichtigend und berichtigend. Im Selbstbewusstsein endlich, dem Wissen um das eigene Wissen, zeigt sich am klarsten die geistige Einheit der Seele, in der Denken, Denkendes und Gedachtes zusammen fallen. Von den Tierseelen unterscheidet sich die menschliche Seele besonders durch vernünftige Überlegung als das Prinzip ihres Handelns, welches auf das Gute gerichtet ist. 3. Gut ist im allgemeinen dasjenige, wodurch ein Wollendes den Zweck oder die Vollkommenheit seines Wesens erreicht. Gut zu sein, dazu ist also eine gewisse auf einen Endzweck gerichtete Anlage erforderlich. In Bezug auf ihre Anlage unterscheiden die Menschen sich aber sehr wesentlich. Nur wenige, meint Ibn Maskawaih, sind von Natur gut und werden nie schlecht, denn was von Natur ist, ändert sich nicht. Viele dagegen sind von Natur schlecht und werden nie gut. Andere aber, die anfangs weder gut noch schlecht sind, werden durch Erziehung und gesellschaftlichen Verkehr nach einer von beiden Seiten hin bestimmt. Das Gute ist nun entweder ein allgemeines oder ein besonderes. Es gibt ein absolutes Gut, mit dem höchsten Sein und der höchsten Erkenntnis identisch, dem alle Guten zusammen zustreben. Aber für jeden Einzelnen stellt sich ein besonderes Gut subjektiv als Glück oder Lust dar, und dieses besteht in der vollen Bethätigung des eigenen Wesens, in der vollständigen Auslebung des Inneren. Im allgemeinen ist der Mensch gut und glücklich, wenn er menschlich handelt. Tugend ist menschliche Tüchtigkeit. Da nun aber die Menschheit in den verschiedenen Individuen verschieden abgestuft sich darstellt, so ist das Glück oder das Gut nicht für alle dasselbe. Und weil das auf sich selbst gestellte Individuum nicht alle möglichen Güter verwirklichen kann, so müssen viele zusammenleben. Daraus ergibt sich schon als eine erste Pflicht oder die Grundlage aller Tugenden die allgemeine Menschenliebe, ohne die keine Gesellschaft möglich ist. Nur mit und in anderen ist der einzelne Mensch vollkommen, die Ethik soll Sozialethik sein. Die Freundschaft ist darum nicht, wie bei Aristoteles, eine Erweiterung der Selbstliebe, sondern eine Einschränkung oder eine Art der Nächstenliebe. Und diese, wie die Tugend überhaupt, kann sich nur bethätigen in der Gesellschaft oder der Staatsgemeinschaft, nicht aber in der Weltflucht des frommen Mönches. Der Einsiedler, der glaubt, mäßig und gerecht zu leben, irrt sich in Bezug auf den Charakter seiner Handlungen. Diese mögen religiös sein, moralisch sind sie nicht. Ihre Betrachtung fällt also nicht der Ethik zu. Übrigens stimmt, nach Ibn Maskawaih, das richtig aufgefasste Religionsgesetz vorzüglich mit einer humanen Ethik überein. Die Religion ist eine sittliche Schulung für das Volk. Ihre Vorschriften über den gemeinschaftlichen Gottesdienst und die Wallfahrt nach Mekka sollen z. B. die Pflege der Nächstenliebe in den weitesten Kreisen bezwecken. Im einzelnen ist es Ibn Maskawaih nicht gelungen, die ethischen Lehren der Griechen, die er in seine Darstellung aufnimmt, unter einander und mit dem Gesetz des Islam zu verschmelzen. Wir übergehen das. Doch ist nicht nur im allgemeinen sein Versuch zu loben, eine von der Kasuistik der Pflichtenlehrer und von der Askese der Sufi's freie Ethik zu geben, sondern auch in der Ausführung ist die Besonnenheit eines reichgebildeten Mannes anzuerkennen. 4. Ibn Sina. 1. Zu Efschene, in der Nähe Bocharas, wurde im Jahre 980 aus einer Beamtenfamilie geboren Abu Ali al-Hosain ibn Abdallah ibn Sina (Avicenna). Im elterlichen Hause, wo persische und anti-muslimische Traditionen lebendig waren, erhielt er seine weltliche und religiöse Erziehung. Dann studierte der körperlich und geistig frühreife Jüngling Philosophie und Medizin in Bochara. Siebzehn Jahre war er alt, als er den Fürsten Nuch ibn Mansur glücklich kurierte, und der Zutritt zu dessen Bibliothek ihm gestattet ward. Von jetzt ab war er, in Studium und Praxis, sein eigener Lehrer. Er verstand es, das Leben und die Bildung seiner Zeit sich zu Nutzen zu machen. Im Getriebe der Kleinstaaterei versuchte er unablässig sein Glück. Einem großen Fürsten hätte er sich wohl ebensowenig unterordnen können wie in der Wissenschaft einem Lehrer. Von Hof zu Hof wanderte er fort, bald in der Staatsverwaltung, bald als Lehrer und Schriftsteller thätig, bis er Wezir des Schems addaula in Hamadan wurde. Nach dem Tode dieses Fürsten ward er von dessen Sohne ein paar Monate auf die Festung geschickt. Darauf ging er weiter nach Ispahan zu Ala addaula. Endlich starb er noch in Hamadan, das Ala addaula erobert hatte, im Alter von 57 Jahren (1037). Sein Grab wird noch heute dort gezeigt. 2. Es ist wohl der größte Irrtum, der sich in der Geschichte der muslimischen Philosophie festgesetzt hat, Ibn Sina sei über Farabi hinaus zu einem reineren Aristotelismus vorgedrungen. Was kümmerte unser Weltmann sich im Grunde um Aristoteles. Sich in den Geist irgend eines Systems zu versenken, war nicht seine Sache. Er nahm das ihm Zusagende, wo er es fand, bevorzugte aber dabei die seichten Paraphrasen des Themistius. So ward er der große Vermittlungsphilosoph des Orients, der richtige Vorläufer der Kompendienschreiber für alle Welt. Er wusste seinen von überall her zusammengeholten Stoff geschickt zu gruppieren und, wenn auch nicht ohne Spitzfindigkeit, fasslich darzustellen. Jeden Augenblick seines Lebens nutzte er aus. Am Tage besorgte er die Staatsgeschäfte oder übte seine Lehrthätigkeit aus, der Abend war den geselligen Genüssen der Freundschaft und der Liebe gewidmet, und manche Nacht fand ihn schriftstellerisch thätig, das Schreibrohr in der Hand, den Becher zur Seite, damit er nicht einschlafe. Zeit und Umstände bestimmten diese Wirksamkeit. Wenn er am fürstlichen Hofe die nötige Muße und eine Bibliothek zur Hand hatte, schrieb er seinen Kanon der Medizin oder die große philosophische Encyklopädie. Auf Reisen verfasste er Auszüge und kleinere Werke. Auf der Festung schrieb er Gedichte und fromme Betrachtungen, aber immer in gefälliger Form. Seine kleineren mystischen Schriften haben sogar einen poetischen Reiz. Auf Bestellung ward von ihm auch die Wissenschaft, Logik und Medizin versifiziert, wie das seit dem zehnten Jahrhundert immer mehr Sitte wurde. Nimmt man hinzu, dass er nach Belieben persisch oder arabisch schrieb, so bekommt man das Bild eines vielgewandten Mannes. Sein Leben war reich an Arbeit und Genuss bis zur Übersättigung. An Genialität freilich stand er seinem älteren Landsmann, dem Dichter Firdausi (940-1020), an wissenschaftlichem Talente seinem Zeitgenossen Beruni (s. unten § 9) nach. Firdausi und Beruni haben für uns noch Bedeutung. Ibn Sina aber war der Ausdruck seiner Zeit und darauf beruht seine große Wirkung, seine geschichtliche Stellung. Nicht wie Farabi zog er sich aus dem Leben zurück, sich in die Kommentatoren des Aristoteles zu versenken, sondern in ihm verschmolzen sich griechische Wissenschaft und orientalische Weisheit. Kommentare zu den Alten, meinte er, waren genug geschrieben. Es war jetzt an der Zeit, eine eigene Philosophie auszubilden, d. h. alten Lehren eine moderne Form zu geben. 3. In der Medizin befleißigt Ibn Sina sich einer systematischen Darstellung, doch ist er hier kein strenger Logiker. Der Erfahrung räumt er, wenigstens theoretisch, einen großen Platz ein und ausführlich bespricht er die Bedingungen, unter denen nur z. B. die Wirksamkeit der Heilmittel erkannt werden könne. Was aber an philosophischen Prinzipien die Medizin enthält, soll diese als Lehnsätze aus der Philosophie herübernehmen. Die eigentliche Philosophie zerfällt in Logik, Physik und Metaphysik. Als Ganzes umfasst sie die Wissenschaft alles Seienden als solchen und der Prinzipien aller Einzelwissenschaften, wodurch, soweit es menschenmöglich ist, die philosophierende Seele die höchste Vollkommenheit erreicht. Das Seiende ist nun entweder geistig, Gegenstand der Metaphysik, oder körperlich, Gegenstand der Physik, oder intellektuell, Gegenstand der Logik. Die Gegenstände der Physik können weder sein noch gedacht werden ohne Materie. Das Metaphysische aber ist ganz ohne Materie und das Logische ist von der Materie abstrahiert. Einige Ähnlichkeit hat das Logische mit dem Mathematischen, insofern nämlich die Gegenstände der Mathematik sich von der Materie abstrahieren lassen. Doch bleibt das Mathematische immer darstellbar, konstruierbar, hingegen hat das Logische als solches sein Dasein nur im Intellekte, wie z. B. Identität, Einheit und Vielheit, Allgemeinheit und Partikularität, Wesentlichkeit und Zufälligkeit u. s. w. Die Logik ist demnach die Wissenschaft der Denkbestimmungen. In der näheren Ausführung schließt Ibn Sina sich ganz der Logik Farabis an. Wohl besser noch würde sich die Übereinstimmung uns zeigen, wenn die logischen Schriften seines Vorgängers vollständiger erhalten wären. Öfter betont er die Mangelhaftigkeit der menschlichen Denknatur, die einer logischen Regel dringend bedürftig sei. Wie der Physiognomiker aus äußeren Zügen auf den Charakter des Inneren schließt, so soll der Logiker aus bekannten Vordersätzen Unbekanntes ableiten. Wie leicht schleichen sich dabei die Irrtümer der Phantasie und der Begierde ein! Eines Kampfes mit der Sinnlichkeit bedarf es, damit das Vorstellungsleben sich erhebe zu der reinen Wahrheit der Vernunft, durch die etwas als notwendig erkannt wird. Nur der göttlich inspirierte Mensch kann der Logik entbehren, ebenso wie der Beduine eine arabische Grammatik nicht braucht. Auch die Universalienfrage wird ähnlich wie bei Farabi behandelt. Vor aller Vielheit hat jedes Ding ein Sein im Geiste Gottes und der Engel (Sphärengeister), dann geht es als materielle Form in die Vielheit ein, um endlich im menschlichen Intellekte zur Allgemeinheit des Begriffes sich zu erheben. Wie nun Aristoteles zwischen erster (individueller) und zweiter (allgemeinbegrifflicher) Substanz unterschieden hat, so macht Ibn Sina ähnlich einen Unterschied zwischen erstem und zweitem Begriff (ma'nâ, intentio). Der erste bezieht sich auf die Dinge, der zweite auf die Disposition unseres Denkens. 4. In der Metaphysik und der Physik unterscheidet Ibn Sina sich von Farabi hauptsächlich dadurch, dass er, indem er die Materie nicht aus Gott ableitet, das Geistige höher über alles Materielle hinausrückt, und, im Zusammenhang damit, die Bedeutung der Seele als einer Vermittlerin zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen steigert. Aus dem Begriffe des Möglichen und Notwendigen ergibt sich die Existenz eines notwendigen Wesens schlechthin. Nicht aus seinen Werken soll man, nach Ibn Sina, das Dasein eines Schöpfers zu erweisen suchen, sondern aus dem möglichen Charakter alles Seienden und Denklichen in der Welt die Existenz eines ersten notwendig Seienden, in welchem Wesen und Dasein Eins sind, folgern. Nicht nur alles, was unter dem Monde ist, ist möglicher Natur, sondern auch die Himmel sind an sich nur möglich. Notwendig wird ihre Existenz durch ein anderes, das über alle Möglichkeit hinaus ist, also auch über alle Vielheit und Veränderlichkeit. Das absolut Notwendige ist eine starre Einheit, aus der nichts Vielfaches hervorgehen kann. Dieses erste Eine ist Ibn Sinas Gott, dem zwar viele Prädikate, des Denkens u. s. w., beigelegt werden, aber nur im Sinne der Negation oder der Beziehung, sodass sie die Einheit des Wesens nicht berühren. Aus dem ersten Einen kann also nur Eines hervorgehen, der erste Weltgeist. In diesem entsteht die Vielheit. Indem er nämlich seine Ursache denkt, erzeugt er einen dritten Geist, den Lenker der äußersten Sphäre; indem er sich selbst denkt, entsteht eine Seele, mittelst der der Sphärengeist seine Wirkung ausübt; und sofern er drittens ein an sich Mögliches ist, geht aus ihm ein Körper hervor, die äußerste Sphäre. Und so geht es weiter. Jeder Geist entlässt aus sich eine Dreiheit: Geist, Seele und Körper. Denn, da der Geist nicht unmittelbar den Körper bewegen kann, so bedarf er zur Ausübung seiner Wirksamkeit der Seele. Zuletzt kommt der thätige Geist (`aql fu-``âl) der die Materie des Irdischen, die körperlichen Formen und die menschlichen Seelen hervorbringt und lenkt. Dieser ganze Prozess, der nicht zeitlich vorgestellt werden darf, findet statt in einem Substrate, der Materie. Die Materie ist die ewige, reine Möglichkeit alles Seienden, zugleich die Schranke für die Wirkung des Geistes. Sie ist das Prinzip aller Individualität. Das musste nun allerdings gläubigen Muslimen als etwas Furchtbares erscheinen. Wohl hatten mutazilitische Dialektiker behauptet, Gott könne kein Böses oder nichts Vernunftwidriges thun. Jetzt aber behauptete die Philosophie, dass Gott statt alles Mögliche zu können, nur das an sich Mögliche zu bewirken im Stande sei, und dass direkt von ihm nur der erste Weltgeist ausgehe. Übrigens macht Ibn Sina alle Anstrengung, sich dem Volksglauben anzubequemen. Alles ist durch Gottes Bestimmung, sagt er, Gutes und Böses, aber nur ersteres mit freudiger Billigung. Das Böse ist entweder ein Nichtseiendes oder, sofern es von Gott herrührt, ein Accidentelles. Hätte Er, der notwendigen Übel wegen, diese Welt nicht hervorgehen lassen, so wäre das der Übel größtes gewesen. Die Welt könnte nicht besser und schöner sein als sie eben ist. In ihrer schönen Ordnung besteht die göttliche Vorsehung, die von den Seelen der Himmel vermittelt wird. Gott und die reinen Geister kennen nur das Allgemeine, können also nicht für Besonderes sorgen. Aber die Seelen der Himmelsphären, denen Vorstellung des Einzelnen zukommt und durch die der Geist auf den Körper wirkt, bieten die Möglichkeit, eine Fürsorge auch für das Einzelne und den Einzelnen anzunehmen, die Offenbarung zu erklären u. s. w. Auch das plötzliche Entstehen und Vergehen von Substanzen (Schöpfung und Vernichtung) im Gegensatze zu der stetigen Bewegung, d. h. dem allmählichen Übergange des Möglichen zum Wirklichen, scheint dem Ibn Sina nichts Unmögliches zu bedeuten. Überhaupt herrscht bei ihm keine Klarheit über das Verhältnis der Seinsformen, über Geist und Körper, Form und Materie, Substanz und Accidens. Dem Wunder bleibt jedenfalls ein Platz übrig. In heftigen, seelischen Erregungen, die oft plötzlich eine große Hitze oder Kälte bei uns hervorrufen, haben wir, nach Ibn Sina, Analoga zu wunderbaren Wirkungen der Weltseele, wenn diese auch gewöhnlich dem Naturlaufe folgt. Von allen diesen Möglichkeiten macht unser Philosoph selbst sehr mäßigen Gebrauch. Astrologie und Alchemie hat er aus ganz vernünftigen Gründen bekämpft. Trotzdem hat man ihm bald nach seinem Tode schon astrologische Gedichte aufgebürdet und erscheint er in der türkischen Romanlitteratur, freilich an der Stelle eines alten Mystikers, als Zauberer. Ibn Sinas Physik beruht ganz auf der Annahme, ein Körper könne nichts bewirken. Was wirkt, ist überall eine Kraft, eine Form, eine Seele und durch sie der Geist. Im Gebiete des Physischen gibt es also unzählige Kräfte, deren Hauptstufen von unten nach oben die Naturkräfte, die Vermögen der Pflanzen und der Tiere, die Menschenseelen und die Weltseelen sind. 5. Farabi war es vor allem um die reine Vernunft zu thun: er hat das Denken um seiner selbst willen geliebt. Ibn Sina aber ist überall um die Seele bemüht. Wie er in seiner Medizin den menschlichen Körper ins Auge fasst, so in seiner Philosophie die menschliche Seele. Seine große philosophische Encyklopädie heißt ja die Heilung (sc. der Seele). Die Psychologie ist der Mittelpunkt seines Systems. Seine Anthropologie ist dualistisch. Körper und Seele gehören nicht wesentlich zusammen. Wie alle Körper unter der Einwirkung der Gestirne aus der Mischung der Elemente hervorgehen, so der menschliche Körper aus dem schönsten Gleichmaße dieser Mischung. Eine spontane Generation des Körpers, wie überhaupt ein Aussterben und Neuerstehen des Menschengeschlechtes ist deshalb möglich. Aber aus der Mischung der Elemente lässt sich die Seele nicht erklären. Sie ist nicht die untrennbare Form des Körpers, sondern diesem accidentell. Von dem Geber der Formen, d. h. dem thätigen Geiste über uns, erhält jeder Körper seine ihm und nur ihm eignende Seele. Von Anfang an ist jede Seele Individualsubstanz und sie bildet sich zeitlebens in ihrem Körper immer individueller aus. Zu der Behauptung, die Materie sei das Prinzip der Individualität, stimmt dies allerdings nicht. Aber die Seele ist das Wunderkind unseres Philosophen. Er ist nicht leichtgläubig, warnt öfter vor einem allzuleichten Hinnehmen der Geheimnisse des Seelenlebens, weiß aber doch selber manches zu berichten über die vielen wunderbaren Kräfte und möglichen Wirkungen der Seele, die die vielverschlungenen Pfade des Lebens wandert und die Abgründe des Seins und Nichtseins übersteigt. Von allen Seelenkräften sind die theoretischen Vermögen die vorzüglichsten. Äußere und innere Sinne führen der vernünftigen Seele die Kenntnis der Welt zu. Besonders die Lehre von den inneren Sinnen, den sinnlich-geistigen Vorstellungsvermögen, deren Sitz das Gehirn, wird von Ibn Sina eingehend dargestellt. Gewöhnlich nahmen die Mediziner-Philosophen drei innere Sinne oder Stadien des Vorstellungsprozesses an: 1. die Zusammenfassung der einzelnen Sinneswahrnehmungen zu einem Gesamtbilde im Vorderhirn; 2. die Umbildung oder Bearbeitung dieser Vorstellung des Gemeinsinnes mit Hilfe schon vorhandener Vorstellungen, also die eigentliche Apperzeption, in der Mitte des Gehirns; 3. die Aufbewahrung der apperzipierten Vorstellung im Gedächtnis, das seinen Sitz im hintern Teile des Gehirns haben soll. Ibn Sina geht etwas weiter in der Analyse. Er unterscheidet im Vorderhirne vom Gemeinsinne das sinnliche Gedächtnis, die Schatzkammer der Gesamtbilder. Ferner lässt er die Apperzeption teils unbewusst, unter dem Einfluss des sinnlich-begehrenden Lebens, wie es sich auch bei den Tieren findet, von statten gehen, teils aber bewusst, unter der Mitwirkung der Vernunft, zu Stande kommen. In dem ersteren Falle behält die Vorstellung ihre Beziehung zu dem Einzelding -- so kennt das Schaf die Feindschaft des Wolfes --, in dem zweiten Falle aber erweitert sie sich zum allgemeinen. Dazu kommt dann als fünftes hinzu das vorstellende Gedächtnis oder das Zeughaus der von der sinnlichen Phantasie und dem vernünftigen Nachdenken gebildeten Vorstellungen. Es entsprechen also, aber ganz anders als bei den treuen Brüdern (s. III, 2 § 8), den fünf äußeren Sinnen fünf innere. Unbeantwortet bleibt die aufgeworfene Frage, ob man nicht von dem Gedächtnis noch die Erinnerung als ein besonderes Vermögen zu scheiden habe. 6. Auf dem Gipfel der theoretischen Seelenkräfte steht die Vernunft. Es gibt zwar auch eine praktische Vernunft, aber in ihrem Thun haben wir uns selbst nur mittelbar, vervielfältigt; unmittelbar dagegen in dem Selbstbewusstsein, dem reinen Erkennen unseres Wesens, darin die Einheit unserer Vernunft sich darstellt. Statt aber die niederen Kräfte der Seele herabzudrücken, zieht die Vernunft dieselben hinauf, die Sinneswahrnehmung verfeinernd, die Vorstellung verallgemeinernd. An dem ihr von den äußeren und inneren Sinnen zugeführten Materiale arbeitet sich die Vernunft, die anfangs bloße Denkfähigkeit ist, nach und nach zur vollkommenen Denkfertigkeit aus. Durch Übung wird die Anlage Wirklichkeit. Es geschieht das an der Hand der Erfahrung, aber unter der Führung und der Erleuchtung von oben, von dem Geber der Formen, der als thätiger Geist der Vernunft die Ideen mitteilt. Ein Gedächtnis aber für die reinen Vernunftideen hat die menschliche Seele nicht, denn Gedächtnis setzt immer ein körperliches Substrat voraus. So oft also die vernünftige Seele etwas erkennt, fließt ihr jedesmal von oben die Erkenntnis zu, und nicht durch Umfang und Inhalt des Erkennens unterscheiden sich die denkenden Seelen, sondern durch die Fertigkeit, sich zur Aufnahme der Erkenntnis mit dem Geiste über uns in Verbindung zu setzen. Die vernünftige Seele, die dasjenige, was unter ihr ist, beherrscht, und das Höhere durch die Erleuchtung des Weltgeistes erkennt, ist nun der eigentliche Mensch, entstanden zwar, aber als einfaches Wesen, als Individualsubstanz, unzerstörbar, unsterblich. Hier unterscheidet durch ihre Klarheit Ibn Sinas Lehre sich von derjenigen des Farabi. Seit Ibn Sina gilt im Orient die Annahme der individuellen Unsterblichkeit entstandener Menschenseelen als aristotelisch, das Gegenteil als platonisch. So versteht sich seine Philosophie besser mit der Religion. Im menschlichen Körper und in der ganzen Sinnenwelt hat die Seele eine Schule, sich auszubilden. Nach dem leiblichen Tode aber, der diesem Körper für immer ein Ende macht, besteht die Seele in enger oder entfernter Verbindung mit dem Weltgeiste fort. In dieser Vereinigung (die nicht als völlige Einswerdung aufzufassen ist) mit dem Geiste über uns besteht die Seligkeit der guten, wissenden Seelen. Den anderen wird ewiges Unglück zu teil. Wie körperliche Mängel zu Krankheiten führen, so folgt notwendig aus schlechtem Seelenzustande die Strafe. In derselben Weise bemisst sich aber auch die himmlische Belohnung nach der Stufe seelischer Gesundheit oder Vernünftigkeit, die im Erdenleben erreicht wurde. Der reinen Seele bleibt in den Leiden der Zeit der Trost des Ewigen. Freilich wird das Höchste nur von wenigen erreicht. Auf dem Gipfel der Wahrheit ist für die Masse kein Platz; nur einer nach dem andern dringt zu der auf einsamer Höhe entspringenden Quelle der Gotteserkenntnis vor. 7. Seine Ansicht von der menschlichen Vernunft auszudrücken, benutzt und deutet Ibn Sina dichterische Überlieferungen, wie das auch in der späteren persischen Litteratur sehr beliebt war. An erster Stelle interessiert uns die allegorisierte Gestalt des Hai ibn Jaqzan. Sie stellt den Aufstieg des Geistes aus den Elementen durch die Reiche der Natur, der Seele und der Geister bis zum Throne des Ewigen, Einen dar. Als ein jugendlicher Greis, seine Führerschaft anbietend, begegnet sie dem Philosophen. Dieser hat sich bemüht, mit seinen äußeren und inneren Sinnen, Erde und Himmel zu erkennen. Zwei Wege öffnen sich ihm: nach Westen der Weg der Materie und des Bösen, nach Sonnenaufgang aber der Weg der geistigen, ewigreinen Formen, auf den Hai den Wanderer führt. Zusammen gelangen sie zu der Quelle göttlicher Weisheit, dem Born ewiger Jugend, wo Schönheit der Schönheit Vorhang, Licht des Lichtes Schleier ist: das ewige Geheimnis. Hai ibn Jaqzan ist demnach der Führer der einzelnen denkenden Seelen, er ist der ewige Geist, der über der Menschheit steht und sich in ihr bethätigt. Einen ähnlichen Sinn findet unser Philosoph in der vielfach umgebildeten spätgriechischen Legende von den Brüdern Salaman und Absal. Salaman ist ihm der Weltmensch, dessen Weib (= die sinnliche Welt) sich in Absal verliebt und diesen durch eine List in ihre Arme zu führen weiß. Vor dem entscheidenden Augenblicke fährt aber ein Blitz vom Himmel herab, entdeckt Absal den beinahe begangenen Frevel und erhebt ihn von der sinnlichen Genusswelt zu der Welt reingeistiger Betrachtung. Wie ein Vogel, heißt es an anderer Stelle, ist die Seele des Philosophen. Mit großer Mühe entkommt sie irdischen Stricken und durchfliegt die Weltenräume, bis der Engel des Todes ihr die letzten Fesseln löst. Das ist Ibn Sinas Mystik. Seine Seele hat Bedürfnisse, für die seine Apotheke keine Mittel, das höfische Leben keine Befriedigung darbietet. 8. Ethik und Politik theoretisch auszubilden bleibe den Lehrern des Fiqh überlassen. Unser Philosoph fühlt sich auf der Stufe eines Erleuchteten wie ein Gott über alle menschlichen Gesetze hinausgehoben. Nur für die Menge ist das Gesetz der Religion und des Staates verpflichtend. Mohammeds Zweck war, die Beduinen zu zivilisieren; zu dem Zwecke predigte er u. a. eine Auferstehung des Fleisches. Was reingeistige Seligkeit bedeutet, hätten sie nicht verstanden, er musste sie also mit der Aussicht auf körperliche Leiden oder Freuden erziehen. Mit dieser sinnlichen Menge, deren Gottesdienst in der Beobachtung äußerer Formen besteht, stimmen insofern die Asketen, obgleich sie ganz der Welt und der Sinne entsagen wollen, überein, dass auch sie mit Rücksicht auf eine himmlische Belohnung ihre frommen Werke ausüben. Höher als die Menge und die Frommen stehen die wahren Gottesverehrer in geistiger Liebe, die nichts wollen als Gott selbst, ohne Hoffnung, ohne Furcht. Ihr Eigentum ist die Freiheit des Geistes. Dieses Geheimnis aber soll man der Menge nicht offenbaren. Nur seinen liebsten Schülern vertraut es der Philosoph. 9. Ibn Sina kam auf seinen Reisen mit vielen gelehrten Zeitgenossen zusammen. Dauernde Verbindungen waren, wie es scheint, nicht davon die Folge. Wie er sich von seinen Vorgängern allein dem Farabi verpflichtet fühlt, so dankt er der Mitwelt nur in seinen fürstlichen Gönnern. Den Ibn Maskawaih (s. IV 3), mit dem er noch öfter zusammenkam, hat er ungünstig beurteilt. Mit dem ihm als Forscher überlegenen Beruni führte er eine Korrespondenz, die aber bald abgebrochen wurde. Beruni (973-1048), wenn er auch Kindi und Masudi eher als Farabi und den jüngeren Ibn Sina seine Meister nennen darf, verdient hier zur Charakteristik der Zeit einer kurzen Erwähnung. Vorzüglich beschäftigten ihn Mathematik, Astronomie, Länder- und Völkerkunde. Er war ein scharfer Beobachter und guter Kritiker. Aber er verdankte der Philosophie manche Aufklärung und widmete ihr als Kulturerscheinung fortwährend seine Aufmerksamkeit. Treffend hebt Beruni die Übereinstimmung zwischen pythagoreisch-platonischer Philosophie, indischer Weisheit und vielen sufischen Anschauungen hervor. Nicht weniger treffend erkennt er die Überlegenheit griechischer Wissenschaft gegenüber den Versuchen und Leistungen der Araber und Inder. Indien, sagt er, von Arabien ganz zu schweigen, hat keinen Sokrates hervorgebracht. Keine logische Methode hat dort die Phantasie aus der Wissenschaft vertrieben. Doch will er einzelnen Indern gerecht werden. Zustimmend führt er als die Lehre der Anhänger Aryabhatas folgendes an: "Es genügt uns, das zu erkennen, was von den Strahlen der Sonne beleuchtet wird; was darüber hinausgeht, wenn auch von unermesslicher Ausdehnung, brauchen wir nicht. Was der Sonnenstrahl nicht erreicht, können die Sinne nicht wahrnehmen, und was der Sinn nicht wahrnimmt, können wir nicht erkennen." Daraus ergibt sich uns Berunis Philosophie. Nur die Wahrnehmungen der Sinne, von einem logischen Geiste verknüpft, gewähren sichere Erkenntnis. Und zum Leben brauchen wir eine praktische Philosophie, die uns vom Freunde den Feind unterscheiden lässt. Er glaubte selbst wohl nicht, damit alles und das letzte Wort gesagt zu haben. 10. Aus der Schule Ibn Sinas sind uns mehr Namen überliefert als Schriften erhalten. Dschuzdschani hat, im Anschluss an eine Selbstbiographie, das Leben des Meisters beschrieben. Und von Abu-l-Hasan Behmenjar ibn al-Marzuban haben wir noch ein paar kleinere metaphysische Abhandlungen, die sich fast ganz in Übereinstimmung mit dem Systeme seines Lehrers befinden. Nur scheint die Materie etwas von ihrer Substantialität einzubüßen: als Seinsmöglichkeit wird sie zu einer Relation oder Beziehung des Denkens. Gott ist, nach Behmenjar, die reine, ursachlose Einheit notwendigen Seins, nicht der lebendige, alles wirkende Schöpfer. Er ist zwar Ursache der Welt, aber die Folge ist mit der Ursache zugleich und notwendig gegeben, sonst wäre die Ursache nicht vollkommen, weil der Veränderung fähig. Wesenhaft, nicht zeitlich, geht Gottes Dasein dem der Welt voran. Drei Bestimmungen kommen demnach dem höchsten Sein zu: dass es wesentlich zuerst, sich selbst genügend und notwendig sei, m. a. W. Gottes Wesen ist die Seinsnotwendigkeit. Diesem absolut-notwendigen Sein verdankt alles möglicherweise Existierende sein Dasein. Das stimmt nun wohl zu den Lehren Ibn Sinas. Und ebenso verhält es sich mit dem Weltbilde und der Seelenlehre des Schülers. Was einmal zur vollen Wirklichkeit gelangt ist, die der Art nach verschiedenen Sphärengeister, die Urmaterie und die individuell verschiedenen menschlichen Seelen, besteht alles ewig fort. Vollwirkliches, weil ohne jede Möglichkeit, kann nicht vergehen. Die Eigenart alles Geistigen ist die Erkenntnis des eigenen Wesens. Wille heißt, nach Behmenjar, nichts anderes als Erkenntnis dessen, was notwendig aus dem Wesen folgt. In der Selbsterkenntnis besteht auch das Leben und die Lust der vernünftigen Seele. 11. Ibn Sina hat eine weitgehende Wirkung erzielt. Nach seinem Kanon der Medizin, der auch im Abendlande vom 13. bis 16. Jahrhundert hohes Ansehen genoss, werden heutigen Tages noch die Perser kuriert. Sein Einfluss auf die christliche Scholastik war bedeutend. Dante setzte ihn zwischen Hippokrat und Galen, und Scaliger behauptete, er sei in der Medizin dem Galen gleich, in der Philosophie diesem sogar weit überlegen. Dem Orient galt und gilt er als der Fürst der Philosophie. Der neuplatonische Aristotelismus ist dort bekannt geblieben in der Form, die ihm Ibn Sina gegeben. Zahlreich sind die Handschriften seiner Werke, ein Zeugnis seiner Popularität, unzählig aber die Kompendien und Kommentare zu seinen Schriften. Mediziner und Staatsmänner, aber auch Theologen studierten ihn. Nur wenige gingen über ihn zu den Quellen zurück. Der Feinde gab es freilich von Anfang an viele und sie äußerten sich lauter als die Freunde. Dichter verfluchten ihn, Theologen stimmten mit ein oder versuchten es, ihn zu widerlegen. Und der Chalif Mustandschid ließ im Jahre 1150 unter der philosophischen Bibliothek eines Richters auch die Schriften Ibn Sinas zu Bagdad dem Feuer übergeben. 5. Ibn al-Haitham. 1. Nach Ibn Sina und seiner Schule fand die theoretische Philosophie in den östlichen Ländern des muslimischen Reiches wenig Pflege mehr. Die arabische Sprache musste im Leben und in der Litteratur dort immer mehr der persischen weichen. Dass letztere Sprache sich weniger gut zu abstrakt logischen und metaphysischen Erörterungen eignet, dürfte dabei nur ganz nebensächlich ins Gewicht fallen. Es änderten sich in trauriger Weise die Kulturverhältnisse und damit die Interessen der Menschen. Ethik und Politik traten in den Vordergrund, jedoch ohne eine wirklich neue Gestalt zu bekommen. Ganz vorherrschend aber war es in der neupersischen Litteratur eine teils freigeistige, teils, und zwar überwiegend, mystische Poesie, die das Bedürfnis der Gebildeten nach Weisheit befriedigte. Seit der Mitte des zehnten Jahrhunderts etwa hatte sich von Bagdad aus ein Teil der wissenschaftlichen Bewegung dem Westen zugewendet. Wir fanden schon Farabi in Syrien, Masudi in Ägypten. Dort wurde Kairo ein zweites Bagdad. 2. In Kairo treffen wir am Anfang des elften Jahrhunderts einen der bedeutendsten Mathematiker und Physiker des ganzen Mittelalters, Abu Ali Mohammed ibn al-Hasan ibn al-Haitham. In Basra, wo er geboren wurde, hatte er schon ein Staatsamt verwaltet. In allzugroßem Vertrauen auf die Verwertbarkeit seiner mathematischen Kenntnisse glaubte er die Nilüberschwemmungen regulieren zu können. Deshalb vom Chalifen al-Hakim berufen, sah er bald nach seiner Ankunft das Vergebliche seiner Bemühungen ein. Als Verwaltungsbeamter fiel er dann in Ungnade, verbarg sich bis zum Tode des Chalifen (1020) und lebte ferner wissenschaftlichen und litterarischen Arbeiten, bis er im Jahre 1038 starb. Seine Hauptwirksamkeit liegt auf dem Gebiete der Mathematik und ihrer Anwendung. Doch hat er sich auch sehr viel mit den galenischen und aristotelischen Schriften, und nicht bloß mit den physischen, beschäftigt. Nach seinem eigenen Bekenntnis hat er von Jugend auf alles bezweifelnd, die verschiedenen Ansichten und Lehren der Menschen betrachtet, bis er in allen mehr oder weniger gelungene Versuche, sich der Wahrheit zu nähern, erkannte. Als Wahrheit galt ihm ferner nur das, was sich der sinnlichen Wahrnehmung als Material darbot und vom Verstande seine Form erhielt, also die logisch bearbeitete Wahrnehmung. Solche Wahrheit zu suchen war sein Bestreben beim Studium der Philosophie. Die Philosophie sollte ihm Grundlage aller Wissenschaften sein. Er fand sie in den Schriften des Aristoteles, weil dieser es am besten verstanden hatte, die sinnliche Wahrnehmung einheitlich zu vernünftiger Erkenntnis zu verknüpfen. Eifrig studierte und erläuterte er darum die Werke des Aristoteles, zu Nutz und Frommen der Menschheit, zu eigener Übung und als Schatz und Trost für sein Alter. Von diesen Arbeiten scheint uns aber nichts erhalten zu sein. Des Ibn al-Haithams bedeutendste Schrift, die in lateinischer Übersetzung und Bearbeitung auf uns gekommen ist, ist die Optik. Er zeigt sich darin als einen scharfen mathematischen Denker, überall um die Analyse der Begriffe und der wirklichen Vorgänge bemüht. Ein Abendländer des 13. Jahrhunderts (Witelo) wusste das Ganze methodischer darzustellen, doch dürfte an Schärfe der Beobachtung im einzelnen Ibn al-Haitham jenem überlegen sein. 3. Das Denken Ibn al-Haithams ist ganz mathematisch bestimmt. Die Substanz eines Körpers besteht nach ihm aus der Summe seiner wesentlichen Eigenschaften, wie das Ganze der Summe der Teile und der Begriff der Summe seiner Merkmale gleich ist. In der Optik interessieren uns besonders die psychologischen Bemerkungen über das Sehen und die Sinneswahrnehmung überhaupt. Das Bestreben ist hier darauf gerichtet, die einzelnen Momente der Wahrnehmung zu sondern und den zeitlichen Charakter des ganzen Prozesses hervorzuheben. Die Wahrnehmung setzt sich dann zusammen aus der Sinnesempfindung (1), der Vergleichung (2) mehrerer Empfindungen oder der jetzigen Empfindung mit dem infolge früherer Empfindungen nach und nach in der Seele geformten Erinnerungsbilde, und dem Wiedererkennen (3), sodass wir das jetzt Wahrgenommene als mit dem Erinnerungsbilde gleich erkennen. Das Vergleichen und das Wiedererkennen sind keine Thätigkeiten der Sinne, die nur passiv empfinden, sondern fallen dem urteilenden Verstande zu. Gewöhnlich geht das alles unbewusst oder halbbewusst von statten, und nur durch Besinnung wird es uns zum Bewusstsein geführt und das scheinbar Einfache in seine Bestandteile zerlegt. Der Prozess der Wahrnehmung verläuft sehr schnell. Je geübter der Mensch in dieser Hinsicht ist und je öfter eine Wahrnehmung sich wiederholt, um so fester wird das Erinnerungsbild der Seele eingeprägt, um so schneller kommt das Wiedererkennen oder die Wahrnehmung zu Stande. Die Ursache davon ist die, dass die neue Empfindung von dem schon vorhandenen seelischen Gebilde ergänzt wird. Leicht könnte man also meinen, die Wahrnehmung sei, wenigstens nach langer Einübung, ein zeitloser Akt. Das wäre aber ein Irrtum, denn nicht nur entspricht jeder Empfindung eine qualitative, im Sinnesorgan lokalisierte Veränderung, die eine Zeit erfordert, sondern auch zwischen der Reizung des Organs und der bewussten Wahrnehmung muss der räumlichen Fortleitung des Reizes durch die Nerven eine Zeitstrecke entsprechen. Dass es z. B. zur Auffassung einer Farbe Zeit bedarf, beweist der drehende Farbenkreisel, der uns nur eine Mischfarbe zeigt, weil wir wegen der schnellen Bewegung keine Zeit haben, die einzelnen Farben aufzufassen. Vergleichen und Wiedererkennen sind nach Ibn al-Haitham die bedeutenden, seelischen Momente der Wahrnehmung. Dagegen entspricht die Empfindung der Materie, der empfindende Sinn verhält sich passiv. Eigentlich ist alles Empfinden an sich eine Art Unlust, welche sich für gewöhnlich nicht fühlbar macht, bei sehr starken Reizen aber, z. B. durch allzuhelles Licht, zum Bewusstsein kommt. Der Charakter der Lust kommt nur der vollkommenen Wahrnehmung zu, d. h. dem Erkennen, das die Materie der Empfindung zur seelischen Form erhebt. Das Vergleichen und Wiedererkennen in der Wahrnehmung ist wesentlich ein unbewusstes Urteilen und Schließen. Das Kind macht schon einen Schluss, wenn es von zwei Äpfeln den schöneren wählt. Schließen ist jede Erfassung eines Zusammenhanges. Weil aber Urteilen und Schließen schnell zu Stande kommen, irrt der Mensch sich dabei leicht, und hält auch oft für einen ursprünglichen Begriff, was nur ein auf dem Wege des Schließens abgeleitetes Urteil ist. Bei allem, was uns als Axiome verkündet wird, soll man doch auf der Hut sein und nachspüren, ob es nicht aus Einfacherem abgeleitet werden könne. 4. Diese Aufforderung unseres Philosophen hat im Orient wenig gefruchtet. Zwar hat er in Mathematik und Astronomie etwas Schule gemacht, aber für seine aristotelische Philosophie gab es weniger Liebhaber. Wir kennen nur einen seiner Schüler, der zu den Philosophen gezählt wird, Abu-l-Wafa Mubasschir ibn Fatik al-Qaid, einen ägyptischen Emir, der im Jahre 1053 ein Werk mit Spruchweisheit, Anekdoten zur Philosophiegeschichte u. s. w. lieferte. Von eigener Gedankenarbeit ist dabei kaum etwas zu spüren. Es sollte unterhalten. Und mehr noch als an solchem Werke erbauten sich die Einwohner Kairos in der Folgezeit an den Märchen der Tausend und eine Nacht. Der Orient hat Ibn al-Haitham fast vergessen, ihn und seine Werke verketzert. Ein Schüler des jüdischen Philosophen Maimonides erzählt, er sei wegen Handelsgeschäfte in Bagdad gewesen, als dort die Bibliothek eines Philosophen (gest. 1214) verbrannt wurde. Da warf ein Prediger, der die Exekution leitete, mit eigener Hand eine astronomische Schrift des Ibn al-Haitham in die Flammen, nachdem er auf eine darin abgebildete Weltkugel als das Unglückszeichen verruchter Gottlosigkeit hingewiesen hatte. V. DER AUSGANG DER PHILOSOPHIE IM OSTEN. 1. Gazali. 1. Wir haben früher schon gesehen, dass die theologische Bewegung im Islam stark von der Philosophie beeinflusst war. Nicht nur die mutazilitische, sondern auch die antimutazilitische Dialektik holte ihre Ansichten und die Argumente, womit sie die eigene Lehre stützte, die des Gegners bekämpfte, zum großen Teile aus den Schriften der Philosophen. Man nahm aus diesen auf, was man eben brauchen konnte, das andere ließ man auf sich beruhen, oder aber man machte den Versuch, es zu widerlegen. So entstanden zahlreiche Schriften, gegen eine besondere philosophische Lehre oder einen einzelnen Philosophen gerichtet. Ein Versuch aber, das ganze System der Philosophie, wie es im Osten auf griechischer Grundlage aufgebaut war, nach eingehendem Studium von allgemeinen Gesichtspunkten aus zu bekämpfen, ist wohl vor Gazali nicht gemacht worden. Das Unternehmen Gazalis hatte auch eine positive Seite. Neben der Dialektik, die die Lehren des Glaubens verständlich zu machen oder gar vernünftig zu begründen suchte, lief im Islam eine Mystik her, die auf innerliches, gemütliches Erfassen des Dogmas aus war. Nicht begreifen oder beweisen wollte sie den Glaubensinhalt, sondern erfahren, im Geiste erleben. Dem Glauben soll ja die höchste Gewissheit zukommen. Sollte man ihn dann in ein abgeleitetes Wissen verwandeln können? Oder sollten seine Sätze Prinzipien der Vernunft sein, keines weiteren Beweises fähig noch bedürftig? Aber die Grundsätze der Vernunft müssen, wenn sie einmal bekannt sind, allgemein anerkannt werden, und die allgemeine Anerkennung fehlt den Sätzen des Glaubens. Woher sonst der Unglaube? So wurde weiter gefragt. Und als der einzige Ausweg aus solchen Zweifeln erschien es vielen, die Glaubenslehre auf eine innere, übervernünftige Erleuchtung zu gründen. Anfangs geschah das unbewusst, in mystischem Drange, wobei denn oft der Inhalt der Pflichten- und Glaubenslehre sehr vernachlässigt wurde. Auch hier hat Gazali eingegriffen. Was vielleicht von Salimiten und Karramiten, antimutazilitischen Sekten, vorgebildet war, hat er in großem Stile durchgeführt: die Mystik trägt und krönt seit seiner Zeit das Lehrgebäude des orthodoxen Islam. 2. Merkwürdig ist die Lebensgeschichte dieses Mannes, und zum Verständnis seiner Wirksamkeit ist es unbedingt erforderlich, etwas näher darauf einzugehen. Im Jahre 1059 wurde er zu Tos in Chorasan geboren, war also ein Landsmann des großen Dichters Firdausi. Wie dieser von der alten Herrlichkeit der persischen Nation zeugt, so sollte Gazali "Zeugnis und Zierde" des ganzen zukünftigen Islam sein. Schon seine Erziehung, nach dem Tode des Vaters im Hause eines sufischen Freundes, war mehr universal als national gerichtet. Dem unruhigen, phantastischen Geiste des Jünglings sagte auch keine Beschränkung zu. In der spitzfindigen Kasuistik der Pflichtenlehre mit ihren präzisen Formeln fand er sich nicht zurecht. Er sah sie an als ein weltliches Wissen, von dem er sich abwendete, um sich in die Erkenntnis Allahs geistig zu vertiefen. Dann studierte er in Nischabur Theologie bei einem sufischen Lehrer, dem Imam al-Haramain (gest. 1085), während dessen er wohl selbst anfing zu schriftstellern und zu lehren, vielleicht auch schon an seiner Wissenschaft zu zweifeln. Er begab sich darauf zu Nizam al-Mulk, dem Wezir des Seldschukenfürsten, bis er (1091) eine Professur in Bagdad erhielt. In diese Zeit fällt jedenfalls die nähere Beschäftigung mit der Philosophie. Es war aber nicht reine Liebe zur Wissenschaft, die ihn dazu trieb, sondern die Sehnsucht des Herzens, Lösung für die Zweifel des Verstandes zu finden. Keine Aufklärung über das Weltgeschehen, auch keine Klärung des eigenen Denkens, sondern Herzensruhe und die Erfahrung einer höheren Wirklichkeit suchte er zu erreichen. Eingehend befasste er sich mit den Schriften der Philosophen, besonders denen des Farabi und Ibn Sina, und hauptsächlich dem System des letzteren folgend, schrieb er ein philosophisches Kompendium, objektiv gehalten, scheinbar mit einiger Teilnahme am Inhalt. Er that es, wie er anfangs wohl leise zur Selbstberuhigung, später aber laut zu seiner Entschuldigung sagte, nur um der Darstellung der philosophischen Lehren die Widerlegung folgen zu lassen. Auch diese erschien, wahrscheinlich nicht lange Zeit darauf. Es war die berühmte "Ruin der Philosophen", die vermutlich noch in Bagdad oder kurz nach seiner Abreise verfasst wurde. Schon nach vier Jahren nämlich (1095) hatte Gazali seine von äußerem Erfolg begleitete Lehrthätigkeit in Bagdad eingestellt. Sein immer zweifelnder Geist fand im dogmatischen Vortrag wohl keine Befriedigung. Seine glänzende Stellung zog ihn bald an, bald stieß sie ihn ab. Er glaubte wohl, auf andere Weise besser die Welt und ihre Weisheit bekämpfen zu können, zu sollen. Sein Ehrgeiz war größer als diese Welt. Doch tiefer. Während einer Krankheit stand ihm der innere Beruf vor der Seele. Im stillen, durch sufische Übungen, sollte er sich darauf vorbereiten, vielleicht einmal als religiös-politischer Reformator auftreten. Zu derselben Zeit, als die Ritter vom Kreuze im Abendlande sich gegen den Islam rüsteten, da bereitete sich Gazali zum geistigen Vorkämpfer des muslimischen Glaubens. Nicht gewaltig war seine Bekehrung, wie die des heiligen Augustin, sondern dem Erlebnis zu vergleichen des heiligen Hieronymus, der im Traume von seinen ciceronianischen Liebhabereien zum praktischen Christentum berufen ward. Zehn Jahre ist nun Gazali auf der Wanderschaft, seine Zeit in fromme Übungen und litterarische Thätigkeit teilend. In der ersten Zeit vermutlich hat er sein theologisch-ethisches Hauptwerk "Die Belebung der Religionswissenschaften" geschrieben. Gegen Ende hat er reformatorisch zu wirken versucht. Seine Reise führte ihn über Damaskus und Jerusalem (noch vor der Einnahme durch die Kreuzfahrer), Alexandria, Mekka und Medina nach Hause zurück. Nach seiner Rückkehr hat Gazali noch auf kurze Zeit in Nischabur als Lehrer gewirkt und ist in seiner Vaterstadt Tos am 19. Dez. des Jahres 1111 gestorben. Die letzten Jahre gehören hauptsächlich frommer Betrachtung und dem Studium der Traditionen, die einmal dem Jüngling nicht ins Gedächtnis hinein wollten. Ein schön vollendetes Leben, in dem das Ende zum Anfang zurückkehrt. 3. Gazali überschaut die geistigen Strömungen seiner Zeit. Da gibt es nun die Dialektik der Theologen, eine sufische Mystik, pythagoreische Popularphilosophie und neuplatonischen Aristotelismus. Was die Dialektik ergründen will, ist auch Gegenstand seines Glaubens, nur dünken ihm ihre Argumente etwas schwach und deshalb viele von ihren Behauptungen bedenklich. Der sufischen Mystik fühlt er sich am nächsten verwandt, ihr verdankt er das beste: die Begründung seines Glaubens in der Persönlichkeit, sodass er als innere Erfahrung postulieren kann, was die Dialektiker verstandesmäßig abzuleiten versuchen. Auch der Popularphilosophie dankt er Belehrung, über Mathematik nämlich, die er durchaus als Wissenschaft anerkennt, und ihre astronomischen Folgerungen. Ihre Physik lässt er, wo sie nicht gegen den Glauben verstößt, gelten. Aber der Aristotelismus, wie er von Farabi und Ibn Sina, nicht weniger autoritätsgläubig als die Theologen, gelehrt worden, erscheint ihm als der Feind des Islam, den er im Namen sämtlicher muslimischen Schulen und Richtungen, also von katholischem Standpunkte, bekämpfen soll. Und zwar mit des Aristoteles eigenen Waffen, denen der Logik. Denn ebenso fest wie die Sätze der Mathematik, stehen ihm die Grundsätze des Denkens, welche die Logik lehrt. Vollbewusst geht er vom Satze des Widerspruchs aus, dem sich Gott selbst, nach seiner Behauptung, unterwirft. Von den physisch-metaphysischen Lehren der Philosophie greift er nun hauptsächlich drei an: 1. dass die Welt ewig sei; 2. dass Gott nur Allgemeines erkenne und es folglich keine besondere Vorsehung gebe; 3. dass nur die Seele unsterblich sei und also eine Auferstehung des Fleisches nicht zu erwarten. Bei der Widerlegung dieser Lehren ist Gazali vielfach abhängig von dem christlichen Kommentator des Aristoteles, Johannes Philoponus, der auch gegen des Proklos Lehre von der Ewigkeit der Welt geschrieben hat. 4. Die Welt ist nach den Philosophen eine Kugel von endlicher Ausdehnung, aber unendlicher Dauer. Von Ewigkeit geht sie aus Gott hervor, wie die Wirkung mit der Ursache zugleich ist. Dagegen meint Gazali, dass man Raum und Zeit nicht in der Weise verschieden auffassen dürfe, und dass die göttliche Ursächlichkeit als freischöpferische Macht zu bestimmen sei. Zunächst Raum und Zeit. Ebensowenig wie Anfang und Ende der Zeit können wir uns eine äußerste Grenze des Raumes vorstellen. Wer an eine endlose Zeit glaubt, muss, seiner Vorstellung folgend, also auch die Existenz eines unendlichen Raumes annehmen. Dass der Raum dem äußeren, die Zeit dagegen dem inneren Sinne entspreche, ändert daran nichts, denn aus dem Sinnlichen kommen wir doch nicht heraus. Wie der Raum zum Körper, so verhält sich die Zeit zur Bewegung des Körpers. Beide sind nur Verhältnisse der Dinge, in und mit den Dingen der Welt erschaffen, oder vielmehr nur Beziehungen unserer Vorstellungen, die Gott in uns schafft. Wichtiger noch ist es, was Gazali über die Ursächlichkeit beibringt. Die Philosophen unterscheiden ein Wirken Gottes, der wollenden Geistwesen, der Seele, der Natur, des Zufalles oder dergleichen. Für Gazali aber gibt es, wie für den orthodoxen Kalam, überhaupt nur eine Kausalität, die des wollenden Wesens. Die Naturkausalität beseitigt er ganz, sie löst sich ohne Rest in ein Zeitverhältnis auf. Auf eine bestimmte Erscheinung (Ursache) sehen wir regelmäßig eine bestimmte andere (Wirkung) folgen; wie sie aber daraus erfolgt, bleibt uns ein Rätsel. Von dem Wirken der Naturdinge wissen wir nichts. Auch ist jede Veränderung an sich unbegreiflich. Wie etwas ein anderes wird, ist dem Denken unfasslich, dieses kann ebensogut nach Thatsachen wie nach Ursachen fragen. Etwas ist oder ist nicht, aber ein Seiendes in ein Anderes zu verwandeln, dazu ist nicht einmal die göttliche Allmacht im Stande. Sie schafft oder vernichtet. Dennoch ist es eine Thatsache unseres Bewusstseins, dass wir etwas wirken. Wenn wir etwas wollen und die Kraft zur Ausführung besitzen, nehmen wir den Erfolg als unsere That in Anspruch. Aus freiem Willen, mit bewusster Kraft handeln, das ist die einzige Kausalität, davon wir wissen, und hieraus schließen wir auf das göttliche Wesen. Mit welchem Rechte? In seiner persönlichen Erfahrung des Gottesbildes in seiner Seele glaubt Gazali die Berechtigung zu solchem Schlusse zu finden. Aber die Gottähnlichkeit seiner Seele will er nicht auf die Natur übertragen. Gott ist ihm demnach, sofern er aus der Welt zu erkennen, das allmächtige, freiwollende und wirkende Wesen. Seiner Wirksamkeit darf man keine räumliche Schranke setzen, wie die Philosophen thun, wenn sie ihn nur auf sein erstes Geschöpf wirken lassen. Andererseits aber kann er sein Werk räumlich und zeitlich beschränken, sodass diese endliche Welt auch nur eine endliche Dauer besitzt. Dass Gott die Welt aus dem Nichts hervorrufe durch eine absolute Schöpfungsthat, scheint den Philosophen absurd. Sie erkennen nur einen Wechsel der Accidenzen oder Formen an der Einen Materie, ein Wandern des Wirklichen von Möglichkeit zu Möglichkeit. Aber entsteht denn nie etwas Neues? Ist nicht jede sinnliche Wahrnehmung, so fragt Gazali, und jede geistige Perzeption etwas ganz Neues, das entweder ist oder nicht ist, bei dessen Entstehen aber nicht das Gegenteil aufhört, bei dessen Verschwinden nicht das Entgegengesetzte eintritt? Sind auch nicht die vielen individuellen Seelen, die es nach Ibn Sinas System geben soll, absolut neu entstanden? Mit Fragen wird man nicht fertig. Die Vorstellung schweift überall in die Weite, das Denken führt uns ins Unendliche. Wie Raum und Zeit, lässt sich auch die Reihe der Ursachen nirgendwo abschliessen. Damit es aber ein bestimmtes, abgeschlossenes Sein gebe, -- diese Forderung stellt Gazali mit den Philosophen -- brauchen wir einen ewigen Willen als erste von allem Anderen verschiedene Ursache. Dies dürfen wir jedenfalls dem Gazali zugestehen: die phantastische Formen- und Seelenlehre des Ibn Sina hält seiner Kritik nicht Stand. 5. Wir haben uns schon dem Gottesbegriffe genähert. Den Philosophen ist Gott das höchste Sein, dessen Wesen das Denken. Was er erkennt, wird, geht aus seinem Überflusse hervor, positiv gewollt aber hat er es nicht. Denn alles Wollen setzt einen Mangel, ein Bedürfnis, voraus und bedingt eine Veränderung in dem wollenden Wesen. Wollen ist Bewegung in der Materie, vollwirklicher Geist will nichts. Gott schaut also in wunschloser Betrachtung seiner Schöpfung zu. Er erkennt sich selbst oder auch sein erstes Geschöpf oder, nach Ibn Sina, das Allgemeine, die ewigen Gattungen und Arten aller Dinge. Nach Gazali aber soll Gott ewig ein Wille zukommen als eins seiner ewigen Attribute. Herkömmlicherweise lässt er zwar in metaphysischen und ethischen Betrachtungen das Erkennen dem Wollen vorangehen. Aber seiner Überzeugung nach ist im Wissen die Einheit des Wesens nicht mehr als im Wollen. Nicht nur die Vielheit der Gegenstände des Wissens und ihre verschiedene Beziehung auf das wissende Subjekt, sondern auch das Selbstbewusstsein, das Wissen um das Wissen, geht an sich betrachtet ins Unendliche. Es muss da ein Willensakt den Abschluss bewirken. In der Richtung der Aufmerksamkeit und in der Selbstbesinnung wirkt ein ursprüngliches Wollen. Und so kommt auch das göttliche Wissen nur zu einem einheitlichen Abschluss, in seiner Persönlichkeit, durch einen ursprünglichen, ewigen Willen. Statt der Behauptung der Philosophen, Gott wolle die Welt, weil er sie als das Beste denke, setzt Gazali: Gott erkennt die Welt, weil und indem er sie will. Sollte denn Er, der alles will und schafft, sein Werk nicht erkennen bis zum kleinsten Stoffteile? Wie sein ewiger Wille aller Einzeldinge Ursache, so umfasst sein ewiges Wissen alles Besondere zugleich, ohne dass die Einheit seines Wesens dadurch aufgehoben wird. Es gibt folglich eine Vorsehung. Auf die Einwendung, dass die göttliche Vorsehung alles besondere Geschehen notwendig mache, entgegnet Gazali, ähnlich wie der hl. Augustin, das Vorherwissen unterscheide sich nicht vom Wissen im Gedächtnis, d. h. Gottes Wissen sei über jeden Zeitunterschied erhaben. Es lässt sich fragen, ob nicht Gazali, um den ewigen, allmächtigen Schöpferwillen zu retten, sowohl den zeitlichen Charakter der Welt, den er beweisen möchte, als die Freiheit des menschlichen Handelns, von der er dabei ausgeht, und die er auch nicht ganz aufgeben wollte, jener absoluten Macht zum Opfer dargebracht habe. Gott zu liebe verschwindet diese Welt der Schatten und der Abbilder, wie er sie nennt. 6. Die dritte Frage, über die Gazali sich mit den Philosophen auseinandersetzt, hat weniger philosophisches Interesse. Sie betrifft die Auferstehung des Fleisches. Nach den Philosophen ist nur die Seele unsterblich, sei es individuell oder als Teil der Weltseele; dagegen der Körper vergänglich. Gegen diesen Dualismus, der theoretisch zu einer asketischen Ethik führte, praktisch aber sehr leicht in Libertinismus sich umsetzte, empört sich das religiös-sittliche Gefühl Gazalis. Soll das Fleisch Pflichten haben, so muss es wieder in seine Rechte eingesetzt werden. Die Möglichkeit der Auferstehung ist ja nicht zu leugnen, denn die Wiedervereinigung der Seele mit ihrem (neuen) Körper ist nicht wunderbarer als die erste Verbindung derselben mit dem irdischen Leibe, die auch von Philosophen angenommen wird. Kann doch jede Seele zur Zeit der Auferstehung einen neuen, ihr passenden Leib bekommen. Jedenfalls aber ist die Seele das eigentliche Wesen des Menschen; aus welcher Materie ihr himmlischer Körper gebildet wird, ist gleichgiltig. 7. Schon aus diesen letzten Sätzen erhellt, dass Gazalis Theologie von philosophischer Spekulation nicht unberührt geblieben ist. Wie die abendländischen Kirchenväter hat er, bewusst oder unbewusst, viel Philosophisches aufgenommen. Von den Muslimen des Westens wurde deshalb seine Theologie lange Zeit als Neuerung verketzert. Wirklich weist seine Lehre von Gott, von der Welt und der menschlichen Seele viele Elemente auf, die dem ältesten Islam fremd sind, und, teils durch christliche und jüdische, teils durch spätere muslimische Vermittelung, auf heidnische Weisheit zurückgehen. Allah, der Welten Herr, Mohammeds Gott, ist zwar für Gazali eine lebendige Persönlichkeit, aber doch weit weniger anthropomorph als er dem naiven Glauben und im antimutazilitischen Dogma erschien. Der sicherste Weg, ihn zu erkennen, soll es sein, alle Eigenschaften der Geschöpfe ihm abzusprechen. Das heißt aber nicht, dass er keine Eigenschaften besitze. Im Gegenteil. Die Vielheit der Bestimmungen schadet nicht der Einheit des Wesens. Schon das Körperliche bietet dafür Analogien. Ein Ding kann zwar nicht zugleich schwarz und weiß, wohl aber kalt und trocken sein. Nur soll man, wenn man Gott menschliche Attribute beilegt, diese in anderem, höherem Sinne verstehen. Denn er ist reiner Geist. Außer Allwissenheit und Allmacht kommen ihm aber auch reine Güte und Allgegenwart zu. Durch diese Allgegenwart werden Diesseits und Jenseits einander etwas näher gerückt als in der gewöhnlichen Vorstellung. Gott ist vergeistigt. Nun werden aber auch Auferstehung und zukünftiges Leben viel geistiger gefasst als dieses Leben. Die philosophisch-gnostische Lehre von drei oder vier Welten ermöglicht solche Auffassung. Stufenmäßig erheben sich über einander die irdische sinnliche Menschenwelt, die Welt himmlischer Geister, zu der unsere Seele gehört, die Welt überhimmlischer Engel, endlich Gott selbst als die Welt reinsten Lichtes, vollkommensten Geistes. Aus der niederen Welt steigt die fromme erleuchtete Seele durch die Himmel hinauf bis vor Gottes Angesicht. Denn sie ist geistiger Natur und ihr Auferstehungskörper himmlischen Wesens. Entsprechend den verschiedenen Welten und den Seelenstufen unterscheiden sich auch die Menschen von einander. Der sinnliche Mensch muss sich begnügen mit Koran und Tradition, über den Buchstaben darf er nicht hinausgehen. Die Pflichtenlehre ist sein Lebensbrot, Philosophie wäre für ihn tödliches Gift. Derjenige, der nicht schwimmen kann, darf sich nicht ins Meer wagen. Dennoch gibt es immer Leute, die, um schwimmen zu lernen, ins Wasser gehen. Sie wollen ihren Glauben zum Wissen erheben und fallen dabei leicht in Zweifel und Unglauben. Für sie, meint Gazali, können Dogmatik und Polemik gegen die Philosophie ein nützliches Heilmittel sein. Auf der höchsten Stufe menschlicher Vollkommenheit stehen aber diejenigen, welche ohne schweres Nachdenken durch innere göttliche Erleuchtung die Wahrheit und Wirklichkeit der geistigen Welt in sich erfahren. Es sind dies die Propheten und frommen Mystiker, zu denen Gazali sich zählen darf. In allem sehen sie Gott, ihn, ja ihn allein, in der Natur wie im Leben ihrer Seele. Vorzüglich aber in der Seele, die zwar nicht gottgleich, aber doch gottähnlich ist. Wie alles Äußere jetzt sich ändert! Was scheinbar außer uns besteht, wird zu einem Zustande oder einer Eigenschaft der Seele, die im Bewusstsein ihrer Vereinigung mit Gott zur höchsten Seligkeit fortschreitet. Alles einigt sich da in Liebe. Der wahre Gottesdienst geht über Furcht vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung hinaus zur Liebe Gottes im Geiste. Über Dulden und Danken -- die Pflicht der noch nicht vollendeten frommen Wanderer auf Erden -- erhebt sich der vollkommene Gottesdiener, schon in dieser Welt Gott freudig zu lieben und zu loben. 8. Es ergeben sich uns aus dem Vorigen drei Stufen des Glaubens oder der Gewissheit. Erstens der Autoritätsglaube der Menge: sie glaubt, was ihr ein glaubwürdiger Mann erzählt, z. B. dass N. N. da im Hause sei. Zweitens das abgeleitete Wissen der Gelehrten: sie haben den N. N. reden hören und schließen, dass er sich im Hause befinde. Drittens aber die unmittelbare Gewissheit der Erkennenden: diese sind ins Haus gegangen und haben mit eigenen Augen den N. N. gesehen. Auf Erfahrung legt Gazali überall Gewicht, den Dialektikern und Philosophen gegenüber. Mit ihren allgemeinen Begriffen werden sie zunächst der Mannigfaltigkeit dieser sinnlichen Welt nicht gerecht. Die sinnlichen Qualitäten der Dinge, auch die Zahl der Gestirne z. B. erkennen wir nur durch Erfahrung, nicht aus reinen Begriffen. Viel weniger aber noch erschöpfen diese die Höhen und Tiefen unseres Inneren. Dem diskursiven Verstande der Gelehrten bleibt ewig verborgen, was der Gottesfreund intuitiv erkennt. Sehr wenige ersteigen diese Höhe der Erkenntnis, wo sie mit den Gottesgesandten und Propheten aller Zeiten zusammentreffen. Ihnen zu folgen ist daher die Pflicht der niedriger stehenden Geister. Wie erkennt man nun aber den überlegenen Geist, dessen man zum Führer bedarf? Das ist eine Frage, an der jedes religiös-bestimmte System, das menschlicher Vermittler nicht entbehren kann, rein verstandesmäßig betrachtet, scheitern muss. Auch Gazalis Antwort ist schwankend. Soviel ist ihm gewiss, dass Verstandesgründe allein hier nicht den Ausschlag geben können. Den wirklich von Gott erleuchteten Propheten und Lehrer erkennt man durch Versenkung in seine einzigartige Persönlichkeit, durch die Erfahrung innerer Verwandtschaft. Die Wahrheit der Prophetie bewährt sich in ihrem sittlichen Einfluss auf die Seele. Von der Wahrhaftigkeit des Gotteswortes im Koran bekommen wir eine moralische, keine theoretische Gewissheit. Das einzelne Wunder ist nicht im Stande zu überzeugen, sondern die Offenbarung als Ganzes sowie die Persönlichkeit des Propheten, durch den die Offenbarung vermittelt, machen auf die verwandte Seele einen unwiderstehlichen Eindruck. Von diesem Eindrucke ganz hingerissen, entsagt sie der Welt, um die Pfade Gottes zu wandern. 9. Gazali ist ohne Zweifel die merkwürdigste Gestalt des Islam. Seine Lehre ist ein Ausdruck seiner Persönlichkeit. Auf das Verständnis dieser Welt hat er verzichtet. Aber das religiöse Problem hat er viel tiefer erfasst als die Philosophen seiner Zeit. Diese waren, wie ihre griechischen Vorgänger, intellektualistisch, sahen folglich die Lehren der Religion an nur als Produkte der Vorstellung, der Phantasie oder auch der Willkür des Gesetzgebers. Ihnen zufolge war Religion entweder blinder Gehorsam oder eine Art Erkenntnis, eine Wahrheit niederer Ordnung enthaltend. Dagegen stellt Gazali Religion als Erfahrung seines Inneren hin. Mehr als Gesetz und mehr als Lehre ist sie ihm, sie ist Seelenerlebnis. Nicht jeder erlebt das so wie Gazali. Wer ihm aber bei seinem mystischen Fluge, über die Bedingungen möglicher Erfahrung hinaus, nicht folgen kann, wird doch eingestehen müssen, dass seine Irrfahrten auf der Suche nach dem Höchsten für die Geschichte des menschlichen Geistes nicht weniger wichtig sind als die scheinbar sicheren Gänge der Philosophen seiner Zeit durch ein Land, das andere vor ihnen entdeckt haben. 2. Die Kompendienschreiber. 1. In einer Geschichte des gelehrten Unterrichtes bei den muslimischen Völkern müsste dieser Gegenstand einen größeren Raum einnehmen; wir werden ihn hier mit wenigen Worten abthun. Dass Gazali die Philosophie für alle Folgezeit vernichtet habe, ist eine oft wiederholte, aber ganz irrige Behauptung, die weder von geschichtlichem Wissen noch von Verständnis zeugt. Die Philosophie hat im Osten nach ihm ihre Lehrer und Schüler zu Hunderten und Tausenden gezählt. Ebensowenig wie die Pflichtenlehrer ihre spitzfindige Kasuistik, haben die Glaubenslehrer ihre dialektischen Argumente zur Stütze des Dogmas aufgegeben. Und die allgemeine Bildung hat einen Bestandteil philosophischer Gelehrsamkeit in sich aufgenommen. Freilich, eine hervorragende Stellung hat die Philosophie sich nicht zu erobern, ihr früheres Ansehen nicht zu erhalten gewusst. Nach einer arabischen Anekdote soll ein Philosoph, der in Gefangenschaft geraten war und von einem Manne, der ihn als Sklaven kaufen wollte, befragt wurde, wozu er tauge, die Antwort gegeben haben: Zur Freiheit. Philosophie braucht Freiheit. Und wo gab es diese im Orient? Freiheit von materiellen Sorgen, Freiheit zur Bethätigung uninteressierten Denkens schwanden immer mehr dahin, wo keine aufgeklärten Despoten im Stande waren, sie zu gewähren und zu schützen. Als glaubens- und staatsgefährlich wurden die Philosophen an manchen Orten verfolgt. Es ist das nur ein Zeichen des allgemeinen Kulturverfalles. Wenn auch abendländische Reisende des zwölften Jahrhunderts die Kultur des Ostens höchlich preisen, so war sie doch, mit früheren Zeiten verglichen, im Niedergang begriffen. Auf keinem Gebiete ging man über das alte hinaus, dazu waren die Geister zu schwach. Die litterarische Produktion stockte und den Vielschreibern der folgenden Jahrhunderte gebührt nur das Verdienst der schönen Auswahl. Die Pflichten- und die Glaubenslehre mit der Mystik hatten ihren Abschluss gefunden. Ebenso die Philosophie. Nach Ibn Sina, ihrem Fürsten, mit selbständigen Ansichten hervorzutreten, fühlte keiner sich berufen. Es war die Zeit gekommen der Kompendien, der Kommentare, der Glossen und Superglossen. Damit vertrieb die gelehrte Welt sich in der Schule die Zeit, während die gläubige Menge sich immer mehr der Führung der Derwischorden unterstellte. 2. Die allgemeine Bildung entnahm am meisten der philosophischen Propädeutik, etwas Mathematik u. s. w., in der Regel natürlich höchst elementar. Von Sektierern und Mystikern wurde vieles der pythagoreisch-platonischen Weisheit entlehnt. Besonders den Heiligen- und Wunderglauben zu stützen, mussten jene Lehren herhalten. Eine wüste, synkretistische Theosophie schmückte sich damit. Sie nahm auch den Aristoteles, natürlich den unechten, unter ihre Lehrer auf, machte ihn aber zum Schüler des Agathodaemon und Hermes. Die nüchternen Geister dagegen hielten sich an dem Aristotelismus, soweit er sich mit ihren eigenen Ansichten oder dem orthodoxen Glauben vertrug. Fast allgemein folgte man dem System des Ibn Sina, nur wenige gingen auf Farabi zurück oder suchten beide zu vereinigen. Von den physischen und metaphysischen Lehren nahm man weniger Notiz; Ethik und Politik wurden schon mehr gepflegt; allgemein studiert aber nur die Logik. Diese ließ sich trefflich in schulmäßige Form bringen, als reine Formallogik war sie ein Werkzeug, dessen sich jeder bedienen konnte. Mit den Mitteln der Logik ließ sich ja alles beweisen. Und wenn einmal ein Beweis als fehlerhaft erkannt wurde, so tröstete man sich damit, dass die Behauptung doch richtig sein könnte, wenn auch der Beweis dafür nicht richtig geführt worden war. Schon in der Encyklopädie des Abu Abdallah al-Chwarizmi aus dem letzten Viertel des zehnten Jahrhunderts war der Logik ein größerer Raum zugemessen als der Physik und Metaphysik. Ebenso machten es viele spätere Encyklopädien und Sammelwerke. Auch die Dogmatiker fingen ihr System an mit logischen und erkenntnistheoretischen Betrachtungen, in denen dem "Wissen" ein traditionelles Lob gespendet wurde. Und seit dem zwölften Jahrhundert entstand eine ganze Menge Einzelbearbeitungen des aristotelischen Organons. Als vielgebraucht, kommentiert u. s. w. seien hier nur genannt die Werke des Abhari (gest. 1264), der unter dem Titel Isagudschi (eisagôgê) eine kurze Übersicht der ganzen Logik gab, und des Qazwini (gest. 1276). An der größten Universität der muslimischen Welt, in Kairo, werden heutzutage noch die Kompendien des 13. und 14. Jahrhunderts gebraucht. Dort heißt es noch, wie lange Zeit bei uns: Zuerst Collegium logicum! Selbstverständlich mit keinem besseren Erfolge. Man lässt sich, innerhalb der Schranken des Gesetzes, die von den alten Philosophen aufgefundenen Regeln des Denkens gefallen, lächelt aber dabei über jene Männer und über die mutazilitischen Dialektiker, die "an die Vernunft geglaubt". VI. DIE PHILOSOPHIE IM WESTEN. 1. Die Anfänge. 1. Zum muslimischen Occidente rechnet man das westliche Nordafrika, Spanien und Sizilien. Nordafrika hat zunächst untergeordnete Bedeutung. Sizilien richtet sich nach Spanien und wird bald von den Nordmannen Unteritaliens unterworfen. Für unseren Zweck kommt zunächst das muslimische Spanien oder Andalusien in Betracht. Das Kulturschauspiel des Orients erlebt hier eine zweite Aufführung. Wie dort Araber mit Persern, so vermählen sich hier Araber mit Spaniern. Und statt der Türken und Mongolen gibt es hier die Berbern Nordafrikas, deren rohe Kraft immer mehr zerstörend in das Spiel feinerer Bildung eingreift. Nach dem Sturze der Omajjaden in Syrien (750) hat sich einer aus ihrem Hause, Abderrachman ibn Moawia, nach Spanien begeben, wo er sich zum Emir von Kordova und ganz Andalusien emporzuarbeiten wusste. Über 250 Jahre dauerte diese Omajjadenherrschaft und erreichte, nach vorübergehender Kleinstaaterei, unter Abderrachman III. (912-961), dem ersten, der sich Chalif nennen ließ, und dessen Sohn al-Hakam II. (961-976) ihren Glanzpunkt. Das zehnte Jahrhundert war für Spanien, was das neunte für den Orient: die Zeit höchster materieller und geistiger Kultur. Wenn möglich war sie hier frischer, naturwüchsiger als dort. Produktiver, wenn es wahr ist, dass alles Theoretisieren entweder einen Mangel oder eine Stockung der Produktionskraft bedeutet. Die Wissenschaften, und besonders die Philosophie, fanden hier nämlich weit weniger Vertreter. Überhaupt waren die Verhältnisse geistigen Lebens einfacher gestaltet. Die Zahl alter Kulturschichten war geringer. Wohl hatte man hier außer Muslimen Juden und Christen, die sich zu Abderrachmans III. Zeit gemeinschaftlich am Kulturleben arabischen Stempels beteiligten. Aber Anhänger des Zoroaster, Atheisten u. s. w. gab es nicht. Auch waren die Parteiungen des östlichen Islam fast unbekannt. Nur eine Rechtschule, die des Malik, fand Eingang. Mutazilitische Dialektik störte nicht den Frieden des Glaubens. Zwar verherrlichten die andalusischen Dichter die Dreiheit: Wein, Weib und Gesang, aber frivole Freigeisterei einerseits, düstere Weltflucht und Theosophie andererseits kamen nur selten zum Ausdruck. Im ganzen war die geistige Kultur vom Orient abhängig. Seit dem zehnten Jahrhundert wurden aus Spanien viele wissenschaftliche Reisen dorthin, über Ägypten bis zum östlichen Persien, unternommen, um den Vorlesungen berühmter Gelehrten beizuwohnen. Und das Bedürfnis nach Bildung in Andalusien lockte auch manch orientalischen Gelehrten, der in seiner Heimat keine Beschäftigung fand, herbei. Dazu ließ al-Hakam II. überall im Osten Bücher abschreiben für seine Bibliothek, deren Bändezahl auf 400000 angegeben wird. Hauptsächlich interessierte der Westen sich für Mathematik und Naturwissenschaft, Astrologie und Medizin, ebenso wie anfangs der Osten. Poesie, Geschichte und Geographie wurden eifrig gepflegt. Der Geist war noch von des Gedankens Blässe nicht angekränkelt. Als Abdallah ibn Masarra von Kordova, unter Abderrachman III., mit Naturphilosophie nach Hause kam, musste er seine Schriften verbrennen sehen. 2. Im Jahre 1013 wurde Kordova, "die Zierde der Welt", von den Berbern verwüstet und das Omajjadenreich zerfiel in eine Anzahl kleiner Staaten. Ihre Nachblüte füllt das elfte Jahrhundert, die mediceische Zeit Spaniens, aus. An den städtischen Höfen gedeihen noch Kunst und Poesie, üppig wuchernd auf den Trümmern alter Herrlichkeit. Die Kunst verfeinert sich, die Poesie wird weise, subtil der wissenschaftliche Gedanke. Aus dem Orient zieht man immerfort geistige Nahrung. Naturphilosophie, die Schriften der treuen Brüder, die Logik aus der Schule des Abu Sulaiman al-Sidschistani halten nach einander ihren Einzug. Gegen Ende des Jahrhunderts spürt man auch den Einfluss der Schriften Farabis und wird Ibn Sinas Medizin bekannt. Die Anfänge philosophischen Nachdenkens finden wir zumeist bei den zahlreichen gebildeten Juden. Mächtig und ganz eigenartig wirkt die Naturphilosophie des Ostens auf Ibn Gebirol, den Avencebrol christlicher Schriftsteller. Bachja ibn Pakuda wird von den treuen Brüdern beeinflusst. Sogar die religiöse Poesie der Juden wird von der philosophischen Bewegung ergriffen. Es spricht darin die Seele, die sich zum Geiste erhebt, nicht die jüdische Gemeinde, die ihren Gott sucht. Unter den Muslimen blieb die Zahl derjenigen, die sich eingehend mit Philosophie beschäftigten, sehr beschränkt. Kein Meister sammelte eine zahlreiche Jüngerschaar um sich, gelehrte Sitzungen, in denen über philosophische Gegenstände disputiert wurde, fanden kaum statt. So musste sich hier der einzelne Denker wohl ganz vereinsamt fühlen. Subjektiv wie im Orient, bildete sich auch im Westen die Philosophie aus. Aber sie war hier mehr nur die Sache vereinzelter Individuen und stand dazu dem Glauben der Menge ferner. Im Orient gab es zahllose Vermittelungen zwischen Glauben und Wissen, zwischen den Philosophen und der gläubigen Gemeinde. Das Problem des denkenden Individuums gegenüber der staatlichen Gesellschaft und dem Glauben beschränkter fanatischer Massen wurde daher im Westen schärfer gefasst. 2. Ibn Baddscha. 1. Gegen Ende des elften Jahrhunderts, als Abu Bekr Mohammed ibn Jachja ibn al-Saig ibn Baddscha in Saragossa geboren wurde, war das schöne Andalusien nahe daran, in seiner Kleinstaaterei unterzugehen. Von Norden her wurde es von den weniger gebildeten, aber kräftigen und tapferen Christenrittern bedroht. Da griff aber rettend die berberische Dynastie der Almoraviden ein, die nicht nur fester im Glauben, sondern auch klüger in der Politik war als die üppigen Herrschergeschlechter Spaniens. Jetzt schien die Zeit feiner Bildung und freien Forschens für immer dahin. Nur Traditionarier der strengsten Observanz durften öffentlich auftreten. Und die Philosophen, wenn sie sich nicht verborgen hielten, wurden verfolgt oder getötet. 2. Aber barbarische Herren haben ihre Grillen, indem sie die Bildung der von ihnen Unterworfenen, wenigstens äußerlich, sich anzueignen lieben. Also nahm sich Abu Bekr ibn Ibrahim, Schwager des Almoravidenfürsten Ali, der einige Zeit Gouverneur Saragossas war, zum großen Ärgernis seiner Faqihs und Soldaten, den Ibn Baddscha zum Vertrauten und ersten Minister. Dieser Mann nun war in den mathematischen Wissenschaften, besonders in der Astronomie und Musik, dazu in der Medizin, theoretisch und praktisch bewandert und gab sich mit logischen, naturphilosophischen und metaphysischen Spekulationen ab. Er war nach der Ansicht der Fanatiker ein ganz verrückter Atheist und unsittlicher Mensch. Von dem äußeren Leben Ibn Baddschas wissen wir ferner nur, dass er im Jahre 1118 nach dem Falle Saragossas zu Sevilla war, wo er mehrere seiner Schriften verfasste, darauf in Granada, und dass er sich nach Fez an den Almoravidenhof begab, wo er im Jahre 1138 starb. Der Überlieferung nach fand er, auf Veranlassung eines neidischen Arztes, den Gifttod. Glücklich war, nach seinem Selbstbekenntnis, sein kurzes Leben nicht gewesen. Oft hatte er sich, als letzte Zuflucht, den Tod herbeigesehnt. Materielle Not, vor allem geistige Vereinsamung mögen ihn gedrückt haben. Dass er zu seiner Zeit, in seiner Umgebung, sich nicht heimisch fühlen konnte, zeigen zur Genüge die erhaltenen Schriften. 3. Er schließt sich fast ganz an Farabi, den einsamen, stillen Mann des Orients an. Wie dieser hat er wenig systematisiert. Die Zahl seiner selbständigen Abhandlungen ist nicht groß. Aus kurzen Erläuterungen zu den aristotelischen und anderen philosophischen Schriften besteht das meiste. Seine Bemerkungen sind abgerissen, bald fängt er hier, bald dort von neuem an. Mit immer neuen Ansätzen sucht er sich dem griechischen Gedanken zu nähern, von den verschiedensten Seiten in die alte Wissenschaft einzudringen. Die Philosophie wird er nicht los, und er wird nicht fertig mit ihr. Auf den ersten Blick macht das einen verwirrenden Eindruck. Im dunklen Drange aber ist der Philosoph sich seiner Wege bewusst. Auf der Suche nach Wahrheit und Recht findet er ein anderes, Einheit und Freude seines Lebens. Gazali hat es sich, seiner Meinung nach, gar zu leicht gemacht, als er glaubte, nur im Vollbesitz der durch göttliche Erleuchtung erfassten Wahrheit glücklich sein zu können. Der Wahrheit zu liebe, die sich in den sinnlichen Bildern religiöser Mystik mehr verhüllt als aufdeckt, soll der Philosoph stark genug sein, jenem Glücke zu entsagen. Nur vom reinen Denken, das keine Sinnenlust trübt, wird die höchste Gottheit geschaut. 4. In seinen logischen Schriften hat Ibn Baddscha sich kaum von Farabi entfernt. Auch seine physischen und metaphysischen Lehren stimmen im allgemeinen zu den Ansichten des Meisters. Nur die Art und Weise, in der er die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes und die Stellung des Menschen in Wissenschaft und Leben darlegt, darf einiges Interesse beanspruchen. Zwei Arten des Seienden gibt es ihm zufolge: ein bewegtes und ein unbewegtes. Das Bewegte ist körperlich, begrenzt, aber seine ewige Bewegung lässt sich aus dem endlichen Körper nicht erklären. Es bedarf, im Gegenteil, zur Erklärung dieser unendlichen Bewegung einer unendlichen Kraft oder eines ewigen Wesens, des Geistes. Indem nun das Körperliche oder Natürliche von außen bewegt wird und der Geist, selbst unbewegt, dem Körperlichen Bewegung verleiht, steht das Seelische als das sich selbst Bewegende in der Mitte. Das Verhältnis nun zwischen dem Natürlichen und dem Seelischen macht dem Ibn Baddscha ebensowenig Mühe wie seinen Vorgängern. Das Hauptproblem aber ist dieses: Wie verhalten sich Seele und Geist zu einander, namentlich im Menschen? 5. Ibn Baddscha geht von der Voraussetzung aus, dass der Stoff nicht ohne irgend eine Form sein kann, wohl aber die Form rein für sich ohne Stoff. Sonst nämlich ließe sich überhaupt keine Veränderung denken, denn dieselbe ist nur möglich durch das Kommen und Gehen der substantiellen Formen. Diese Formen nun, vom Hylischen bis zum rein Geistigen, bilden eine Reihe, der die Entwicklung des menschlichen Geistes entspricht, sofern nämlich er das Vernunftideal verwirklicht. [16] Des Menschen Aufgabe ist es, sämtliche geistigen Formen zu erfassen, zunächst die intelligibelen Formen alles Körperlichen, dann die sinnlich-geistigen Vorstellungen der Seele, darauf den Menschengeist selbst und den thätigen Geist über ihn, endlich die reinen Geister der Himmelsphären. Durch successive Erhebung aus dem Individuellen, Sinnlichen, dessen Vorstellung den Stoff des Geistes bildet, gelangt der Mensch zum Übermenschlichen und Göttlichen. Dazu führt ihn nun die Philosophie oder die Erkenntnis des Allgemeinen, die durch Studium und Nachdenken aus der Erkenntnis des Individuellen, aber mit Hilfe des erleuchtenden Geistes von oben hervorgeht. Gegenüber dieser Erkenntnis des Allgemeinen oder Unendlichen, in dem Sein und Gedachtwerden zusammenfallen, erweist sich alles Wahrnehmen und Vorstellen als trüglich. In der Vernunfterkenntnis also und nicht in mystisch-religiösen Träumereien, denen immer Sinnliches anhaftet, erreicht der menschliche Geist seine Vollkommenheit. Denken ist die höchste Seligkeit, denn alles Intelligibele ist seiner selbst Zweck. Da es aber das Allgemeine ist, so lässt sich ein Fortbestehen individueller Menschengeister über dieses Leben hinaus nicht annehmen. Es möge die Seele, die im sinnlich-geistigen Vorstellungsleben das Individuelle erfasst und in einzelnen Begierden und Handlungen sich kund gibt, nach dem Tode weiter bestehen können und Strafe oder Belohnung erhalten, der Geist aber oder der vernünftige Teil der Seele ist in allen eins. Ewig ist nur der Geist der ganzen Menschheit in seiner Vereinigung mit dem thätigen Geiste über ihm. Diese Lehre, unter dem Namen des Averroes in das christliche Mittelalter eingedrungen, findet sich also schon bei Ibn Baddscha, wenn nicht ganz scharf gefasst, doch klarer als bei Farabi. 6. Nicht jeder Mensch erhebt sich zu solcher Höhe der Betrachtung. Die meisten tasten immer im Dunkeln herum, nur Schattenrisse der Dinge sehen sie und wie Schatten werden sie vergehen. Einige sehen das Licht zwar und die farbige Welt der Dinge, aber ganz wenige erkennen das Wesen dessen, was sie gesehen. Nur die letzteren, die Seligen, erreichen das ewige Leben, in dem sie selbst zu Licht werden. Wie gerät nun aber der Einzelne zu dieser Stufe des Erkennens und seligen Seins? Durch vernünftiges Handeln und freie Ausbildung seiner intellektuellen Kräfte. Vernünftiges Handeln ist freies d. h. zweckbewusstes Handeln. Wenn einer z. B. einen Stein zerschlägt, weil er sich daran gestoßen, so handelt er zwecklos wie ein Tier oder ein Kind; thut er es aber, damit sich andere nicht daran stoßen werden, so ist seine That menschlich, vernünftig zu nennen. Um menschlich leben, vernünftig handeln zu können, muss unter Umständen der Einzelne sich aus der Gesellschaft zurückziehen. Ibn Baddschas Ethik heißt "die Leitung des Einsamen". Zur Selbsterziehung fordert sie auf. In der Regel aber kann man sich der Vorteile menschlichen Zusammenlebens bedienen, ohne die Nachteile mit in den Kauf zu nehmen. Zu kleineren oder größeren Verbänden können die Weisen sich zusammenschließen, ja das ist sogar ihre Pflicht, wenn sie sich treffen. Sie bilden dann einen Staat im Staate. Naturgemäß versuchen sie zu leben, sodass unter ihnen weder Arzt noch Richter nötig ist. Wie Pflanzen in freier Luft wachsen sie auf und brauchen die Kunst der Gärtner nicht. Von den niederen Genüssen und Gesinnungen der Menge halten sie sich fern. Sie sind Fremdlinge in dem weltlichen Treiben der Gesellschaft. Und da sie Freunde unter einander sind, wird dieses Leben ganz von der Liebe bestimmt. Und als Freunde Gottes, der die Wahrheit ist, finden sie ihre Ruhe in der Vereinigung mit dem übermenschlichen Geiste der Erkenntnis. 3. Ibn Tofail. 1. Die Herrschaft über den westlichen Islam verblieb den Berbern, aber an die Stelle der Almoraviden traten alsbald die Almohaden. Der Gründer der neuen Dynastie, Mohammed ibn Tumart, war seit 1121 als Mahdi aufgetreten. Unter seinen Nachfolgern Abu Jaaqub Jusuf (1163-1184) und Abu Jusuf Jaaqub (1184-1198) erreichte ihre Herrschaft, deren Sitz Marokko, den Höhepunkt. Eine gewaltige Neuerung in der Theologie führten die Almohaden herbei: das bis jetzt verketzerte System der Aschari und Gazali wurde im Westen aufgenommen. Das bedeutete eine Vergeistigung der Glaubenslehre, die weder Altgläubige noch Freidenker ganz befriedigen konnte, aber doch manchen zu weiterem Philosophieren angeregt haben mag. Bisher hatte man sich gegen alles Räsonnieren in Glaubenssachen ablehnend verhalten, und auch später noch waren viele Politiker und Philosophen der Ansicht, an dem Glauben der Menge solle man nicht rütteln, noch ihn zum Wissen erheben, sondern die Gebiete der Religion und der Philosophie reinlich scheiden. Die Almohaden waren theologisch interessiert, doch zeigten Abu Jaaqub und dessen Nachfolger, soweit die politischen Verhältnisse es erlaubten, ein derartiges Verständnis für weltliches Wissen, dass eine kurze Blüte der Philosophie an ihrem Hofe hervorbrechen konnte. 2. Nachdem er in Granada eine Sekretärstelle bekleidet hatte, finden wir den Abu Bekr Mohammed ibn Abdalmalik ibn Tofail al-Qaisi als Wezir und Leibarzt des Abu Jaaqub. In der kleinen andalusischen Stadt Guadix war er geboren und in der Residenz Marokko starb er im Jahre 1185. Dazwischen liegt sein, wie es scheint, wenig wechselreiches Leben. Er liebte die Bücher mehr als die Menschen und in der großen Bibliothek seines Herrn las er sich vieles zusammen, das er für seine Kunst brauchte oder das seiner Wissbegierde zusagte. Er war der Dilettant unter den Philosophen des Westens, mehr zu beschaulichem Genießen als zu wissenschaftlicher Arbeit aufgelegt. Zum Schreiben kam er selten. Seiner Behauptung, das ptolemäische Weltsystem gründlich verbessern zu können, braucht man wohl nicht unbedingt Glauben zu schenken. Viele Araber haben Ähnliches behauptet, sie thaten es aber nicht. Von Ibn Tofails poetischen Versuchen haben sich ein paar Gedichte erhalten. Sein Hauptbestreben aber war, dem des Ibn Sina ähnlich, griechische Wissenschaft mit orientalischer Weisheit zu einer modernen Weltansicht zu vereinigen. Wie Ibn Baddscha war ihm das ein persönliches Anliegen. Das Verhältnis des einzelnen zu der Gesellschaft und ihren Vorurteilen beschäftigte auch seinen Geist. Aber er ging weiter. Ibn Baddscha ließ als Regel den einzelnen oder einen kleinen Kreis selbständiger Denker einen Staat im Staate bilden, gleichsam wie ein Abbild des großen Ganzen oder als Vorbild für bessere Zeiten. Ibn Tofail dagegen griff auf das Original zurück. 3. In seinem Werke "Hai ibn Jaqzan" stellt er den Fall rein dar. Zwei Inseln bilden die Scenerie: auf die eine versetzt er die menschliche Gesellschaft mit ihrer Konvention, auf die andere ein Individuum, das sich natürlich entwickelt. Die Gesellschaft als Ganzes wird von niederen Trieben, nur äußerlich durch eine grobsinnliche Religion etwas gebändigt, beherrscht. Aber zwei Männer aus dieser Gesellschaft, Salaman und Asal (Absal, vgl. IV, 4 § 7) genannt, erheben sich zu vernünftiger Erkenntnis und Beherrschung ihrer Begierden. Mit Anbequemung an die Volksreligion weiß der erstere, der praktischen Sinnes ist, das Volk zu regieren; der andere aber, von spekulativer Anlage und mystischer Neigung, wandert aus nach der gegenüberliegenden, wie er glaubt, unbewohnten Insel, dort dem Studium und der Askese sich zu ergeben. Auf jener Insel aber war unser Hai ibn Jaqzan, d. h. der Einsame, der Sohn des Wachenden, zu einem vollkommenen Philosophen herangebildet. Als Kind nach der Insel verschlagen oder durch spontane Generation daselbst entstanden, war er von einer Gazelle gesäugt worden, hatte sich dann nach und nach, wie ein Robinson, aber ganz auf eigene Mittel angewiesen, eine materielle Existenz gegründet, ferner durch Beobachtung und Nachdenken sich die Erkenntnis der Natur, der Himmel, Gottes und seines Inneren erworben, bis er nach 7 × 7 Jahren das Höchste erreichte, nämlich das sufische Schauen Gottes, die Ekstase. In diesem Zustande fand ihn Asal. Nachdem sie dazu gelangt waren, sich zu verständigen -- Hai war anfangs noch ohne Sprache -- stellte es sich heraus, dass die Philosophie des Einen und die Religion des Anderen zwei Formen derselben Wahrheit waren, nur in der ersteren etwas weniger verschleiert. Als dann aber Hai erfuhr, dass auf der gegenüberliegenden Insel ein ganzes Volk in dunklem Irrtum verharrte, fasste er den Entschluss, dahin zu gehen, den Leuten die Wahrheit zu enthüllen. Da musste er aber die Erfahrung machen, dass die Menge einer reinen Auffassung der Wahrheit nicht fähig war, und dass Mohammed weise daran gethan, als er dem Volke statt des vollen Lichtes Sinnbilder gegeben hatte. Nach diesem Ergebnis zog er sich deshalb mit seinem Freunde Asal auf die unbewohnte Insel zurück, Gott im Geist und Wahrheit zu dienen bis zum Tode. 4. Ibn Tofail hat den weitaus größten Teil seines Romans dem Entwicklungsgange Hais gewidmet. Es wird nun aber wohl nicht seine Meinung gewesen sein, das auf sich selbst gestellte Individuum könne es an der Hand der Natur ohne die Hilfe der Gesellschaft so weit bringen, wie unser Hai. Er dachte doch wohl etwas mehr historisch als einige Aufklärer des vorigen Jahrhunderts. Viele kleine Züge in seinem Werke zeigen, dass Hai der Vertreter der außerhalb der Offenbarung stehenden Menschheit sein soll. Was sich in ihm vollzieht, ist die Entwicklung indischer, persischer, griechischer Weisheit. Ein paar Andeutungen in dieser Richtung, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, mögen diese Ansicht wahrscheinlich machen. So ist es zunächst bedeutsam, dass Hai auf der Insel Ceylon lebt, deren Klima die spontane Generation ermöglichen soll, wo der Sage nach Adam, der erste Mensch, erschaffen wurde und wo der indische König zum Weisen kam. Hais erste religiöse Bewunderung, nachdem er sich aus tierischen Anfängen durch Scham und Neugierde emporgearbeitet, gilt dem von ihm entdeckten Feuer, was an die persische Religion erinnert. Und seine weiteren Spekulationen sind der griechisch-arabischen Philosophie entlehnt. Die Verwandtschaft mit Ibn Sinas Hai-Gestalt (s. IV, 4 § 7), auf die Ibn Tofail selbst hinweist, ist klar. Nur tritt Hai hier menschlicher auf. Ibn Sinas Figur stellt den übermenschlichen Geist dar. Der Romanheld Ibn Tofails aber scheint die Personifikation zu sein des natürlichen, von oben her erleuchteten Geistes der Menschheit, der mit der richtig verstandenen Prophetenseele Mohammeds, deren Aussagen allegorisch zu deuten sind, vortrefflich übereinstimmen soll. Ibn Tofail ist somit zu denselben Ergebnissen gekommen wie seine orientalischen Vorgänger. Dem gemeinen Manne muss die Religion erhalten bleiben, weil er nicht darüber hinaus kann. Nur wenige erheben sich zum Verständnis der religiösen Symbole. Und ganz vereinzelt erreicht einer die freie Anschauung der höchsten Wirklichkeit. Mit dem größten Nachdruck ist letzteres hier hervorgehoben. Auch wenn man in Hai den Vertreter der Menschheit findet, wird man das nicht leugnen können. Als die höchste Vollkommenheit des Menschen wird es hingestellt, in einsamster Stille, von allem Sinnlichen abgewendet, sein Selbst in den Weltgeist zu versenken. Freilich, dazu kommt es erst im Alter, das außerdem einen menschlichen Freund findet. Und die Beschäftigung mit dem Materiellen, mit Künsten und Wissenschaften, bildet die natürliche Vorstufe geistiger Vollkommenheit. Ohne Reue und Scham darf also Ibn Tofail auf sein am Hofe verbrachtes Leben zurückschauen. 5. Die philosophischen Ansichten, die Hai sich in seinen sieben Lebensperioden entwickelte, sind uns schon öfter begegnet. Aber auch sein praktisches Verhalten wird von Ibn Tofail besonders berücksichtigt. Sufische Übungen, wie sie in orientalischen Ordensgemeinschaften noch befolgt werden, wie sie aber auch schon von Platon und Neuplatonikern empfohlen worden, haben die Stelle gottesdienstlicher Handlungen nach dem muslimischen Gesetze eingenommen. Und Hai bildet sich in der siebenten Periode seines Lebens eine Ethik aus, die pythagoreisch aussieht. Als den Zweck seines Handelns hat sich dem Hai ergeben, in allem das Eine zu suchen und sich mit dem Absoluten, Selbständigbestehenden zu vereinigen. Diesem Höchsten sieht er nämlich die ganze Natur zustreben. Über die Ansicht, alles auf Erden sei des Menschen wegen da, ist er hinaus. Tier und Pflanze leben ebenfalls für sich selbst und für Gott. Nicht willkürlich also darf er damit handeln. Auf das Notwendigste beschränkt er jetzt seine leiblichen Bedürfnisse. Reife Früchte werden von ihm bevorzugt, deren Samen er fromm der Erde anvertraut. Sorgfältig hütet er sich davor, dass durch seine Begierde irgend eine Art ganz aussterbe. Und nur in der äußersten Not greift er zu tierischer Nahrung, wobei er ebenso die Art möglichst zu schonen sucht. Genug zum Leben, zum Schlafen zu wenig, wird seine Losung. Das betrifft das Verhalten seines Körpers zum Irdischen. Aber mit dem Himmel verbindet ihn der Lebensgeist. Und wie die Himmel bestrebt er sich, seiner Umgebung zu nützen und selbst rein zu leben. So pflegt er die Pflanze und schützt das Tier, damit seine Insel zum Paradiese werde. Er hält auf die äußerste Reinlichkeit seines Körpers und seiner Kleidung und sucht all seine Bewegungen harmonisch, denen der Himmelskörper gleichmäßig, zu gestalten. Auf diese Weise wird er allmählich befähigt, sein Selbst über Erde und Himmel hinaus zum reinen Geiste zu erheben. Das ist der Zustand der Ekstase, den kein Gedanke, kein Wort, kein Bild je hat fassen oder ausdrücken können. 4. Ibn Roschd. 1. Abu-l-Walid Mohammed ibn Achmed ibn Mohammed ibn Roschd (Averroes) wurde im Jahre 1126 zu Kordova aus einer Juristenfamilie geboren. Dort eignete er sich auch die gelehrte Bildung seiner Zeit an. Im Jahre 1153 soll er von Ibn Tofail dem Fürsten Abu Jaaqub Jusuf vorgestellt sein, über welchen Vorfall wir einen charakteristischen Bericht besitzen. Nach den einleitenden Höflichkeitsphrasen nämlich fragte ihn der Fürst: Was ist die Ansicht der Philosophen über den Himmel, ist er ewig oder entstanden? Vorsichtig antwortete Ibn Roschd, er beschäftige sich nicht mit Philosophie. Darauf fing der Fürst mit Ibn Tofail über den Gegenstand an zu reden und zeigte zum Erstaunen des Zuhörers seine Bekanntschaft mit Aristoteles, Platon und den Philosophen und Theologen des Islam. Jetzt rückte auch Ibn Roschd mit der Sprache heraus und erwarb sich die Gunst des hohen Herrn. Sein Schicksal war bestimmt. Er sollte den Aristoteles interpretieren, wie keiner es vor ihm gethan, damit die Menschheit rein und vollständig die Wissenschaft besitze. Nebenbei war er Jurist und Mediziner. Wir finden ihn (1169) als Richter in Sevilla und kurz darauf in Kordova. Abu Jaaqub, jetzt Chalif, beruft ihn im Jahre 1182 als seinen Leibarzt, nach kurzer Zeit aber ist er wieder Richter in seiner Vaterstadt, wie es sein Vater und Großvater gewesen. Aber die Verhältnisse verschlechtern sich. Die Philosophen werden verflucht und ihre Schriften ins Feuer geworfen. In seinem Alter wird Ibn Roschd von Abu Jusuf nach Elisana (Lucena bei Kordova) verbannt, doch stirbt er in der Residenz Marokko, am 10. Dez. 1198. 2. Auf Aristoteles konzentriert sich seine Wirksamkeit. Was er von dessen Schriften und über sie erlangen kann, wird fleißig studiert und genau verglichen. Ibn Roschd hat noch in Übersetzung Schriften der Griechen gekannt, die jetzt ganz oder teilweise verloren sind. Kritisch und systematisch geht er ans Werk. Er paraphrasiert den Aristoteles, er interpretiert, bald kürzer, bald ausführlicher, in mittleren und großen Kommentaren. So verdient er sich den Namen des Kommentators, den er auch in Dantes Komödie besitzt. Es ist, als ob die Philosophie der Muslime in ihm zum Verständnis des Aristoteles kommen soll, um dann, fertig, sterben zu können. Aristoteles ist für ihn der vollkommenste Mensch, der größte Denker, der im Besitze einer unfehlbaren Wahrheit gewesen. Neue Entdeckungen der Astronomie und der Physik könnten daran nichts ändern. Zwar kann man den Aristoteles mißverstehen. Ibn Roschd selbst hat manches, was er den Schriften Farabis und Ibn Sinas entnommen, später anders und besser verstehen gelernt. Doch lebt er immer des Glaubens, dass der richtig verstandene Aristoteles mit der höchsten uns Menschen erreichbaren Wissenschaft übereinstimmen werde. Im ewigen Kreislaufe des Weltgeschehens hat Aristoteles eine Höhe erreicht, über die hinauszugelangen nicht möglich ist. Denen, die nach Aristoteles gekommen sind, hat es oft viel Mühe und Nachdenken gekostet, sich die Einsichten zu erschließen, die sich dem ersten Meister leicht eröffneten. Nach und nach aber werden alle Zweifel und Gegenreden verstummen, denn Aristoteles ist ein Übermensch, gleichsam von der Vorsehung dazu bestimmt, zu zeigen, wie weit das menschliche Geschlecht es in seiner Annäherung an den Weltgeist bringen kann. Als die höchste Inkarnation des Geistes der Menschheit möchte Ibn Roschd seinen Meister den göttlichen nennen. Es wird sich im folgenden zeigen, dass die maßlose Bewunderung für Aristoteles zu einer reinen Erfassung seiner Gedanken auch bei Ibn Roschd nicht ausreichte. Den Ibn Sina zu bekämpfen, lässt er keine Gelegenheit vorbeigehen. Mit Farabi und Ibn Baddscha, denen er vieles verdankt, setzt er sich auch gelegentlich auseinander. Er meistert alle seine Vorgänger, weit schlimmer als Aristoteles es seinen Lehrer Platon gethan. Und dennoch ist er selbst nicht hinausgekommen, bei weitem nicht, über die Auffassung neuplatonischer Ausleger und die Missverständnisse syrischer und arabischer Übersetzer. Öfter folgt er sogar dem oberflächlichen Themistius entgegen dem verständigen Alexander von Aphrodisias, oder sucht ihre Ansichten zu kombinieren. 3. Ibn Roschd ist vor allem ein Fanatiker der aristotelischen Logik. Ohne sie wird man nicht selig und es ist schade für Platon und Sokrates, dass sie nicht davon wussten! Die Glückseligkeit der Menschen bemisst sich nach der Stufe ihrer logischen Einsichten. Mit kritischem Blicke erkennt er Porphyrs Isagoge als entbehrlich, aber Rhetorik und Poetik rechnet er noch zum logischen Organon. Da gibt es denn die wunderlichsten Missverständnisse. Tragödie und Komödie z. B. werden zu Lob- und Schmähgedichten, die poetische Wahrscheinlichkeit muss es sich gefallen lassen, entweder demonstrierbare Wahrheit oder trügerischen Schein zu bedeuten, die Erkennung auf der Bühne wird zur apodeiktischen Erkenntnis u. s. w. Von der griechischen Welt hat er natürlich überhaupt keine Anschauung. Es ist verzeihlich, denn er konnte keine Ahnung davon haben. Dennoch verzeiht man nicht gerne dem, der andere geschulmeistert. Wie seine Vorgänger legt Ibn Roschd besonderen Nachdruck auf das Sprachliche, soweit es allen Sprachen gemeinsam. Dieses Gemeinsame, das Universelle also, hat Aristoteles, meint er, in seiner Hermeneutik, aber auch in der Rhetorik, immer vor Augen. So soll es auch der arabische Philosoph halten, nur darf er die Beispiele zur Erläuterung der allgemeinen Regeln der arabischen Sprache und Litteratur entnehmen. Um die allgemeinen Regeln aber ist es zu thun, Wissenschaft ist Erkenntnis des Allgemeinen. Die Logik ebnet dazu die Wege, dass unser Wissen aus sinnlicher Besonderheit zur reinen Vernunftwahrheit aufsteige. Die Menge wird immer im Sinnlichen leben, im Irrtum herumtappen. Mangelhafte Anlage und wenig Ausbildung, dazu schlechte Gewöhnung halten sie vom Fortschritt zurück. Doch muss es einigen möglich sein, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Der Adler schaut der Sonne ins Gesicht, denn, wenn keiner sie anschauen könnte, so hätte die Natur etwas vergebens gemacht. Was da glänzt, soll gesehen, was da ist, soll erkannt werden, wenn auch nur von einem einzigen Manne. Und die Wahrheit ist. Die Liebe zu ihr in unserer Brust wäre ganz vergebens, wenn wir uns ihr nicht nähern könnten. Ibn Roschd glaubt, in vielen Dingen die Wahrheit zu erkennen, ja die absolute Wahrheit auffinden zu können. Mit Lessing hätte er sich nicht bescheiden mögen, sie zu suchen. Die Wahrheit ist ihm ja in Aristoteles gegeben. Von diesem Standpunkte blickt er auf die muslimische Theologie herab. Zwar erkennt er in der Religion eine Wahrheit eigener Art (s. unten § 7), aber die Theologie ist ihm zuwider. Sie will beweisen, was, auf diese Weise, nicht bewiesen werden kann. Die Offenbarung im Koran, so lehrt Ibn Roschd mit anderen, später ähnlich Spinoza, hat nicht den Zweck, die Menschen zu belehren, sondern sie zu bessern. Nicht Wissen, sondern Gehorsam oder Sittlichkeit ist das Ziel des Gesetzgebers, der weiß, dass menschliches Glück nur in der Gesellschaft zu verwirklichen ist. 4. Was Ibn Roschd von seinen Vorgängern, namentlich von Ibn Sina, unterscheidet, ist vor allem die unzweideutige Art und Weise, in der er die Welt als ewigen Prozess des Werdens auffasst. Die Welt als ganzes ist eine ewig-notwendige Einheit, ohne irgendwelche Möglichkeit des Nicht- oder Andersseins. Materie und Form sind nur im Gedanken zu trennen. Die Formen wandern nicht wie Gespenster durch die dunkle Materie, sondern sind keimartig in dieser enthalten. Wie Naturkräfte wirken die materiellen Formen, ewig fortzeugend, nie von der Materie getrennt, aber dennoch göttlich zu nennen. Absolutes Entstehen und Vergehen gibt es nicht, denn alles Geschehen ist Übergang von der Potenzialität zur Aktualität und von der Aktualität in die Potenzialität zurück. Dabei wird gleichartiges immer nur von gleichartigem erzeugt. Es gibt aber eine Stufenordnung des Seienden. Die materielle oder substanzielle Form steht in der Mitte zwischen bloßem Accidens und reiner (separater) Form. Auch die substanziellen Formen zeigen graduelle Verschiedenheiten, Mittelzustände zwischen Potenzialität und Aktualität. Und endlich das ganze System der Formen, von der niedersten hylischen Form bis zum göttlichen Wesen, der Urform des Alls, ist ein geschlossener Stufenbau. Der ewige Prozess des Werdens innerhalb der gegebenen Ordnung setzt nun eine ewige Bewegung voraus, und diese ein ewig Bewegendes. Wenn die Welt entstanden wäre, so könnte man von ihr nur schließen auf eine andere, ebenfalls entstandene Körperwelt, die sie erzeugt hätte, ins Unendliche. Wenn sie ein Mögliches wäre, nur auf ein Mögliches, daraus sie geworden, und so in infinitum. Nur die Annahme einer einheitlich ewig-notwendig bewegten Welt gewährt uns nach Ibn Roschd die Möglichkeit, auf ein ewig bewegendes, von der Welt getrenntes Wesen zu schließen, das, indem es immerfort die Bewegung und schöne Ordnung des Alls bewirkt, Urheber der Welt genannt werden darf, und das in den Geistern, welche die Sphären bewegen -- denn jede besondere Bewegung erfordert ihr besonderes Prinzip --, die Vermittler seiner Thätigkeit hat. Das Wesen des ersten Bewegenden oder Gottes, sowie der Sphärengeister, findet Ibn Roschd im Denken, in dem ihm die Einheit des Seins gegeben ist. Das mit seinem Gegenstande identische Denken ist die einzige positive Bestimmung des göttlichen Wesens, womit dann Sein und Einheit absolut zusammenfallen. Sein und Einheit kommen nämlich nicht zum Wesen hinzu, sondern sind, wie alle Universalien, nur im Denken gegeben. Das Denken bringt überall das Allgemeine im Besonderen hervor. Zwar ist das Universale als Natur in den Dingen wirksam, aber das Universale als solches ist nur im Verstande. Oder der Möglichkeit nach ist es in den Dingen, wirklich aber im Verstande, d. h. im Verstande hat es mehr Sein, eine höhere Art zu existieren als in den Dingen. Fragt man nun, ob das göttliche Denken auch das Besondere, oder nur das Allgemeine umfasse, so antwortet Ibn Roschd: keins von beidem, denn über beides ist das göttliche Wesen hinaus. Sein Denken bewirkt das All, umfasst das All. Gott ist das Prinzip, die Urform und der Endzweck aller Dinge. Er ist die Weltordnung, die Versöhnung aller Gegensätze, das All selbst in seiner höchsten Existenzweise. Dass von einer göttlichen Vorsehung im gewöhnlichen Sinne also nicht geredet werden könne, ergibt sich daraus von selbst. 5. Zwei Arten des Seienden kennen wir: ein bewegtes und ein bewegendes, selbst aber unbewegtes, oder ein körperliches und ein geistiges. Im Geistigen aber liegt die höhere Einheit oder Vollendung alles Seienden in stufenmäßiger Ordnung. Es ist also keine abstrakte Einheit. Die Sphärengeister sind, je ferner sie dem ersten stehen, um so weniger einfach. Alle erkennen sich selbst, aber in ihrem Wissen ist auch die Beziehung auf die erste Ursache. Daraus ergibt sich eine Art Parallelismus zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen. Der Zusammensetzung des Körperlichen aus Materie und Form entspricht etwas in den niederen Geistern. Was dem rein Geistigen beigemischt, ist zwar keine Materie, die etwas erleiden könnte, aber doch etwas der Materie ähnliches, das ein anderes in sich aufzunehmen vermag. Sonst ließe sich mit der Einheit des auffassenden Geistes die Vielheit der Intelligibilia nicht in Übereinstimmung bringen. Die Materie erleidet, der Geist aber empfängt. Hauptsächlich mit Rücksicht auf den menschlichen Geist hat Ibn Roschd diesen fein unterscheidenden Parallelismus eingeführt. 6. Dass die menschliche Seele sich zu ihrem Körper verhalte, wie die Form zur Materie, steht dem Ibn Roschd fest. Es ist ihm völlig ernst damit. Die Theorie vieler unsterblicher Seelen weist er, Ibn Sina bekämpfend, ganz bestimmt zurück. Nur als Vollkommenheit ihres Leibes hat die Seele einen Bestand. Was die empirische Psychologie betrifft, ist er ängstlich bestrebt, sich an Aristoteles, gegen Galen u. a., zu halten. Aber in der Lehre vom Nus entfernt er sich, ohne dass er sich dessen bewusst wäre, nicht unbeträchtlich von seinem Meister. Eigentümlich, von neuplatonischen Anschauungen ausgehend, ist seine Auffassung der materiellen Vernunft. Sie ist nicht bloß eine Anlage oder eine Fähigkeit der menschlichen Seele. Sie ist auch nicht gleichbedeutend mit dem sinnlich-geistigen Vorstellungsleben, sondern sie ist etwas Überseelisches, Überindividuelles. Die materielle Vernunft ist ewiger, unvergänglicher Geist, ebenso ewig und unvergänglich wie die reine Vernunft oder der thätige Geist über uns. Es ist die Verselbständigung der Materie im Bereiche des Körperlichen, die hier von Ibn Roschd, freilich mit Anschluss an Themistius u. a., auf das Gebiet des Geistigen übertragen wird. Die materielle Vernunft ist also ewige Substanz. Die Anlage aber oder die Fähigkeit des menschlichen Individuums zu geistiger Erkenntnis nennt Ibn Roschd leidende Vernunft. Diese entsteht und vergeht mit den Individuen, während die materielle Vernunft ewig ist, wie die Gattung der Menschheit. Nun bleibt aber, wie nicht anders möglich, das Verhältnis zwischen dem thätigen und dem empfangenden Geiste (so sagen wir jetzt für materielle Vernunft) etwas dunkel. Der thätige Geist macht die Vorstellungen der menschlichen Seele intelligibel, der empfangende Geist nimmt sie in sich auf. Das Seelenleben der menschlichen Individuen ist also der Ort, wo das mystische Liebespaar sich trifft. Und die Örter sind sehr verschieden. Von der ganzen seelischen Anlage des Menschen und von der Disposition seiner Vorstellungen hängt es ab, in welchem Grade der thätige Geist dieselben zur Intelligibilität erheben kann, inwiefern der empfangende Geist sie zu seinem Inhalte zu machen im Stande ist. Dadurch erklärt es sich, dass die Menschen nicht alle auf derselben Stufe geistigen Erkennens stehen. Aber die Summe geistiger Erkenntnis in der Welt ändert sich nicht, wenn auch ihre Verteilung an die einzelnen Schwankungen unterliegt. Mit Naturnotwendigkeit ersteht immer wieder der Philosoph, sei es Aristoteles oder Ibn Roschd, in dessen Kopf das Seiende zum Begriff wird. Zwar sind die Gedanken der Individuen zeitlich und ist der empfangende Geist, insofern der einzelne an ihm teil hat, veränderlich, aber als menschliche Gattungsvernunft betrachtet, ist dieser Geist ewig unveränderlich, wie der thätige Geist aus der letzten Sphäre über uns. 7. Im ganzen sind es drei große Ketzereien, die das System des Ibn Roschd in Widerspruch setzen zu der Theologie der drei Weltreligionen seiner Zeit. Erstens die Ewigkeit der Körperwelt und der sie bewegenden Geister, zweitens der notwendige Kausalnexus alles Weltgeschehens, sodass für Vorsehung, Wunder und dergleichen kein Platz bleibt, und drittens die Vergänglichkeit alles Individuellen, womit auch die individuelle Unsterblichkeit aufgehoben ist. Logisch betrachtet scheint die Annahme einer Anzahl selbständiger Sphärengeister unter Gott keinen genügenden Grund zu besitzen. Aber Ibn Roschd hilft sich hier, wie seine Vorgänger, über den Widerspruch hinweg mit der Behauptung, jene Sphärengeister seien nicht individuell, sondern nur der Art nach verschieden. Ihr Zweck war ja nur, so lange die Einheit des Weltsystems nicht erkannt war, die verschiedenen Bewegungen zu erklären. Nachdem das ptolemäische Weltsystem gefallen und diese vermittelnden Geister überflüssig wurden, identifizierte man den thätigen Geist mit Gott, wie es übrigens auch schon früher von spekulativer und religiöser Seite versucht war. Ein Schritt weiter war es nur, auch den ewigen Geist der Menschheit mit Gott zu identifizieren. Keins von beiden hat Ibn Roschd gethan, wenigstens nicht nach dem Wortlaute seiner Schriften. Aber in seinem Systeme war, bei konsequenter Durchführung, die Möglichkeit dazu gegeben, wie zu einer pantheistischen Weltanschauung überhaupt. Andererseits konnte sich leicht der Materialismus, wie entschieden ihn auch unser Philosoph bekämpfte, daran lehnen. Denn wo die Ewigkeit, Form und Wirksamkeit alles Materiellen so stark betont wird, wie von ihm geschah, da mag der Geist noch König heißen, aber, wie es scheinen könnte, nur von des Stoffes Gnaden. Jedenfalls ist Ibn Roschd ein kühner und folgerichtiger, wenn auch kein origineller Denker zu nennen. Die theoretische Philosophie genügte ihm, doch schuldete er es seiner Zeit und seiner Stellung, sich mit der Religion und der Praxis abzufinden. Wir können uns darüber kurz fassen. 8. Ibn Roschd findet oft Gelegenheit, gegen die ungebildeten Herrscher und die bildungsfeindlichen Theologen seiner Zeit sich zu äußern. Doch bleibt ihm das Leben im Staate immer der Einsamkeit vorzuziehen. Auch seinen Gegnern dankt er -- das ist ein erfreulicher Charakterzug -- für manche Belehrung. Die Einsamkeit, meint er, bringe keine Künste und Wissenschaften hervor, höchstens könne man in ihr das Erworbene genießen und es vielleicht um ein weniges vermehren. Zum Wohle des Ganzen aber soll jeder beitragen, auch die Frauen sollen wie die Männer der Gesellschaft und dem Staate dienen. Hier schließt Ibn Roschd sich dem Platon an (die Politik des Aristoteles hat er nicht gekannt) und bemerkt ganz vernünftig, viel Armut und Elend seiner Zeit rühre daher, dass man sich die Weiber nur zu einem außerdem sehr fraglichen Vergnügen wie Haustiere oder Pflanzen halte, statt sie an der materiellen und geistigen Güterproduktion und der Hütung dieser Güter teilnehmen zu lassen. In der Ethik tadelt unser Philosoph sehr scharf die Doktrin der Rechtslehrer, dass etwas nur gut oder böse sei, weil Gott es so gewollt. Alles hat vielmehr von Natur oder vernunftgemäss seinen sittlichen Charakter. Die von vernünftiger Einsicht bestimmte Handlung ist sittlich. Freilich ist es nicht die Einzelvernunft, sondern die Staatsraison, an die in letzter Instanz zu appellieren ist. Von staatsmännischem Gesichtspunkte aus betrachtet Ibn Roschd auch die Religion. Er würdigt sie ihres moralischen Zweckes wegen. Sie ist Gesetz, keine Lehre. Deshalb bekämpft er fortwährend die Theologen, die statt gläubig zu gehorchen begreifen wollen. Er macht es Gazali zum Vorwurf, dass dieser der Philosophie Einfluss auf seine Religionslehre auszuüben gestattet und dadurch viele zum Zweifel und Unglauben veranlasst hat. Das Volk soll glauben, so wie es im Buche steht. Das ist Wahrheit, freilich eine Wahrheit für große Kinder, denen man Märchen erzählt. Was darüber hinaus, ist vom Übel. Für die Existenz Gottes z. B. hat der Koran zwei jedem einleuchtende Beweise: die göttliche Fürsorge für alles, besonders für den Menschen, und die Erschaffung des Lebens in Pflanzen, Tieren u. s. w. Daran ist nicht zu rütteln, am Wortlaute der Offenbarung nicht theologisch herumzudeuteln. Denn die Beweise, welche die Theologen für das Dasein Gottes beibringen, halten einer wissenschaftlichen Kritik nicht Stand, ebensowenig wie der aus dem Begriffe des Möglichen und Notwendigen bei Farabi und Ibn Sina. Das alles führt zu Atheismus und Libertinismus. Im Interesse der Sittlichkeit, des Staates also, ist die halbe Theologie zu bekämpfen. Dagegen dürfen die wissenden Philosophen das Wort Gottes im Koran deuten. Im Lichte höchster Wahrheit verstehen sie, was damit bezweckt ist. Und dem gemeinen Manne sagen sie davon nur so viel, wie er eben aufzufassen im Stande ist. Auf diese Weise kommt die schönste Harmonie heraus. Religionsgesetz und Philosophie stimmen mit einander überein, eben weil sie nicht dasselbe wollen. Wie Praxis und Theorie verhalten sie sich. Indem der Philosoph die Religion begreift, lässt er sie in ihrem Bereiche gelten, sodass die Philosophie gar nicht wider die Religion verstößt. Die Philosophie aber ist die höchste Form der Wahrheit, zugleich auch die erhabenste Religion. Die Religion des Philosophen nämlich ist die Erkenntnis alles dessen, was ist. Aber irreligiös erscheint diese Ansicht doch, und eine positive Religion kann es sich nicht gefallen lassen, im Reiche der Wahrheit die führende Stellung der Philosophie anzuerkennen. Nur natürlich war es, dass die Theologen des Westens, ähnlich ihren orientalischen Brüdern, die Gunst der Verhältnisse ausnutzten und nicht ruhten, bis sie die Herrin zur Magd der Theologie erniedrigt hatten. VII. ZUM SCHLUSS. 1. Ibn Chaldun. 1. Die Philosophie des Ibn Roschd und seine Erklärung des Aristoteles hat auf die muslimische Welt äußerst wenig gewirkt. Viele seiner Schriften sind im Original verloren gegangen, wir haben sie in hebräischen und lateinischen Übersetzungen. Schüler und Nachfolger hat er nicht gefunden. In abgelegenen Winkeln fand sich wohl mancher Freigeist oder Mystiker, in dessen Kopf es wunderlich genug aussah, um sich ernstlich mit philosophischen Fragen theoretischer Art abzumühen, aber auf die allgemeine Bildung und die Gestaltung der Verhältnisse zu wirken, wurde der Philosophie nicht verstattet. Vor den siegreichen Waffen der Christen zog die materielle und damit auch die geistige Kultur der Muslime sich immer weiter zurück. Spanien ward Afrika, wo der Berber herrschte. Die Zeit war ernst, es handelte sich um die Existenz des Islam in diesen Ländern. Zum Kampfe gegen den Feind, aber auch gegen einander, rüsteten sich die Männer, und zu mystischen Übungen schlossen sich überall die frommen Brüder zusammen. In den sufischen Orden dieser Leute retteten sich wenigstens noch einige philosophische Formeln. Als gegen die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts Kaiser Friedrich II. den muslimischen Gelehrten von Ceuta eine Anzahl philosophischer Fragen vorlegte, beauftragte der Almohade Abdalwahid den Ibn Sabin, Stifter eines mystischen Ordens, damit, sie zu beantworten. Er that es. In schulmeisterlichem Tone leiert er die Ansichten alter und neuer Philosophen ab. Das sufische Geheimnis, Gott sei die Realität aller Dinge, lässt er durchblicken. Das einzige aber, was wir aus seinen Antworten lernen können, ist, dass Ibn Sabin Bücher gelesen, von denen, wie er glaubt, Kaiser Friedrich keine blasse Ahnung hatte. 2. In kleinen Staatengebilden, auf- und abwogend, trieb die muslimische Kultur des Westens dahin. Bevor sie jedoch ganz verschwand, fand sich der Mann, der das Gesetz ihrer Bildung aufzufinden versuchte, und damit eine neue philosophische Disziplin, die Philosophie der Gesellschaft oder der Geschichte, zu begründen glaubte. Dieser merkwürdige Mensch ist Ibn Chaldun, im Jahre 1332 aus sevillanischer Familie zu Tunis geboren. Dort erhielt er auch seine Erziehung und wurde dann, teilweise von einem im Orient ausgebildeten Lehrer, philosophisch geschult. Nach dem Studium aller bekannten Wissenschaften war er bald im Staatsdienste, bald auf Reisen, aber überall ein guter Beobachter. Verschiedenen Fürsten diente er als Sekretär, auch war er Gesandter an mehreren Höfen in Spanien und Afrika. So war er am christlichen Hofe Peters des Grausamen in Sevilla. Auch ist er bei Tamerlan in Damaskus gewesen. Eine reiche Welterfahrung hatte er sich also zu eigen gemacht, als er im Jahre 1406 zu Kairo starb. Als Charakter ist er vielleicht nicht hoch zu stellen. Man wird aber dem Manne, der mehr als andere seiner Zeit für die Wissenschaft gelebt, etwas Eitelkeit, Dilettantismus und dergleichen gerne verzeihen. 3. Die Schulphilosophie, wie Ibn Chaldun sie kennen lernte, befriedigte ihn nicht. In ihren fertigen Rahmen passte sein Weltbild nicht hinein. Wenn er etwas mehr zum Theoretisieren aufgelegt gewesen wäre, hätte er wohl einen Nominalismus ausgebildet. Die Philosophen behaupten, alles zu wissen. Ihm aber erscheint das Universum zu groß, als dass es von unserem Verstande begriffen werden könne. Es gibt der Wesen und der Dinge mehr, unendlich viel mehr, als der Mensch wissen kann. "Gott schafft, was ihr nicht wisset". Die logischen Deduktionen wollen oft nicht stimmen zu der empirischen Natur der Einzeldinge, die nur durch Beobachtung erkannt wird. Es ist Einbildung, durch bloße Anwendung logischer Regeln zur Wahrheit gelangen zu können. Nachdenken über das erfahrungsmäßig Gegebene ist demnach die Aufgabe des wissenschaftlichen Mannes. Und nicht darf er sich mit seiner Einzelerfahrung begnügen, sondern mit kritischer Sorgfalt hat er die Summe der gesamten überlieferten Erfahrung der Menschheit zu ziehen. Von Natur ist die Seele ohne Wissen. Aber von Natur hat sie auch das Vermögen, nachzudenken, die gegebene Erfahrung zu bearbeiten. Beim Nachdenken springt, wie durch Inspiration, oft der richtige Mittelbegriff hervor, mittelst dessen die gewonnene Einsicht dann nach den Regeln formaler Logik zurechtgelegt werden mag. Die Logik bringt keine Erkenntnis hervor, sondern beschreibt nur den Weg unseres Nachdenkens, zeigt, wie wir zum Wissen kommen, und hat insofern auch einen Wert, dass sie uns vor Irrtümern hüten und den Geist schärfen und zu Genauigkeit im Denken anhalten kann. Sie ist folglich eine Hilfswissenschaft, die von einigen Befähigten, dazu Berufenen, auch ihrer selbst wegen gepflegt werden soll, jedoch nicht die grundlegende Bedeutung besitzt, die ihr von den Philosophen beigelegt wird. Den Weg des Nachdenkens, den sie beschreibt, geht das wissenschaftliche Talent in irgend einer Einzelwissenschaft auch zur Not ohne sie. Ibn Chaldun ist ein nüchterner Denker. Alchemie und Astrologie bekämpft er mit vernünftigen Gründen. Dem mystischen Rationalismus der Philosophen hält er öfter die einfachen Lehren seiner Religion entgegen, sei es mit persönlicher Überzeugung oder nur aus politischer Rücksicht. Aber auf seine wissenschaftlichen Ansichten übt die Religion keinen größeren Einfluss als der neuplatonische Aristotelismus. Platons Staat, die pythagoreisch-platonische Philosophie, aber ohne ihre wundersüchtigen Auswüchse, und die Geschichtswerke seiner orientalischen Vorgänger, namentlich des Masudi, haben auf die Ausbildung seiner Gedanken am meisten gewirkt. 4. Mit dem Anspruch, eine neue philosophische Disziplin zu begründen, von der Aristoteles keine Ahnung hatte, tritt Ibn Chaldun auf. Philosophie ist die Wissenschaft dessen, was ist, aus seinen Ursachen oder Gründen entwickelt. Aber dem entspricht nicht, was die Philosophen über die hohe Geisterwelt und Gottes Wesen vorbringen: Unbeweisbares reden sie darüber. Viel besser kennen wir unsere Menschenwelt, und davon lässt sich durch Beobachtung und innere Seelenerfahrung etwas Sicheres aussagen. Hier lassen sich die Thatsachen nachweisen und ihre Ursachen herausfinden. Insofern nun letzteres auch in der Geschichte gelingt, d. h. sofern die geschichtlichen Ereignisse auf ihre Ursachen zurückgeführt und historische Gesetze aufgefunden werden können, ist die Geschichte wirklich Wissenschaft und ein Teil der Philosophie zu nennen. So tritt der Begriff der Geschichte als Wissenschaft rein heraus. Mit Neugierde, Eitelkeit, gemeinem Nutzen, erbaulicher Wirkung u. s. w. hat sie nichts zu schaffen. Sie soll, wenn auch im Dienste höherer Lebenszwecke, nichts anderes als Thatsachen feststellen und deren kausale Verknüpfung auszumitteln suchen. Kritisch, ohne Vorurteil. Als oberstes methodologisches Prinzip gilt dabei, dass die Ursache der Wirkung entspricht, d. h. dass gleiche Erscheinungen auch dieselben Bedingungen voraussetzen oder dass unter denselben Kulturverhältnissen auch die nämlichen Vorgänge sich ereignen werden. Da nun mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass die Natur der Menschen und der Gesellschaft im Laufe der Zeit sich nicht oder nicht bedeutend ändert, so ist ferner ein lebensvolles Verständnis der Gegenwart das beste Mittel zur Erforschung der Vergangenheit, indem das nächste, vollständig Bekannte uns Rückschlüsse gestattet auf die weniger gut bekannten Ereignisse früherer Zeit, ja sogar einen Ausblick auf die Zukunft verheißt. In jedem Falle ist also die Überlieferung an der Gegenwart zu prüfen, und wenn sie uns Dinge erzählt, die jetzt unmöglich sind, so ist schon deshalb ihre Wahrheit zu bezweifeln. Vergangenheit und Gegenwart sind einander wie zwei Tropfen Wasser gleich. Das könnte, absolut gefasst, auch Ibn Roschd gesagt haben. Nach Ibn Chaldun gilt das aber nur ganz allgemein als heuristisches Prinzip. Im einzelnen erleidet es manche Einschränkung, ist jedenfalls aus den Thatsachen selbst zu begründen. 5. Was ist nun der Gegenstand der Geschichte als philosophischer Disziplin? Es ist, antwortet Ibn Chaldun, das soziale Leben, die gesamte materielle und geistige Kultur der Gesellschaft. Die Geschichte hat zu zeigen, wie die Menschen arbeiten und sich ernähren, warum sie sich streiten und unter einzelnen Führern zu größeren Verbänden zusammenschließen, wie sie endlich im sesshaften Leben Muße finden zur Pflege höherer Künste und Wissenschaften, wie also aus rohen Anfängen nach und nach eine feinere Kultur aufblüht, und wie diese dann wieder hinstirbt. Die sich ablösenden Gesellschaftsformen sind, nach Ibn Chaldun, Nomadentum, Dynastie und Stadtstaat. Die erste Frage ist die Nahrungsfrage. Nach dem Stande ihrer Wirtschaft (Nomaden, sesshafte Viehzüchter, Ackerbauer) unterscheiden sich die Menschen und die Völker. Bedürfnis führt zu Raub und Krieg und zur Unterwerfung unter den führenden Herrscher. So entwickelt sich eine Dynastie und diese gründet sich eine Stadt, wo die Arbeitsteilung oder die gegenseitige Hilfeleistung Wohlstand hervorbringt. Aber dieser Wohlstand führt zu unnatürlichem Müßiggange und Üppigkeit. Arbeit hat an erster Stelle den Wohlstand erzeugt, aber jetzt, auf der höchsten Kulturstufe, lässt man andere für sich arbeiten. Oft ohne Gegenleistung, denn Ansehen, oder auch Servilität nach oben, Erpressung nach unten, verschaffen Wohlstand. Man wird aber dabei von anderen abhängig. Die Bedürfnisse werden immer größer, die Steuern immer drückender. Die reichen Verschwender und Steuerzahler werden arm und ihr unnatürliches Leben macht sie krank und elend. [17] Die alten Kriegersitten haben sich verfeinert, sodass man sich nicht mehr verteidigen kann. Das Band des Gemeinsinnes oder der Religion, womit früher die Not und der Wille des Herrschers die einzelnen zusammenknüpfte, erschlafft, denn die Städter sind nicht fromm. So ist alles in innerer Auflösung begriffen. Und da erscheint ein neuer, kräftiger Nomadenstamm aus der Wüste, oder ein weniger überbildetes Volk mit einem festeren Gemeinsinne und fällt über die verweichlichte Stadt her. Dann bildet sich ein neuer Staat, der sich die materiellen und geistigen Güter der alten Kultur aneignet, und dieselbe Geschichte wiederholt sich. Es ergeht den Staaten und den größeren Verbänden wie einzelnen Familien: in drei bis sechs Generationen vollendet sich ihre Geschichte. Die erste Generation gründet, die zweite erhält, vielleicht auch die dritte u. s. w., die letzte zerstört. Das ist der Kreislauf aller Civilisation. 6. Nach August Müller stimmt die Theorie Ibn Chalduns zu der Geschichte Spaniens, Westafrikas und Siziliens vom 11. bis 15. Jahrhundert, deren Beobachtung sie auch entnommen ist. Freilich ist sein eigenes Geschichtswerk eine Kompilation. Im einzelnen fehlt er oft, wenn er mit seiner Theorie die Überlieferung meistert. Aber in seiner philosophischen Einleitung findet sich eine Fülle feiner psychologischer und politischer Bemerkungen und als ganzes ist sie eine großartige Leistung. Das Altertum hat sich mit dem Problem der Geschichte nicht eingehend befasst. Große Kunstwerke der Geschichtschreibung hat es uns hinterlassen, aber keine philosophische Begründung der Geschichte als Wissenschaft. Dass die Menschheit es, obgleich von Ewigkeit her bestehend, nicht längst zu viel höherer Kultur gebracht hatte, wurde aus elementaren Ereignissen, Erdbeben, Wasserfluten u. s. w. erklärt. Dagegen fasste die christliche Philosophie die Geschichte mit ihren Wandlungen als die Verwirklichung oder Vorbereitung des Gottesstaates auf Erden. Ibn Chaldun hat nun zuerst ganz bewusst und in ausführlich begründeter Darstellung den Versuch gemacht, die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft aus den nächsten Ursachen abzuleiten. Die Verhältnisse der Rasse, des Klimas, der Güterproduktion u. s. w. werden erörtert und in ihrer Wirkung auf die sinnlich-geistige Konstitution des Menschen und der Gesellschaft dargestellt. Im Kreislaufe der Civilisationen findet er eine innere Gesetzmäßigkeit. Überall forscht er den natürlichen Ursachen nach, bis zur möglichsten Vollständigkeit. Dass die Kette von Ursachen und Folgen in einer letzten Ursache zum Abschlusse komme, behauptet er auch zu glauben. Die Reihe kann nicht ins Unendliche gehen, und darum schließen wir auf einen Gott. Dieser Schluss aber, so heißt es bei ihm, bedeutet eigentlich dies, dass wir nicht im Stande sind, die Ursachen aller Dinge und die Art ihres Wirkens zu erkennen, es ist im Grunde ein Geständnis unserer Unwissenheit. Das bewusste Nichtwissen ist auch eine Art Wissen. Aber soweit es möglich ist, soll man das Wissen verfolgen. Indem Ibn Chaldun seine neue Wissenschaft anbahnt, will er nur die Hauptprobleme angedeutet, nur im allgemeinen Methode und Gegenstand dieser Wissenschaft angegeben haben. Aber er hofft, dass andere nach ihm kommen werden, mit gesundem Verstande und sicherem Wissen seine Untersuchungen weiterzuführen und neue Probleme aufzustellen. Die Hoffnung Ibn Chalduns ist in Erfüllung gegangen, aber nicht im Islam. Wie er ohne Vorgänger war, blieb er ohne Nachfolger. Doch hat sein Werk im Orient nachhaltig gewirkt. Viele muslimische Staatsmänner, die seit dem 15. Jahrhundert so manchen europäischen Fürsten und Diplomaten zur Verzweiflung gebracht haben, sind bei unserem Philosophen in die Schule gegangen. 2. Die Araber und die Scholastik. 1. Dem Sieger gehört die Braut. In den Kriegen zwischen Christen und Muslimen, die in Spanien geführt wurden, hatten erstere oft die Anziehungskraft maurischer Schönen kennen gelernt. Manch christlicher Ritter hatte mit einer Mohrin den "neuntägigen Gottesdienst" gefeiert. Aber außer den materiellen Gütern und den sinnlichen Genüssen wirkten auch die Reize geistiger Kultur auf die Eroberer. Und so erschien die arabische Wissenschaft dem Auge vieler wissensbedürftiger Männer wie eine holde Braut. Vermittelnd traten da besonders Juden auf. Die Juden hatten alle Wandlungen der muslimischen Geisteskultur mitgemacht. Viele haben in der arabischen Sprache geschrieben, andere arabische Schriften ins Hebräische übertragen. Manch philosophisches Werk muslimischer Autoren verdankt diesem Umstande seine Erhaltung. Der Schlusspunkt jüdisch-philosophischer Entwicklung war Maimonides (1135-1204), der, hauptsächlich unter dem Einflusse Farabis und Ibn Sinas, Aristoteles mit dem Alten Testamente zu versöhnen suchte. Teils deutete er die philosophischen Lehren aus dem offenbarten Texte heraus, teils ließ er die aristotelische Philosophie auf das Irdische sich beschränken, während dasjenige, was drüber ist, aus dem göttlichen Buche erkannt werden sollte. In den muslimischen Staaten zur Zeit ihrer Blüte hatten die Juden sich an der wissenschaftlichen Arbeit beteiligt. Sie waren geduldet, auch wohl begünstigt worden. Aber mit dem Zusammenbruch jener Staaten, beim Niedergange der Kultur, änderte sich ihre Lage. Von fanatisierten Massen vertrieben, flüchteten sie sich in die Christenländer, besonders nach Südfrankreich, dort als Kulturvermittler ihre Mission zu erfüllen. 2. An zwei Punkten berührte sich die muslimische mit der christlichen Welt des Abendlandes: in Unteritalien und in Spanien. Zu Palermo, am Hofe Kaiser Friedrichs II. wurde die arabische Wissenschaft eifrig gepflegt und den Lateinern zugänglich gemacht. Der Kaiser und sein Sohn Manfred schickten den Universitäten zu Bologna und Paris Übersetzungen philosophischer Schriften, zum Teil aus dem Arabischen, zum Teil aber auch direkt aus dem Griechischen. Viel bedeutender aber und einflussreicher war die Übersetzerthätigkeit in Spanien. In dem von den Christen zurückeroberten Toledo befand sich eine reiche arabische Moschee-Bibliothek, die als Bildungsstätte weit in die nördlichen Christenländer hinein bekannt wurde. Mosaraber und Juden, zum Teil getaufte, arbeiteten dort mit spanischen Christen zusammen. Aus allen Ländern fanden sich Mitarbeiter. So wirkten z. B. als Übersetzer Johannes Hispanus und Gundisalinus (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts), Gerard von Cremona (1114-1187), Michel der Schotte und Hermann der Deutsche (zwischen 1240 und 1246). Über die Thätigkeit dieser Männer sind wir im einzelnen noch nicht genügend unterrichtet. Insofern jedem Worte des arabischen Originales oder der hebräischen (auch spanischen?) Übersetzung irgend ein lateinisches entspricht, sind ihre Übersetzungen treu zu nennen. Durch geistvolles Verständnis zeichnen sie sich im allgemeinen nicht aus. Demjenigen, der des Arabischen nicht kundig ist, fällt es schwer, sich da hinein zu lesen. Gespensterhaft nehmen sich viele beibehaltene arabische Worte und bis zur Unkenntlichkeit verunstaltete Eigennamen aus. Es mag das alles eine schöne Verwirrung in den Köpfen lateinischer Philosophieschüler angestiftet haben. Und nicht weniger thaten es die sich neu aufschließenden Gedanken. Die Übersetzerthätigkeit hält im allgemeinen gleichen Schritt mit dem Interesse christlicher Kreise, und dieses hat sich ähnlich entwickelt, wie wir es im östlichen und westlichen Islam zu beobachten Gelegenheit hatten (vgl. VI, 1 § 2). Die ersten Übersetzungen sind mathematisch-astrologisch, medizinisch, naturphilosophisch, psychologisch, daran sich das logische und metaphysische schließt. Später beschränkt man sich mehr auf Aristoteles und seine Kommentare, anfangs aber wird allerhand Wundersüchtiges bevorzugt. Kindi wurde hauptsächlich als Arzt und Astrolog bekannt. Ibn Sina wirkte durch seine Medizin, empirische Psychologie und dazu seine Naturphilosophie und Metaphysik. Weniger Einfluss übten neben ihm Farabi und Ibn Baddscha aus. Zuletzt kamen die Kommentare des Ibn Roschd (Averroes) und ihr Ansehen hat, neben Ibn Sinas Kanon der Medizin, am längsten Stand gehalten. 3. Was hat nun die christliche Philosophie des Mittelalters den Muslimen zu verdanken? Diese Frage zu beantworten, gehört eigentlich nicht mehr zur Aufgabe dieser Monographie. Es ist eine Arbeit für sich, dafür es viele Folianten, von denen ich keinen gelesen, zu durchstöbern gibt. Im allgemeinen lässt sich sagen, dass sich in den Übersetzungen aus dem Arabischen dem christlichen Abendlande ein zweifaches Neues aufthat. Erstens bekam man den Aristoteles, sowohl logisch als physisch-metaphysisch, vollständiger als man ihn bisher kannte. Doch war dies nur von vorübergehender, zeitweilig anregender, Bedeutung, denn bald wurden alle seine Schriften direkt aus dem Griechischen viel besser ins Lateinische übersetzt. Das wichtigste aber war, dass man aus den Schriften der Araber, namentlich des Ibn Roschd, eine eigentümliche Auffassung der aristotelischen Lehren als der höchsten Wahrheit kennen lernte. Dies musste fortwährend zum Widerspruch, zum Kompromiss zwischen Theologie und Philosophie, oder gar zur Leugnung des Kirchenglaubens Veranlassung geben. Zum Teil anregend, zum Teil zersetzend wirkte so die muslimische Philosophie auf die scholastische Entwicklung des kirchlichen Dogmas ein. Denn gleichgültig neben einander hergehen, wie das bei muslimischen Denkern wohl vorgekommen, konnten im Christentume Philosophie und Theologie noch nicht. Dazu hatte die christliche Dogmatik schon in den ersten Jahrhunderten ihrer Ausbildung zu viel griechische Philosophie in sich aufgenommen. Sie konnte noch etwas mehr sich assimilieren. Und es war verhältnismäßig leichter, über die einfachen Lehren des Islam als über die verwickelten Dogmen des Christentums hinauszukommen. Die christliche Theologie zeigte, als im 12. Jahrhundert der Einfluss der Araber zu wirken anfing, einen neuplatonisch-augustinischen Charakter. Bei den Franziskanern blieb auch im 13. Jahrhundert dieser Charakter gewahrt. Damit kam nun die pythagoreisch-platonische Richtung im muslimischen Denken gut überein. Für Duns Scotus war Ibn Gebirol (Avencebrol, s. VI, 1 § 2) eine erste Autorität. Dagegen nahmen die großen Dominikaner, Albert und Thomas, die die Zukunft der kirchlichen Lehre bestimmten, einen gemäßigten Aristotelismus auf, mit dem sich vieles aus Farabi, besonders aber aus Ibn Sina und Maimonides, ganz gut vertrug. Erst um die Mitte des 13. Jahrhunderts geht eine tiefere Wirkung von Ibn Roschd aus, und zwar in Paris, dem Mittelpunkte der damaligen christlich-wissenschaftlichen Bildung. Im Jahre 1256 schreibt Albert der Große noch gegen Averroes, 15 Jahre später aber Thomas von Aquino gegen die Averroisten. Ihr Haupt ist Siger von Brabant (seit 1266 bekannt), Mitglied der Artistenfakultät von Paris. Vor der strengen Konsequenz des averroistischen Systems schreckt er nicht zurück. Und wie Ibn Roschd den Ibn Sina meistert, so kritisiert, wenn auch äußerst respektierlich, Siger den großen Albert und den heiligen Thomas. Zwar versichert er, sich der Offenbarung zu unterwerfen, aber die Vernunft bestätigt ihm doch, was Aristoteles, in zweifelhaften Fällen nach der Erklärung des Ibn Roschd, in seinen Schriften gelehrt hat. Sein feiner Intellektualismus gefällt aber den Theologen nicht. Wie es scheint auf Anstiften der Franziskaner, die in ihm vielleicht auch den Aristotelismus der Dominikaner treffen wollten, wird er von der Inquisition verfolgt, bis er zu Orvieto (um 1281-1284) im Gefängnis stirbt. Dante, der möglicherweise von seinen Ketzereien nichts wusste, hat unseren Siger als Repräsentanten weltlicher Wissenschaft ins Paradies versetzt. Dagegen sind ihm die beiden Vertreter der muslimischen Philosophie neben den großen und weisen Männern Griechenlands und Roms in der Hölle Vorhalle begegnet. Ibn Sina und Ibn Roschd schließen dort die Reihe der großen Heiden, zu denen, wie Dante, die Nachwelt noch oft mit Bewunderung emporgeblickt hat. ANMERKUNGEN [1] S. Munk, Mélanges de philosophie juive et arabe, Paris 1859. [2] Carra de Vaux, Avicenne, Paris 1900. [3] Vgl. Snouck Hurgronje, Mekka, II, S. 228 f. [4] Hiob XXXVIII. [5] 1 Mos. XV 3. [6] Der Dialog heisst so, weil Aristoteles während des Gespräches einen Apfel in der Hand hält, dessen Geruch seine letzten Lebenskräfte weckt. Am Schlusse sinkt die Hand kraftlos nieder und fällt der Apfel auf den Boden. [7] Als echtes Werk des Aristoteles galt auch Späteren noch ein Auszug aus der stoicheiôsis theologikê des Proklos. [8] Beides kommt vor, doch ist Qijas gewöhnlich = Analogie. In der philosophischen, von den Übersetzern herrührenden Terminologie steht aber Qijas immer für syllogismos, während analogia mit arab. mithl wiedergegeben wird. [9] Vgl. Snouck Hurgronje in ZDMG. LIII, S. 155. [10] Mystiker führten auch wohl einen sechsten Sinn dafür ein. [11] Nach ihrem grobwollenen Rock (sûf) wurden die Asketen Sufis genannt. [12] Rückerts Übers. d. Makamen II, S. 219. [13] Vgl. v. Kremer, Kulturgesch. des Orients II, S. 429 ff. [14] Vgl. den Art. "Zu Kindi und seiner Schule" in Stein's Archiv für Geschichte der Philosophie XIII, S. 153 ff., aus dem ich manches, ohne viel zu ändern, hier wieder aufgenommen habe. [15] Das arab. `aql (nous) übersetzt man gewöhnlich mit Vernunft und Intelligenz (lat. intellectus und intelligentia). Ich ziehe aber Geist vor, weil der Ausdruck Gott und die reinen (separaten) Sphärengeister mitumfasst. Übrigens ist schwer zu entscheiden, wie weit bei den einzelnen Denkern die Personifikation der Vernunft ging. [16] Vgl. hierzu Munk, Mélanges, p. 389-409. [17] Ibn Chaldun spricht nur von armen Reichen und schweigt von Proletariern und großstädtischem Elend, wie wir es kennen. Er hat auch meistens nur in kleineren Städten gelebt und Kairo aus der Ferne bewundert. End of the Project Gutenberg EBook of Geschichte der Philosophie im Islam, by T. J. de Boer *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE IM ISLAM *** ***** This file should be named 54679-8.txt or 54679-8.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/4/6/7/54679/ Produced by Jeroen Hellingman and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net/ for Project Gutenberg (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive/American Libraries.) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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